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Menschenrechte

MENSCHENRECHTE

Der philosophische Begriff der Menschenwürde, der schon in der Antike aufgetreten ist und bei Kant seine heutige gültige Fassung erhielt, hat erst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Eingang in den Text des Völkerrechtes und in den der nationalen Verfassungen gefunden. Jürgen Habermas fragt danach, ob die Idee der Menschenrechte erst im historischen Zusammenhang des Holocausts mit dem Begriff der Menschenwürde gewissermaßen nachträglich moralisch aufgeladen und möglicherweise überfrachtet wird. Auf  jeden Fall ist die zeitliche Asymmetrie zwischen der ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte der Menschenrechte und dem Auftreten des Menschenwürdebegriffs ein bemerkenswertes Faktum. Habermas vermutet nun, dass von Anfang an, wenn auch zunächst nur implizit, ein enger begrifflicher Zusammenhang zwischen beiden Konzepten bestand. Menschenrechte sind immer erst aus dem Widerstand gegen Willkür, Unterdrückung und Erniedrigung entstanden. Die Berufung auf Menschenrechte zehrt von der Empörung der Beleidigten über die Verletzung ihrer menschlichen Würde. Habermas sieht die Menschenwürde als die moralische „Quelle“, aus der sich die Gehalte aller Grundrechte speisen.

 Die liberalen Freiheitsrechte, die sich um die Unversehrtheit und Freizügigkeit der Personen, um den freien Marktverkehr und die ungehinderte Religionsausübung kristallisieren und der Abwehr staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre dienen, bilden zusammen mit den demokratischen Teilnahmerechten das Paket der so genannten klassischen Grundrechte. Die Erfahrungen von Exklusion, Elend und Diskriminierung lehren, dass die klassischen Grundrechte erst dann „den gleichen Wert“ (Rawls) für alle Bürger haben, wenn soziale und kulturelle Rechte hinzutreten. Eine Politik, die vorgibt, den Bürgern ein selbstbestimmtes Leben primär über die Gewährleistung von Wirtschaftsfreiheiten garantieren zu können, zerstört das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Formen von Grundrechten. Die Menschenwürde, die überall und für jedermann ein und dieselbe ist, begründet die Unteilbarkeit der Grundrechte. Je stärker die Grundrechte das Rechtssystem durchdringen, umso mehr häufen sich die Kollisionen, die eine Abwägung zwischen konkurrierenden Grundrechtsansprüchen erfordern. In solchen Fällen wird eine begründete Entscheidung oft erst durch den Rekurs auf eine Verletzung der absolut geltenden, also den Vorrang beanspruchenden Menschenwürde möglich. Habermas sieht in der Menschenwürde eine Art Seismograph, der anzeigt, was für eine demokratische Rechtsordnung konstitutiv ist – nämlich genau die Rechte, die sich die Bürger  eines politischen Gemeinwesens geben müssen, damit sie sich gegenseitig als Mitglieder einer freiwilligen Assoziation von Freien und Gleichen achten können: „Die Gewährlei­stung dieser Menschenrechte erzeugt erst den Status von Bürgern, die als Subjekte gleicher Rechte einen Anspruch darauf haben, in ihrer menschlichen Würde respektiert zu werden“.  Die Menschenwürde bildet damit gleichsam das Portal, durch das der egalitär-universa­listische Gehalt der Moral ins Recht importiert wird.

 Es werden dabei zwei Elemente wieder zusammengefügt, die sich im Laufe der frühen Neuzeit aus der naturrechtlichen Symbiose von Tatsachen und Normen gelöst, verselbständigt und zunächst in entgegengesetzter Richtung ausdifferenziert  hatten. Auf der  einen Seite steht die verinnerlichte, im subjektiven Gewissen verankerte und rational begründete Moral, die sich bei Kant ganz in den Bereich des Intelligiblen zurückzieht; auf der anderen Seite das zwingende, positiv gesetzte Recht, das absolutistischen Herrschern und altparlamentarischen Ständeversammlungen bei der Einrichtung der modernen Staatsanstalt und des kapitalistischen Warenverkehrs als machtgesteuertes Organisationsmittel dient. Der Begriff der Menschenrechte verdankt sich einer unwahrscheinlichen Synthese aus diesen beiden Elementen: „Und diese Verbindung hat sich über das begriffliche Scharnier der ‚Menschenwürde‘ vollzogen“.

 Die Menschenrechte bilden eine realistische Utopie, da sie nicht länger die sozialutopisch ausgemalten Bilder eines kollektiven Glücks vorgaukeln, sondern das ideale Ziel einer gerechten Gesellschaft in den Institutionen der Verfassungsstaaten selber verankern. Und die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit, die mit der Positivierung der Menschenrechte in die Wirklichkeit selbst einbricht, konfrontiert uns heute mit der Herausforderung, realistisch zu denken und zu handeln, ohne den utopischen Impuls zu verraten.

Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3/2010