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ESSAY

Tetens, Holm: Zur Erkenntnistheorie des religiösen Gottesglaubens

 aus: Heft 1/2018, S. 8-16

Ein Zitat: „… zugestanden, dass das reine moralische Gesetz jedermann […] unnachlaßlich verbinde, darf der Rechtschaffene wohl sagen: ich will, dass ein Gott […] sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen.“ Nur etwas anders gesagt: Eine Person, insofern sie sich zu Recht als vernünftige moralische Person versteht, darf sagen: „Ich will und beharre darauf, dass Gott existiert, und ich lasse mir diesen Glauben nicht nehmen“. Das Zitat stammt von Immanuel Kant.
 
Und jetzt gleich noch ein zweites Zitat: „Der Gedanke, dass die Beziehung zwischen Geist und Welt etwas Grundlegendes sei, macht viele Menschen unseres Zeitalters nervös. Nach meiner Überzeugung ist das die Äußerung einer Religionsangst […]. Dabei rede ich aus Erfahrung, denn ich selbst bin dieser Angst in hohem Maße ausgesetzt: Ich will, dass der Atheismus wahr ist, und es bereitet mir Unbehagen, dass einige der intelligentesten und am besten unterrichteten Menschen, die ich kenne, im religiösen Sinne gläubig sind. Es ist nicht nur so, dass ich nicht an Gott glaube und natürlich hoffe, mit meiner Ansicht recht zu behalten, sondern eigentlich geht es um meine Hoffnung, es möge keinen Gott geben! Ich will, dass es keinen Gott gibt; ich will nicht, dass das Universum so beschaffen ist.“ Es ist Thomas Nagel, der hier so wunderbar spiegelverkehrt zum Kant-Zitat redet.
 
„Ich bin Atheist. Ich will nicht, dass Gott existiert, und ich lasse mir meine hoffnungsfrohe Erwartung, dass Gott nicht existiert, auch nicht nehmen.“ „Ich bin Theist. Ich will, dass Gott existiert, und ich lasse mir meinen Glauben auch nicht nehmen, dass er existiert.“
Es hat ganz und gar den Anschein, dass Kant und Nagel gemeinsam soeben die Tore zum Supermarkt der Weltanschauungen aufgestoßen haben. Wie können sich Kant und Nagel, die beide die Fahne der Vernunft so hochhalten, zu Äußerungen hinreißen lassen, die erst einmal einigermaßen unvernünftig klingen. Diese Äußerungen sind allerdings keine spontanen mündlichen Reaktionen, wo mit einem schon mal die Gäule durchgehen, nein, die beiden Autoren äußern sich wohlüberlegt in Texten, der eine in der Kritik der praktischen Vernunft, ja nicht irgendein Buch der Philosophiegeschichte, der andere in einem Buch mit dem Titel Das letzte Wort.
 
Doch wie fragwürdig und unvernünftig sind diese Äußerungen wirklich? Bergen beide Zitate auf ihre Weise vielleicht eine tiefe Einsicht in den Status des Gottesgedankens und des Gottesglaubens? Religiösen Gottesglauben, wie immer er im Einzelnen charakterisiert werden mag, verstehe ich jedenfalls so, dass er auf bestimmte Inhalte vertraut und hofft, für die der religiös Glaubende auch einen Wahrheits-, einen Geltungsanspruch erhebt. Und damit hat der religiöse Gottesglauben auf jeden Fall auch eine epistemisch-kognitive Seite. Nur diese epistemisch-kognitive Seite wird uns im Folgenden beschäftigen. Dazu möchte ich eine Leitthese verteidigen: Vom erkenntnistheoretischen Standpunkt dürfen wir den Theismus mindestens genauso ernst nehmen wie den Naturalismus, den heute jedermann ernst nimmt, denn beide haben erst einmal den gleichen erkenntnistheoretischen Status. Ich entwickle diese Leitthese in vier Thesen.
 
Die erste These
 
These I: Der Gottesglaube hat wie der atheistische Naturalismus (und auch alle anderen denkbaren metaphysischen Optionen) den Status einer transzendentalen Rahmenannahme, die es uns ermöglichen soll, in ihrem Lichte die Welt und unsere Stellung in der Welt auf eine bestimmte Weise zu sehen und zu verstehen.
 
Im Alltag wie auch im Forschungsalltag der Wissenschaften gehen wir wie selbstverständlich und völlig selbstvergessen davon aus, dass wir die Welt so erkennen, wie sie an und für sich ist. Dabei glauben wir die Welt durch zwei miteinander verschränkte und an einander gekoppelte geistige Tätigkeiten zu erkennen, durch Wahrnehmungen einerseits und durch mehr oder weniger raffinierte theoretische Prinzipien angeleitete logisch-begriffliche Schlussfolgerungen aus den Wahrnehmungen andererseits. In dem Augenblick freilich, wo wir nicht mehr vergessen, sondern in unser waches Selbstbewusstsein heben, dass ja wir es sind, die die Welt objektiv zu erkennen glauben, ist jeder naive Objektivitätsanspruch für unsere Überzeugungen von der Welt unwiderruflich zunichtegemacht. Wie wir es auch drehen und wenden, wir können nicht mehr davon absehen, dass wir der Welt stets nur begegnen über die Inhalte unserer Wahrnehmungen und unserer theoretischen Schlussfolgerungen. Doch aus unseren subjektiven Wahrnehmungen und theoretischen Schlussfolgerungen können wir niemals aussteigen und einen Standpunkt einnehmen, von dem aus wir die Inhalte unserer Wahrnehmungen und unserer Gedanken vergleichen könnten mit der Welt, wie sie an und für sich ist.
 
 
Wahrnehmungen an sich und alleine lassen uns gar nichts von der Welt erkennen. Wahrnehmungen werden nur dadurch zum konstitutiven Bestandteil von Erkenntnisprozessen, dass wir innerhalb eines Systems von Begriffen, theoretischen Prinzipien und Fragestellungen beschreiben, was wir wahrnehmen. Wahrnehmungen und die theoretische Beschreibung oder Interpretation des Wahrgenommenen lassen sich niemals voneinander trennen. Wie Kant schon wusste: Wahrnehmungen ohne Begriffe sind in der Tat blind. Und wie Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftshistoriker Kant weiter- und zu Ende denkend inzwischen wissen: Beobachtungen sind in hohem Maße theoriebeladen.
 
Aber die Theoriebeladenheit der Wahrnehmungen hat eine Konsequenz, der man sich schwerlich wird entziehen können. Wahrnehmungen können niemals den Rahmen von Begriffen und Prinzipien eindeutig festlegen, der für ihre theoretische Interpretation und Beschreibung vonnöten ist. Wahrnehmungen lassen sich daher prinzipiell mit verschiedenen theoretischen Interpretationsrahmen verknüpfen. Und das kann man auch so ausdrücken: Die theoretischen Interpretationsrahmen und im Gefolge davon überhaupt unsere Theorien sind stets durch die Daten, die die Wahrnehmungen liefern, unterbestimmt. Auch dies, die empirische Unterbestimmtheit unserer Theorien, ist schon länger eine wichtige Einsicht und ein oft behandeltes Problem der Wissenschaftstheorie.
 
Wenn wir nun all das berücksichtigen, die Unmöglichkeit, unsere Wahrnehmungen und Schlüsse mit der Wirklichkeit an sich zu vergleichen, sondern nur die Möglichkeit, Wahrnehmungs- und Gedankeninhalte mit anderen Wahrnehmungs- und Gedankeninhalten abzugleichen, die Theoriebeladenheit unserer Wahrnehmungen, die Unterbestimmtheit der unverzichtbaren theoretischen Interpretationsrahmen durch die Wahrnehmungen oder, anders formuliert, die Verträglichkeit unserer Wahrnehmungen mit ganz verschiedenen theoretischen Interpretationsrahmen, wie müssen wir dann sorgfältig unser Erkennen der Welt formulieren? Naiv selbstvergessen wäre es, unsere Erkenntnis der Welt in Sätzen der schlichten Form „In der Welt ist p der Fall“ zu artikulieren. Sorgfältig und selbstreflexiv müssen wir eigentlich so formulieren: Wenn wir die theoretischen Rahmenannahmen R über grundlegende Eigenschaften der Welt und dazu passende methodologische Regeln zugrunde legen, dann machen wir Beobachtungen, die wir theoretisch in Gestalt von Beobachtungsaussagen B interpretieren müssen, die ihrerseits die Behauptung, dass p der Fall ist, verifizieren/bestätigen bzw. falsifizieren.
 
Wenn-Dann-Sätze dieser Art sind Sätze auf der Metastufe. Die Sätze handeln nicht direkt von der Welt. Vielmehr sind es Sätze über Sätze über die Wirklichkeit oder genauer: es sind Sätze darüber, wie es uns mit Sätzen über die Welt und deren logischen und begrifflichen Beziehungen zwischen Sätzen ergeht.
 
Wir dürfen also Folgendes behaupten: Bei all unseren Bemühungen um Erkenntnis und Wissen dürfen wir nie vergessen, dass wir als selbstreflexive Ich-Subjekte und als Teil der Wirklichkeit es sind, die die Wirklichkeit beschreiben und erkennen wollen. Machen wir unsere nicht eliminierbare Rolle im Erkenntnisprozess explizit, dann sind wahrheitsfähige Beschreibungen der Wirklichkeit stets auf der Metastufe angesiedelt.
 
All das hat längst vor mir und anderen der – 2013 verstorbene und meines Erachtens viel zu wenig gewürdigte – Kieler Philosoph Kurt Hübner deutlich erkannt und formuliert. Aus den von mir angedeuteten Einsichten der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zieht er die wichtige Konsequenz (und jetzt zitiere ich Hübner aus seinem bedeutenden Buch Kritik der wissenschaftlichen Vernunft): „Wenn die und die Festsetzungen, Postulate, Theorien (dies alles sind metatheoretische Bezeichnungen) – dann die und die Basissätze, Falsifikationen, Verifikationen (und auch dies sind metatheoretische Ausdrücke). Oder anders formuliert: Wenn wir die und die Sätze haben – die nichts über die Natur aussagen – , dann folgen empirisch die und die anderen Sätzen – die gleichfalls nichts über die Natur aussagen. Nur in diesen metatheoretischen Wenn-Dann-Beziehungen zeigen sich empirische Tatsachen; nicht aber stellt der Inhalt der Sätze selbst einen empirischen Sachverhalt in irgendeiner Weise dar: Nicht in der Theorie, sondern erst in der Metatheorie erscheint die Realität“.
 
Nicht in der Theorie, sondern erst in der Metatheorie erscheint die Realität. Nicht in der Theorie, will sagen: nicht in Sätzen der einfachen Form „p ist der Fall“ beschreiben wir die Realität, sehr wohl aber in metatheoretischen Sätzen der komplexen Form: Wenn wir die theoretischen Rahmenannahmen R wählen, machen wir Beobachtungen, die wir theoretisch in Gestalt von Beobachtungsaussagen B interpretieren müssen, die ihrerseits die Behauptung, dass p der Fall ist, verifizieren/bestätigen bzw. falsifizieren. Wichtig an Hübners These ist, dass wir mit dem, was wir auf der Metastufe beschreiben, durchaus etwas von der objektiven Wirklichkeit beschreiben. Denn dass wir unter bestimmten theoretischen Rahmenannahmen die und die Beobachtungen machen, die dann bestimmte Sätze bestätigen oder widerlegen, das ist eine objektive Eigenschaft der Wirklichkeit selbst. Wir erkennen eine objektive Eigenschaft der Wirklichkeit, wenn wir erfahren, dass sich unter bestimmten theoretischen Rahmenannahmen die und die Beobachtungen einstellen, die die und die Behauptungen über die Wirklichkeit bestätigen oder widerlegen, und dass sich unter anderen Rahmenbedingungen Beobachtungen anders darstellen, sodass sie auch zum Teil oder gänzlich andere Behauptungen über die Wirklichkeit bestätigen oder widerlegen. In diesem Sinne machen wir Erfahrungen mit dem Erfahrungmachen unter bestimmten Rahmenannahmen. Wir dürfen diese Rahmenannahmen auch transzendental nennen, da sie Bedingungen der Ermöglichung von Erfahrungen mit der Wirklichkeit darstellen.
 
Und nur indem wir auf der Metastufe Erfahrungen mit dem Erfahrungmachen machen, erfahren wir etwas von der Wirklichkeit, denn, so formuliert es Kurt Hübner, „die Wirklichkeit hat einen aspektischen Charakter“. Das soll heißen: Unter verschiedenen theoretischen Rahmenannahmen erscheint uns die Wirklichkeit zwar in charakteristischer Weise unterschiedlich, doch gerade dar-in, in diesem ihrem Aspektcharakter erfahren wir eine objektive Eigenschaft der Wirklichkeit.
 
Unsere Überlegungen nahmen zwar Ergebnisse moderner Wissenschaftstheorie auf. Sie sind aber keineswegs nur auf wissenschaftliche Theorien gemünzt, sondern treffen bei allen Unterschieden zu Theorien erst einmal auch auf so etwas zu, was wir grundlegende Weltanschauungen oder metaphysische Sichtweisen auf die Welt nennen können. Und deshalb sind der Theismus, etwa im Sinne Kants, und der atheistische Naturalismus, wie er Nagel vor Augen steht, zwei wichtige Beispiele für fundamentale transzendentale Rahmenannahmen, die selber keine wissenschaftlichen Theorien sind, sondern jeweils konträre Metaphysiken darstellen. Dabei umfasst etwa Kants Theismus wesentlich die folgenden Behauptungen: Die Welt und die Menschen sind von Gott geschaffen, der ein allwissendes, allmächtiges und allgerechtes Wesen ist. Gott schafft und will insbesondere die Menschen als zwar endliche, aber gleichwohl vernunftbegabte, selbstbestimmte und selbstverantwortliche Ich-Subjekte. Konträr dazu verhält sich der atheistische Naturalismus Nagels: Es gibt nur die Erfahrungswirklichkeit, wie sie mit den Mitteln der Wissenschaften im Prinzip zureichend erfasst, beschrieben und erklärt werden kann. Dabei ist die primäre und eigentliche Realität das materielle Geschehen, wie es die experimentellen Naturwissenschaften erfassen, beschreiben und erklären. Alles, was es sonst noch gibt, superveniert in der einen oder anderen Weise über dem materiellen Geschehen und ist daher asymmetrisch abhängig von diesem materiellen Geschehen.
Wenn man den Gottesgedanken als transzendentale Rahmenannahme versteht, ist die Gotteserfahrung eines Gläubigen als Metaerfahrungen zu explizieren. Der Theist erfährt Gott, indem er Metaerfahrungen damit macht, wie er die Welt und sein Leben erfährt, wenn er alles im Lichte des Gottesgedankens auffasst und versteht. Und genauso, als Metaerfahrung charakterisiert der bekannte evangelische systematische Theologe Eberhard Jüngel den Glauben: „Glauben aber ist ein die eigene Existenz sammelndes Vertrauen auf Gott und als solches zwar keine Erfahrung in der Reihe weltlicher Erfahrung, wohl aber eine Erfahrung mit der Erfahrung, in der der Glaubende sich inmitten aller Bedrohung durch die Möglichkeit des Nichtseins als von Gott ins Sein gerufen und zu ewigem Sein bestimmt erfährt.“
 
Die zweite These
 
These II: So wie auf den atheistischen Naturalismus muss man auch auf den Theismus logisch-begriffliche Phantasie verwenden und ihm Zeit einräumen, bevor wir erfahren und beurteilen können, wie er uns die Welt und unsere Stellung in der Welt erfahren lässt.
 
Eine transzendentale Rahmenannahme bzw. eine Metaphysik ermöglicht uns nun auf zwei Weisen, etwas von der Wirklichkeit und uns selbst zu erkennen. Diese beiden Weisen hängen ganz eng miteinander zusammen.
 
Erstens kann uns eine Metaphysik M ermöglichen, Aussagen über die Welt logisch-begrifflich zu erschließen, die sich ohne M nicht erschließen lassen. Auf diese Weise lässt uns die Metaphysik M auf Sachverhalte stoßen, auf die wir ohne Anleitung durch die Metaphysik niemals gestoßen wären, an die wir sonst nie gedacht, nach denen wir sonst niemals ernsthaft gesucht hätten und die wir auch in vielen Fällen ohne die Metaphysik niemals akzeptieren würden.
 
Zweitens: Indem die Satzmenge M einen logisch-begrifflichen inferenziellen Zusammenhang zwischen Aussagen über die Welt und uns selbst stiftet, kann sie uns auf einmal verständlich machen, dass, wie und warum Sachverhalte in der Welt miteinander auf eine bestimmte Weise zusammenhängen. Man kann es auch so ausdrücken: Die Metaphysik M macht uns etwas von der Einheit der Welt und dem Zusammenschluss der Dinge zu einer einzigen Welt verständlich. Dahinter steht ein fundamentaler Tatbestand menschlichen Denkens: der ontische Zusammenhang der Tatsachen zu einer einzigen Welt spiegelt sich stets wider in logisch-begrifflichen Inferenzen zwischen den Beschreibungen der Tatsachen.
 
Mithin steht die inferenziellen Rolle eines transzendentalen Erfahrungsrahmens bei der Erfahrungsbildung im Fokus, also aus welchen Aussagen sich mit Hilfe von M welche anderen Aussagen logisch-begrifflich erschließen lassen, aber auch aus welchen Aussagen einige oder alle Aussagen der Metaphysik M selbst logisch-begrifflich folgen. Diese inferenzielle Rolle reguliert die Dynamik unserer Erfahrungsbildung auf der Basis zweier Regeln.
 
Die erste Regel nenne ich die Regel des Vertrauens in eine Metaphysik: Wenn ein Anhänger einer transzendentalen Rahmenannahme oder Metaphysik M die Aussage P als wahr akzeptiert und wenn er erkennt, dass aus P mit Hilfe der Metaphysik M logisch-begrifflich die Aussage K folgt, so sollte er im Regelfall die Konklusion K akzeptieren oder im Ausnahmefall die Quinesche Regel anwenden. Die Quinesche Regel besagt: Wenn aus der Aussage P mit Hilfe der Metaphysik M die Konklusion K folgt, der M-Metaphysiker aber nicht-K für wahr hält und daran glaubt auch festhalten zu sollen, soll er P, auf keinen Fall hingegen M verwerfen. Glaubt er jedoch P nicht verwerfen zu können, soll er Begriffe in den Aussagen P und K so modifizieren, dass P und K zwar noch als wahre Aussagen gelten, aber nun nicht mehr K aus P mit Hilfe von M logisch-begrifflich folgt. Die Quinesche Regel läuft also darauf hinaus, unbeirrt an der Metaphysik M festzuhalten.
 
Hinter der Quineschen Regel steht ein fundamentaler logisch-semantischer Tatbestand. Man kann die Bedeutung eines Begriffs (Prädikator, genereller Terminus) B auf zwei Weisen festlegen: Man verweist erstens auf prototypische Gegenstände, die unter den Begriff B fallen (paradigmatische Beispiele für B-Gegenstände), oder auf prototypische Gegenstände, die nicht unter den Begriff B fallen (paradigmatische Gegenbeispiele für B-Gegenstände); man legt zweitens inferenzielle Beziehungen des Begriffs B zu anderen Begriffen fest, sodass bestimmte Sätze, in denen der Begriff B zusammen mit anderen Begriffen vorkommt, als begrifflich (analytisch) wahr gelten. Ein Beispiel: Im Westen geht die Sonne unter (paradigmatische Anwendungsfall des Begriffs „Westen“); liegt ein Ort X westlich von Y, so liegt Y östlich von X (begrifflich wahrer Satz, der materiale Schlüsse erlaubt wie etwa von „Hannover liegt westlich von Berlin“ zu „Berlin liegt östlich von Hannover“).
Die Quinesche Regel lebt davon, dass die beiden Verfahren, die Bedeutung eines Begriffs festzulegen, ein Stück weit unabhängig voneinander sind. Man kann eine bisher als begrifflich wahr akzeptierte Aussage, in der der fragliche Begriff vorkommt, aufgeben, ohne dass ein exemplarischer Gegenstand aufhören muss, unter den Begriff zu fallen.
 
Wer Schritt für Schritt seine Überzeugungen mit Hilfe der transzendentalen Rahmenannahme oder Metaphysik M nach der Regel des Vertrauens in eine Metaphysik und nach der Quineschen Regel bildet, von dem darf man sagen, dass er sich seine übrigen Überzeugungen ausdrücklich im Lichte dieser Metaphysik bildet. Er sieht dann die Welt und sich selbst immer stärker im Lichte dieser Rahmenannahme. Durch Anwendung unserer beiden Regeln etablieren wir allmählich ein Begriffssystem, sodass in die begriffliche Artikulation unserer Erfahrungen die metaphysische Perspektive M allmählich logisch-begrifflich immer besser eingearbeitet und immer fester und selbstverständlicher verankert ist.
 
Freilich, wir sind jetzt verdächtig nahe bei unseren Eingangszitaten von Kant und Nagel. Kann nicht jeder Anhänger eines Theismus oder eines naturalistischen Atheismus sagen: „Meine Überzeugung ist wahr, und ich lasse mir meine Sicht auf die Welt und den Menschen auch nicht nehmen, muss ich mir aber auch nicht nehmen lassen, dafür sorgt insbesondere die Quinesche Regel“? Nun, die Quinesche Regel schützt tatsächlich vor einer endgültigen Widerlegung. Das heißt aber nicht, dass die Quinesche Regel eine transzendentale Rahmenannahme einfach nur vor jeder unliebsamen Kritik schützen soll. Die Quinesche Regel ist vielmehr vonnöten, das welterschließende Potenzial einer transzendentalen Rahmenannahme überhaupt erst einmal freizusetzen. Das hat vor allem zwei Gründe.
 
Erstens besitzen wir gar keinen Überblick über die inferenzielle Rolle von Sätzen in einer umfassenderen Satzklasse. Logisch-begriffliche Folgerungsbeziehungen zwischen Sätzen müssen wir explizit vollziehen, erst dann haben wir sie erkannt. Und das braucht durchaus Zeit, und natürlich bedarf es auch logischer Übung und theoretischer Phantasie. Oft sind wir dann mehr als überrascht, was alles aus bestimmten Sätzen am Ende logisch-begrifflich folgt, aber auch, was nicht oder nicht so ohne weiteres logisch-begrifflich folgt. Einsichten in Folgerungsbeziehungen und damit in die inferenzielle Rolle von Sätzen sind echte Entdeckungen, die Zeit und Glück beim Denken benötigen.
 
Zweitens können wir selbstverständlich nicht alle unsere Wahrnehmungen und Beobachtungen vorwegnehmen und antizipieren. Ein metaphysischer Rahmen kann uns bei den ersten Malen mehr oder weniger zwingen, auf unsere Wahrnehmungen mit bestimmten Wahrnehmungsurteilen innerhalb eines bestimmten Begriffssystems zu antworten und zu reagieren, obwohl wir spontan anders zu reagieren gewohnt und geneigt wären. Aber wir müssen damit rechnen, dass es uns zwar anfänglich unplausibel erscheint und daher wenig sinnvoll, bestimmte Sätze als wahre Wahrnehmungsurteile hinzunehmen. Trotzdem bleibt abzuwarten, ob und wie wir längerfristig mit den begrifflichen Reaktionen auf Wahrnehmungen zurechtkommen, die uns eine Metaphysik zumutet und abverlangt. Wir müssen eben Metaerfahrungen mit dem Erfahrungmachen unter einem bestimmten metaphysischen Rahmen erst einmal auch tatsächlich machen.
 
Der Grundsatz „Gib einer Metaphysik eine ernsthafte und das heißt eine Chance über einen längeren Zeitraum, uns ihre welterschließende Kraft auch erfahren zu lassen“ ist nicht dogmatisch, sondern letztlich klug und erfahrungsgesättigt. Richtig an den Einwänden gegen die Quinesche Regel ist allerdings eines: Müsste man ununterbrochen von der Quineschen Regel Gebrauch machen, dann hätten wir es mit einer metaphysischen Auffassung zu tun, die offensichtlich in ständigem Konflikt stünde mit allen unseren sonstigen Überzeugungen. Jede Antwort auf einen solchen Konflikt mit Hilfe der Quineschen Regel würde sofort zu einem Widerspruch an anderer Stelle und damit stets zu nichts anderem als einer Verschlimmbesserung führen. Zu Recht würden wir in diesem Falle doch die Metaphysik ändern oder sie ganz aufgeben.
 
Das heißt: Eine metaphysische Position muss sich bei dem Versuch, mit ihrer Hilfe Erfahrungen zu machen, bewähren. Ein Bewährungskriterium für eine Metaphysik lautet: Die Quinesche Regel darf, ja soll gelegentlich angewendet werden, aber doch so, dass wir in der Dynamik unsere Überzeugungsbildung unter Anleitung einer Metaphysik die Quinesche Regel immer seltener anwenden müssen. Und das heißt: Es wird uns immer selbstverständlicher, auf unsere Wahrnehmungen spontan und unwillkürlich mit Wahrnehmungsurteilen zu antworten, in die die betreffende metaphysische Perspektive eingearbeitet ist und die nicht mehr mit dem metaphysischen Erfahrungsrahmen in logischen Konflikt gerät. Wir machen dann insgesamt die Erfahrung, dass uns die metaphysische Weltsicht Erfahrungen ermöglicht, auf die wir nicht mehr verzichten wollen, ja können, weil wir mit ihnen in einem anspruchsvolleren Sinne gut leben und leben können. Das aber betrifft jetzt schon einen Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Theorie und einer metaphysischen Weltsicht wie dem Theismus.
 
Die dritte These
 
These III: In eine Metaphysik sind legitimer Weise auch normativ-praktische Selbstverständnisse eingearbeitet, die es erneut und zusätzlich rechtfertigen, dass jemand mit einer gewissen Hartnäckigkeit erst einmal an seiner Metaphysik festhält; das trifft jedenfalls offenkundig auf den Theismus zu.
 
In einer Metaphysik werden grundlegende Annahmen über das Ganze der Wirklichkeit und die besondere Stellung des Menschen in ihr gemacht. Das unterscheidet die Metaphysik von einzelwissenschaftlichen Hypothesen und Theorien, die letztlich immer nur von einem wohlbestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit handeln. Deshalb rechnet Dieter Henrich „Selbstbeschreibungen“, wie er sie nennt, zu den konstitutiven Inhalten jeder Metaphysik. Henrich zitiert Kant: „Wir können dem Verstand die Fragen nicht abgewöhnen … Sie sind so in der Natur der Vernunft verwebt, dass wir ihrer nicht loswerden können. Auch alle Verächter der Metaphysik, die sich dadurch ein Ansehen heiterer Köpfe haben geben wollen, hatten, selbst Voltaire, ihre eigene Metaphysik. Denn ein jeder wird doch etwas von seiner Seele denken.“ Henrich kommentiert Kant mit den Worten: „Die Rede von der ‚Seele‘ ist hier nur die Leerstelle für alle Antworten auf die Frage, welche uns die Vernunft unabweisbar in Beziehung auf uns selbst stellen lässt: Was denkst Du zuletzt von Dir, wenn Du im Blick auf alles, was Dir bekannt ist und was Du zu unterscheiden weißt, Dir Rechenschaft darüber gibst, was und wer Du eigentlich bist? […] Welche Selbstbeschreibung dessen, der vernünftiger Rede fähig ist, hält zuletzt stand vor allem, was wir über ihn und die für ihn unerlässlichen Voraussetzungen unterschiedlicher Selbstbeschreibungen wissen?“
 
In eine Metaphysik sind fundamentale Selbstbeschreibungen oder, anders gesagt, normativ-praktische Selbstverständnisse eingearbeitet, ja müssen in ihr eingearbeitet sein. Man kann es auch in Anlehnung an ein berühmtes Diktum Fichtes sagen: Was für eine Philosophie, was für eine Metaphysik man wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch man sein will und glaubt, sein zu sollen. Wir können es noch ein wenig anders sagen: Bekanntlich unterscheidet Kant drei Grundfragen der Philosophie. Seine dritte Frage „Was darf ich hoffen?“ behandeln viele Philosophen ziemlich stiefmütterlich. Ganz im Gegensatz zu Kant. Der nimmt die Frage sehr ernst. Nach Kant sind wir nämlich für das, worauf wir im Leben hoffen und vertrauen, selbst verantwortlich, sogar moralisch verantwortlich. Wir sind – so paradox das beim ersten Hören klingen mag – verpflichtet, auf das zu hoffen, was wir unterstellen müssen, um uns adäquat als vernünftige, selbstbestimmte und selbstverantwortliche Personen verstehen zu können, es sei denn, das Erhoffte kann bewiesenermaßen unmöglich der Fall sein. Dann allerdings ist auch das entsprechende Selbstverständnis einer Kritik zu unterziehen.
 
Zwar gibt es vernünftigere und weniger vernünftige normativ-praktische Selbstbilder. Doch in dem Maße, wie es vernünftig ist, an einem normativ-praktischen Selbstverständnis und Selbstbild festzuhalten, in dem Maße ist es vernünftig, an den Unterstellungen festzuhalten, die für eben dieses Selbstverständnis konstitutiv sind. Das bedeutet mit anderen Worten: Um eines normativ-praktischen Selbstverständnisses willen kann es höchst vernünftig sein, erst einmal beharrlich an einer Metaphysik festzuhalten, weil sie die Unterstellungen einschließt, ohne die wir dieses Selbstverständnis preisgeben müssten. Und bevor wir das tun, müssen sich andere Metaphysiken erst einmal in anderen Hinsichten und aufgrund ihres inferenziellen Potenzials als haushoch überlegen bewährt haben.
 
Im Lichte des Theismus dürfen wir uns zum Beispiel klarerweise als zwar endliche, aber gleichwohl vernunftbegabte, selbst-bestimm-te und selbstverantwortliche Ich-Subjekte begreifen. Das ist, zurückhaltend formuliert, beim Naturalismus viel weniger klar. Manche Naturalisten halten vernünftige Autonomie und Freiheit des Menschen jedenfalls für eine Illusion, vom Gehirn produziert. Wie auch immer, jedenfalls ist unter diesem Gesichtspunkt eines vernünftigen Selbstverständnisses durchaus nicht unverständlich, dass Theisten in der Regel nur selten bereit sind, ihre Sicht der Dinge gegen eine naturalistische Betrachtungsweise einzutauschen. Kants Weigerung, sich den Glauben an Gott nehmen zu lassen, hat von daher nichts mit dogmatischen Fixierungen, Kritikimmunität und Lernunwilligkeit zu tun.
 
Die vierte These
 
These IV: Der Theismus vermag, was auch der Naturalismus eigentlich leisten sollte, nämlich selbstkonsistent seinen eigenen Status als transzendentale Rahmenannahme, die weder definitiv beweisbar noch definitiv widerlegbar ist, selbstreflexiv einzuholen.
 
In einer Metaphysik geht es um das Ganze der Wirklichkeit und die besondere Stellung des Menschen im Ganzen der Wirklichkeit. Dazu gehört dann auch die besondere epistemische Situation des Menschen. Was eine Metaphysik über diese besondere epistemische Situation des Menschen in der Welt generell aussagt, sollte für sie selbst zutreffen. Nur so entgeht eine Metaphysik der Gefahr, bei der Selbstanwendung selbstwidersprüchlich zu werden. Wir haben nun Metaphysik charakterisiert als eine transzendentale Rahmenannahme, die uns Erfahrungen allererst ermöglicht, ohne durch Erfahrungen oder anderswie definitiv bewiesen oder widerlegt werden zu können. Die inhaltlichen Auskünfte einer Metaphysik sollten damit mindestens verträglich sein. Besser noch wäre es, könnte eine Metaphysik sogar erklären und verständlich machen, dass und warum der Mensch auf transzendentale Rahmenannahmen angewiesen ist, um etwas von der Welt zu erfahren.
 
Der Theismus jedenfalls genügt dieser Forderung. Die Grundidee ist ganz einfach: Gott will und schafft uns als zwar endliche, aber partiell freie selbstverantwortliche Ich-Subjekte. Wir sind keine Marionetten Gottes. Das gilt auch für unsere Erkenntnisfähigkeiten und Erkenntnisbemühungen. Wir sollen durchaus mitverantwortlich sein für das, was wir erkennen und wie wir etwas erkennen. Mitverantwortung können wir für unser Erkennen nur dann tragen, wenn wir erstens aktiv am Zustandekommen von Erkenntnis mitbeteiligt sind, und zwar so, dass wir zweitens über freie Wahlmöglichkeiten verfügen. Da wir das zu Erkennende aber auch nicht annähernd selber kognitiv oder technisch erzeugen, muss uns drittens etwas am und im Erkenntnisvorgang vorgegeben sein oder uns widerfahren, ohne dass wir daran noch etwas willkürlich verändern könnten. Diese drei Bedingungen sind genau dann erfüllt, wenn uns zwar sinnliche Wahrnehmungen letztlich unwillkürlich zustoßen oder widerfahren, wir aber darin geistig frei und verantwortlich sind, wie wir begrifflich interpretieren und erfassen, was genau wir eigentlich sinnlich wahrnehmen. Wie unschwer zu erkennen ist, laufen die genannten drei Bedingungen auf die fallible Perspektivität unserer Wirklichkeitserkenntnis hinaus, die die moderne Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie uns zu sehen und zu beachten gelehrt hat und die wir im Zusammenhang mit der ersten These rekapituliert haben. Ob der Naturalismus diesen wichtigen Selbstanwendungstest besteht, daran habe ich eher meine Zweifel, aber das möchte ich hier nicht mehr erörtern.
 
Ich habe versucht zu demonstrieren, dass es nicht anstößig ist, wenn ein Theist oder Atheist emphatisch ausruft: „Ich will und hoffe um eines angemessenen normativ-praktischen Selbstverständnisses willen darauf, dass mein Theismus (mein Atheismus) wahr ist, und ich lasse mir diesen Glauben nicht nehmen, ja muss ihn mir erst einmal auch nicht nehmen lassen!“ Insoweit gehen unsere beiden Zitate völlig in Ordnung. Sie erlauben nicht, bei Kant oder Nagel auf eine besondere Neigung zum philosophischen Dogmatismus oder gar zum Wunschdenken zu schließen. In Fragen theistischer oder naturalistischer Metaphysik haben Wille und Wunsch immer und legitimer Weise ein gewichtiges Wörtchen mitzureden.
 
UNSER AUTOR:
 
Holm Tetens ist emeritierter Professor für Theoretische Philosophie an der Freien Universität Berlin.