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Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2010-

3/2010

 

Der philosophische Begriff der Menschenwürde, der schon in der Antike aufgetreten ist und bei Kant seine heutige gültige Fassung erhielt, hat erst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Eingang in den Text des Völkerrechtes und in den der nationalen Verfassungen gefunden. Jürgen Habermas fragt danach, ob die Idee der Menschenrechte erst im historischen Zusammenhang des Holocausts mit dem Begriff der Menschenwürde gewissermaßen nachträglich moralisch aufgeladen und möglicherweise überfrachtet wird. Auf  jeden Fall ist die zeitliche Asymmetrie zwischen der ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte der Menschenrechte und dem Auftreten des Menschenwürdebegriffs ein bemerkenswertes Faktum. Habermas vermutet nun, dass von Anfang an, wenn auch zunächst nur implizit, ein enger begrifflicher Zusammenhang zwischen beiden Konzepten bestand. Menschenrechte sind immer erst aus dem Widerstand gegen Willkür, Unterdrückung und Erniedrigung entstanden. Die Berufung auf Menschenrechte zehrt von der Empörung der Beleidigten über die Verletzung ihrer menschlichen Würde. Habermas sieht die Menschenwürde als die moralische „Quelle“, aus der sich die Gehalte aller Grundrechte speisen.

 Die liberalen Freiheitsrechte, die sich um die Unversehrtheit und Freizügigkeit der Personen, um den freien Marktverkehr und die ungehinderte Religionsausübung kristallisieren und der Abwehr staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre dienen, bilden zusammen mit den demokratischen Teilnahmerechten das Paket der so genannten klassischen Grundrechte. Die Erfahrungen von Exklusion, Elend und Diskriminierung lehren, dass die klassischen Grundrechte erst dann „den gleichen Wert“ (Rawls) für alle Bürger haben, wenn soziale und kulturelle Rechte hinzutreten. Eine Politik, die vorgibt, den Bürgern ein selbstbestimmtes Leben primär über die Gewährleistung von Wirtschaftsfreiheiten garantieren zu können, zerstört das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Formen von Grundrechten. Die Menschenwürde, die überall und für jedermann ein und dieselbe ist, begründet die Unteilbarkeit der Grundrechte. Je stärker die Grundrechte das Rechtssystem durchdringen, umso mehr häufen sich die Kollisionen, die eine Abwägung zwischen konkurrierenden Grundrechtsansprüchen erfordern. In solchen Fällen wird eine begründete Entscheidung oft erst durch den Rekurs auf eine Verletzung der absolut geltenden, also den Vorrang beanspruchenden Menschenwürde möglich. Habermas sieht in der Menschenwürde eine Art Seismograph, der anzeigt, was für eine demokratische Rechtsordnung konstitutiv ist – nämlich genau die Rechte, die sich die Bürger  eines politischen Gemeinwesens geben müssen, damit sie sich gegenseitig als Mitglieder einer freiwilligen Assoziation von Freien und Gleichen achten können: „Die Gewährlei­stung dieser Menschenrechte erzeugt erst den Status von Bürgern, die als Subjekte gleicher Rechte einen Anspruch darauf haben, in ihrer menschlichen Würde respektiert zu werden“.  Die Menschenwürde bildet damit gleichsam das Portal, durch das der egalitär-universa­listische Gehalt der Moral ins Recht importiert wird.

 Es werden dabei zwei Elemente wieder zusammengefügt, die sich im Laufe der frühen Neuzeit aus der naturrechtlichen Symbiose von Tatsachen und Normen gelöst, verselbständigt und zunächst in entgegengesetzter Richtung ausdifferenziert  hatten. Auf der  einen Seite steht die verinnerlichte, im subjektiven Gewissen verankerte und rational begründete Moral, die sich bei Kant ganz in den Bereich des Intelligiblen zurückzieht; auf der anderen Seite das zwingende, positiv gesetzte Recht, das absolutistischen Herrschern und altparlamentarischen Ständeversammlungen bei der Einrichtung der modernen Staatsanstalt und des kapitalistischen Warenverkehrs als machtgesteuertes Organisationsmittel dient. Der Begriff der Menschenrechte verdankt sich einer unwahrscheinlichen Synthese aus diesen beiden Elementen: „Und diese Verbindung hat sich über das begriffliche Scharnier der ‚Menschenwürde‘ vollzogen“.

 Die Menschenrechte bilden eine realistische Utopie, da sie nicht länger die sozialutopisch ausgemalten Bilder eines kollektiven Glücks vorgaukeln, sondern das ideale Ziel einer gerechten Gesellschaft in den Institutionen der Verfassungsstaaten selber verankern. Und die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit, die mit der Positivierung der Menschenrechte in die Wirklichkeit selbst einbricht, konfrontiert uns heute mit der Herausforderung, realistisch zu denken und zu handeln, ohne den utopischen Impuls zu verraten.

 

Gisela Lindemann (Institut für Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg) beschäftigt sich mit einem Thema, das seit den 1990er Jahren zu den großen Themen in der Moralphilosophie gehört: Der Frage nach der Zuerkennung eines moralischen Status. Als Grund für diese Zuerkennung werden in der Regel Vernünftigkeit (Kant), Rationalität und Fähigkeit zur Selbstreflexion (Singer, Hoerster) oder Handlungsfähigkeit (Gewirth) sowie die Fähigkeit zur Anerkennung (Hegel) genannt. Wird allerdings ein solcher Grund direkt in ein Kriterium übersetzt, anhand dessen festgesetzt werden soll, ob einer Entität ein moralischer Status begründetermaßen zuzuerkennen ist, führt dies zu Konsequenzen, die auch in der philosophischen Debatte als problematisch gelten.  Gesa Lindemann glaubt nun, bei einer Erweiterung der Debatte um eine soziologisch-gesell­schaftstheoretische Perspektive könne diesem Übelstand abgeholfen werden, denn für die moderne Gesellschaft sei es funktional, die Zugehörigkeit zum Kreis sozialer Personen lediglich anhand der Unterscheidung „le­bendiger Mensch/anderes“ festzulegen. Damit erkläre sich, warum die gesellschaftliche Praxis sich als immun erweise gegenüber philosophischen Kritiken wie der von Peter Singer. Tim Henning (Institut für Philosophie der Universität Jena) zeigt, dass das Verhältnis der Person zu ihrer eigenen Geschichte gute Voraussetzungen für die von Benjamin geprägte  Form von Kritik bietet, die Habermas „rettende“ Kritik nennt. Ein Verfechter einer solchen „rettenden“ Kritik stellt, wenn er anderen Ansichten oder Wünsche zuschreiben muss, die den seinigen nicht entsprechen, prinzipiell auch seine     eigenen Einstellungen in Frage und prüft sie im Hinblick auf ihre Rechtfertigung.

 

Wenn eine neue Person die Macht übernimmt, gelangt sie an einen besonderen Ort, einen Ort der Macht. Manchmal jedoch  scheint die Macht selbst zu wandern und ihre üblichen Räume zu erlassen, etwa wenn sie aus den Präsidentenvillen in die Handelskontore oder aus den Parlamentshäusern in die Medienkonzerne wechselt. Dietmar Hübner (Privatdozent am Institut für Wissenschaft und Ethik der Universität Bonn) geht es um etwas noch Fundamentaleres: Darum, dass die Macht selbst den Raum der Politik verlässt. Und er vermutet, dass gegenwärtig genau das passiert: Der im engeren Sinne politische Sektor erleidet einen nachhaltigen Konturverlust seiner Machtgestalt. Die wichtigen Parteien insgesamt unterscheiden sich nur noch geringfügig in den angestrebten Zielen und weisen nur noch hinsichtlich der adäquaten Mittel größeren Dissens auf. Was bleibt, ist ein Erfüllungsgebot von extern vorgegebenen Notwendigkeiten, die Frage der richtigen Reaktion auf gegebene „Sachzwänge“. Das hat Folgen: Das ökonomische Kaufverhalten hat in bestimmten Bereichen gesellschaftlicher Gestaltung eine größere Relevanz gewonnen als das politische Wahlverhalten. Die Unterstützung klassischer politischer Anliegen wie Entwicklungshilfe oder Klimaschutz ist inzwischen eher durch „Abstimmen im Supermarkt“, das heißt durch Auswahl geeigneter Produkte, zu lei­sten, als durch Abstimmen an der Urne.

 

Um die heutige Funktion von Markt und Medien zu verstehen, braucht es einen erweiterten Machtbegriff, der zum einen den Aspekt der Möglichkeit, andere Dinge oder Wesen dem eigenen Willen folgen zu lassen, beinhaltet und zum anderen das Vermögen, seinen Willen mit Zustimmung der anderen bzw. der Fähigkeit, diese Zustimmung zuallererst zu gewinnen.  Die klassischen Begriffe potestas und auctoritas decken diese beiden Aspekte ab. Sie stellen eine permanente und rechtfertigungsbedürftige Infragestellung der Autonomie der von ihnen Bestimmten dar. Hübner sieht in einer solch erweiterten Begriffsfassung die Möglichkeit, die gegenwärtige Wanderung von Macht zu erfassen und den Markt und die Medien als neue Orte von Macht begreifen zu können.

Der Schwerpunkt des Heftes lautet: „Wozu Politische Philosophie?“, und dabei geht es um die (noch) nicht in deutscher Sprache erschienene Monographie Philosophy and Real Politics von Raymond Geuss, worin die Auf­aben der Politischen Philosophie untersucht werden. Geuss zufolge muss die Politische Philosophie die kanonisch gewordenen Bedingungen jeder Wissenschaft erfüllen, indem sie korrekte, verständliche und übersichtliche Beschreibungen und Erklärungen komplexer Sachverhalte liefert. Dann folgen Fragen der Art wie: Was ist ein moderner Staat? Wie ist er entstanden? Wie funktioniert er? Unter welchen Bedingungen ist eine friedliche Zusammensetzung von Nachbarstaaten, die ökonomisch miteinander konkurrieren, möglich? Dann folgen Fragen nach der Bewertung von Institutionen, Praktiken und Entscheidungen. Es ist weiter durchaus legitim, von der Politischen Philosophie Ant­worten auf Fragen der Form „Was ist zu tun?“ zu erwarten. Etwa: Soll man den freien Markt im Universitätssektor oder im Gesundheitswesen weiter ausbauen, begrenzen oder abschaffen? Zwar wird von vielen die Trennung  zwischen „Sein“ und „Sollen“ bzw. zwischen Tatsachen und Wertungen dogmatisch festgelegt, und manche wollen die beiden genannten Aufgaben auch streng auseinanderhalten. Doch damit wird Geuss zufolge der Weg freigegeben für die Entwicklung einerseits einer angeblich rein positivistisch „politischen Wissenschaft“ und andererseits einer angeblich „rein normativen Theorie“. In der vollendeten Form dieser Position, wie wir sie gegenwärtig in der analytischen Philosophie antreffen, wird häufig vorausgesetzt, dass die empirische politische Wissenschaft irrelevant ist. Die politische Philosophie sei ein normatives Unternehmen, das von einer „Idealtheorie“ ausgeht, und Politische Philosophie sei demnach „angewandte Ethik“.

 

Geuss hält beide Voraussetzungen für unbrauchbar. Die strikte Trennung zwischen Tatsache und Wert ist weder für die Lösung politischer Probleme noch für das Verstehen und Erklären gesellschaftlicher Sachverhalte ein sinnvoller Ausgangspunkt. Solange die menschliche Praxis zukunftsoffen bleibt, werden Probleme aufgeworfen werden, die wir mit unseren tradierten Begriffen nur schwerlich oder überhaupt nicht in den Griff bekommen. Denn sie sollen nicht nur bestehende, wenn auch neuartige Sachverhalte nachträglich abbilden, sondern auch eingreifend die Wirklichkeit mitgestalten. Eine politische Philosophie, die es sich erlaubt, von der Machtfrage ganz abzusehen, hat den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren. Denn wer die Macht hat, hat damit auch automatisch ein Interesse daran, sie zumindest mit dem Schein der Legitimität zu umgeben, da die erfolgreiche Legitimierung den Machtbesitz befestigt und die Machtausübung erleichtert.