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INTERVIEW

Rancière, Jacques. Ein Gespräch

 

Tobias Klass im Gesprach mit Jacques Rancière

Tobias Klass im Interview mit Jacques Rancière 

 

Tobias Klass: Erlauben Sie mir mit einer Frage zu beginnen, die dazu dient, ihre Arbeit zu

verorten. Sie haben Ihre Karriere als Philosoph im Paris der 1960er Jahre im

intellektuellen Milieu um Louis Althusser und sein Projekt einer strukturalistischen

Erneuerung des Marxismus begonnen. Was bedeutet Althusser und generell der

Marxismus für Sie und Ihr Denken? Würden Sie sich heute noch als Marxist bezeichnen?

 

Jacques Rancière: Ich war Student der Philosophie, ja, aber eben auch einer, der von den

Thesen des jungen Marx fasziniert war, die forderten, dass die Philosophie sich selbst

abschaffen müsse, um sich zu realisieren. Zudem sah sich die Philosophie in dieser Zeit –

und in diesem Milieu – von Rationalitätsformen herausgefordert, die der strukturalen

Anthropologie von Lévi-Strauss, der Linguistik, der Psychoanalyse Lacans und der

Archäologie des Wissens von Foucault entsprangen. Althusser war derjenige, der dachte,

dass diese neuen Formen sich auf ein neues einheitliches Paradigma reduzieren ließen,

und dass dieses Einheitsparadigma sich mit einer in ihrer Authentizität

wiederentdeckten marxistischen Philosophie identifizieren konnte. Ich habe mich daher

von den Thesen Althussers von meiner Neigung, aus der Philosophie auszusteigen,

abbringen und mich im Gegenteil davon überzeugen lassen, dass es eine marxistische

Philosophie und Wissenschaft gibt, die es zuerst neu zu erschaffen galt als Vorbedingung

für jede Handlung, die die Welt zu verändern anhebt. Althusser bedeutet den letzten

großen Versuch, den Marxismus als eine Ganzheit des Denkens zu begreifen, d. h. als

eine Wissenschaft der sozialen Entwicklungen, die ein besonderes

Rationalitätsparadigma verwirklichen, und die dadurch in Stand gesetzt war, als Motor

des sozialen Wandels zu fungieren. Das Paradox ist natürlich, dass man sich, um diese

authentische marxistische Rationalität zu erfassen, einer Methode bedienen muss, die in

den Texten von Marx eine Rationalität findet, die Marx selbst ganz unbekannt war.

Außerdem haben uns die Ereignisse von 1968 gelehrt, das diese lupenreine marxistische

Rationalität, die Marx zu sich selbst in Widerspruch gebracht hat, sich zugleich im

Widerspruch zu den wirklichen sozialen subversiven Bewegungen befand. In aller

Strenge Marxist zu sein bedeutet zu glauben, dass es eine Wissenschaft der sozialen

Entwicklungen gibt, die die Waffen ihrer revolutionären Transformation bereit stellt.

Offensichtlich bin ich in diesem Sinne heute kein Marxist mehr, wie es überhaupt heute

wenige sind, denn die Mehrheit derer, die sich Marxisten nennen, haben den Marxismus

auf ein Ensemble desillusionierter Betrachtungen über die Wirklichkeit der Ausbeutung

reduziert, die sich hinter allem versteckt, und die Mehrheit derer, die gegen Formen von

Herrschaft kämpfen, beruft sich auf andere Quellen. Für mich

bedeutet kein Marxist mehr zu sein vor allem, den Marxismus nicht mehr als eine

organische, in sich geschlossene Theorie zu begreifen, sondern als ein Ensemble von

Texten und Thesen, die von verschiedenen Logiken – bisweilen gar widersprüchlichen –

durchzogen werden. Das hindert natürlich den Klassenkampf nicht daran, weiterhin zu

existieren.

 

TK: Bevor wir uns einigen der wichtigsten Ideen Ihrer Schriften zuwenden, würde ich

gern ein paar Fragen stellen, die die Methode (oder die Methoden) ihres Arbeitens

betreffen. Mit Ihren Schriften haben Sie sich auf dem Feld der politischen Philosophie

etabliert und man betrachtet Sie, emeritierter Professor für Philosophie, der Sie sind, als

eine der wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen politischen Philosophie Frankreichs.

Zugleich aber wehren Sie sich mit Nachdruck dagegen, dass man Ihre Schriften – vor

allem ihr „Hauptwerk“ La Mésentente (dt. Das Unvernehmen) – zur politischen

Philosophie zählt. Statt dessen bezeichnen Sie Ihre Bücher eher als „Interventionen“ und

die von Ihnen in Anschlag gebrachten Begriffe als „Operatoren“. Was ist nun der genaue

Unterschied zwischen dieser Art einer theoretischen Praxis und der klassischen

politischen Philosophie? Ist es einfach die Behauptung einer Praxis-Orientierung – etwa

in dem Sinne, dass man die Interpretation der Welt beenden und zu ihrer Veränderung

übergehen müsse –, oder ist es mehr als das?

 

JR: Ich habe mich niemals mit politischer Philosophie um ihrer selbst willen beschäftigt.

Der erste Grund dafür ist ohne Zweifel der, dass für meine Generation der Marxismus

die Idee einer Wissenschaft von der politischen Gemeinschaft in Zweifel gezogen hatte,

die auf einem Denken der menschlichen Natur oder des Rechts im Allgemeinen

gegründet war. Auf gewisse Weise waren meine Interventionen ins Politische zuerst

eine Kritik dieser Kritik, d. h. eine Kritik der Art und Weise, wie der Marxismus die Kritik

eingesetzt hat, indem er aus der Politik einen bloßen Schein gemacht hat, dessen

verborgene Wahrheit die ökonomische Ausbeutung und der Klassenkampf waren. Ich

habe stets die Positivität der Politik zu denken versucht im Sinne einer spezifischen

Erscheinungssphäre, was auch beinhaltete, sie als etwas zu betrachten, das aus sich

selbst ein Klassenkampf war. Ich habe dies in einem besonderen Kontext getan, dem des

sogenannten „Endes der Geschichte“, der Herrschaft der Ideologie des Konsenses und

der sogenannten „Rückkehr zur Politik“, die in Wahrheit ihre Auslöschung war. Zugleich

aber habe ich dies auf der Grundlage einer Forschungsarbeit über die

Arbeiteremanzipation getan. Diese Arbeit hat den Klassenkampf als einen Kampf gegen

die etablierten Einschränkungen erwiesen, und zwar auf der Ebene der Seinsweisen und

der Modi der sinnlichen Wahrnehmung. Darüber hinaus war dies eine Arbeit, die sich

vollständig jenseits des anerkannten Rahmens der Philosophie verortet hat. Mein

Problem war demnach ganz und gar nicht, eine Theorie der politischen Gemeinschaft

auszuarbeiten, die die Regierungspraxis begründete – und selbst nicht die des Kampfes.

Es ging darum, sowohl die Einschränkungen ans Licht zu bringen, die dafür sorgen, dass

einige Menschen dazu bestimmt sind, Politik zu betreiben und andere, sich der Arbeit

widmen, wie auch zu zeigen, dass einige Fragen dazu bestimmt sind, politisch zu sein

und andere sozial, dass einige Diskurse theoretisch genannt werden und andere

empirisch. Ich spreche dabei von einem Ort aus, an dem ich mich durch die Zufälle eines

individuellen intellektuellen Abenteuers wiedergefunden habe, der aber auch ein

theoretischer Ort ist, an dem sich die Unterscheidungen zwischen den Disziplinen und

den Kompetenzen in Frage gestellt finden. Es geht mir nicht darum, die Praxis der

Theorie vorzuziehen, oder die Veränderung der Welt ihrer Interpretation. Eine Welt ist

aus Interpretationen gemacht, d. h aus Bezügen zwischen dem, was man wahrnimmt

und was man darüber denkt, und dem, was man auf dieser Basis tun kann. Darüber

hinaus habe ich gezeigt, was der Begriff der Handlung selbst und des Preisens der

Handlung der alten hierarchischen Unterscheidung zwischen dem „aktiven“ und dem

„passiven“ Menschen schuldet. Es geht darum, den Rahmen, in dem diese

Unterscheidungen funktionieren, als solchen zu befragen. Eine solche Befragung kommt

aus einem Denken, das nicht in einem vorbestimmten oder vorab legitimierten Rahmen

verortet werden kann wie dem der Philosophie, der Theorie oder der Wissenschaft.

 

TK: In Ihren Schriften trifft man häufig auf das Wort oder den „Operator“ „Szene“ – Sie

bestimmten viele für Ihre Argumentation wichtige Bespiele als „Szenen“, der Ausdruck

findet sich in einigen Titeln Ihrer Bücher usf. Man könnte nun vermuten, dass dies auf

gewisse Weise ein Erbe Ihrer eben beschriebenen Arbeit in die Arbeiterarchiven ist,

denn dort wurden Sie immer wieder mit solchen „Szenen“ konfrontiert; eine solche

Beobachtung wäre dazu angetan die Bedeutung des Wortes für Ihre Arbeit

abzuschwächen. Sie aber tun genau das Gegenteil. In einem Ihrer letzten Bücher (La

méthode de l’égalité) machen Sie aus dem Term „Szene“ einen Hauptterm Ihrer Arbeit,

indem Sie behaupten, dass der Ausgangspunkt Ihrer Reflexionen niemals eine

allgemeine Theorie oder Frage war, sondern immer besondere „Szenen“. Erlauben Sie

mir in diesem Kontext zwei Fragen: a) Was bedeutet es für Sie als Philosoph von

besagten „Szenen“ auszugehen (anstatt etwa von ökonomischen, logischen oder sozialen

Strukturen, vom Subjekt oder dem transzendentalen Bewusstsein, der sogenannten

„Empiri“ o. a.)? Und b) Wie muss eine solche „Szene“ gemacht sein, damit sie ein Motiv

oder ein Ausgangspunkt für eine philosophische Reflexion wie die Ihren werden kann?

Was führt dazu, dass ein einfaches und alltägliches Ereignis zu einer „Szene“ wird – und

die Welt auf gewisse Weise zum Theater?

 

JR: Ich möchte zuerst festhalten, dass ich niemals darauf bedacht war, als Philosoph zu

denken. Ich habe im Gegenteil immer geglaubt, dass die Ereignisse des Denkens da

entstehen, wo sie auf keinerlei besondere Identität bezogen waren. Dementsprechend

ist „Szene“ das, was die Opposition zwischen dem Theoretischen und dem Empirischen,

dem Allgemeinen und dem Besonderen, dem Schein und der Realität widerruft. Ich habe

sehr viel über revolutionäre Momente gearbeitet, in denen es sicher angebracht ist,

einen Effekt auf der Oberfläche zu sehen, der profunde Umwälzungen der Gesellschaft

enthüllt – oder maskiert. Ich habe beobachten können wie einige wenige solcher

revolutionären Tage ausgereicht haben, um alle Evidenzen in Frage zu stellen, die

normalerweise die Ordnung der Welt tragen, und wie sie eine selbständige Dynamik der

Umwälzung eines ganzen Universum des Sichtbaren, des Sagbaren, des Denkbaren und

des Möglichen in Gang gesetzt haben. Ich erinnere mich, dass ich dies vor langer Zeit

einmal in einem Satz zusammengefasst habe, der sogar die Historiker, die meiner Arbeit

am wohlwollendsten gegenüber standen, abgeschreckt hat: „Es gibt keinen

revolutionären Prozess, es gibt nur eine revolutionäre Szene.“ Es ist möglich dies zu

verallgemeinern, um damit die Art und Weise zu verstehen, wie Gedanken, Blicke, Reden

die Bedingung selbst produzieren, reproduzieren oder transformieren, die diese

wahrnehmbar werden lassen und ihnen Sinn geben. „Szene“ meint nicht die empirische

Realität im Gegensatz zu den Gesetzen der grundlegenden Realität und den Prinzipien

ihrer Erkenntnis. Im Gegenteil sind es „Szenen“, von denen aus die Terme dieser

Oppositionen allererst denkbar sind. „Szenen“ sind bei Platon nicht die Schatten auf den

Mauern der Höhle, sondern die Konstruktion der Opposition zwischen der intelligiblen

Sonne und den Schatten auf der Wand. Der platonische Mythos ist eine Szene, und diese

Szene ist notwendig, um den Unterschied zwischen Sehen und Sehen zu schaffen – oder

auch zwischen Lieben und Lieben oder Singen und Singen. Auch ist es Aufgabe der Szene

– oder des Mythos – die verschiedenen Bestimmungen von Seele und Körper zu

etablieren. Kurz: „Szene“ ist der Ort, an dem die Frage, was man wahrnehmen, sagen und

wissen kann, verbunden ist mit der Verteilung des Plätze und der Kompetenzen, die

besagt, wer die Fähigkeit zu sehen, zu sagen und zu denken hat. Man kann hier also eine

Methode entdecken, die ein Problem mit einer Szene verbindet, d. h. mit einer

exemplarischen Inszenierung („mise-en-scène“) der sinnlichen und der denkbaren Welt,

die die Feststellung des Problems voraussetzt. Nehmen wir zum Beispiel die Politik: Es

gibt die Methode, die die allgemeinen Gründe sucht, die die Menschen dazu bringt sich

zu vereinigen; es gibt die Methode, die die existierenden Regierungsformen erfasst und

einteilt. Und es gibt die Methode der Szene – zum Beispiel die Szene der Abspaltung der

Plebejer auf dem Aventin – die den Typus von Welt konstruiert, die die Politik

voraussetzt – und damit den Widerspruch, der sich in ihrem Herzen befindet: eine Welt

in der die, von denen man „sah“, das sie nicht sprachen, sichtbar werden ließen, dass sie

sprechen. Dasselbe gilt für die Kunst. Man kann allgemeine Aussagen über die Kunst als

einen spezifischen Typ der Präsenz des Seins im Seienden oder der Unendlichen im

Endlichen machen und dies an einem Beispiel der Höhlenmalerei oder eines Bildes von

Cézanne illustrieren. Doch erscheint es mir sinnvoller sich Szenen zuzuwenden, in

denen man etwas, das nicht dem Feld der Kunst angehört, in diesen Feld eintreten sieht,

oder in denen etwas, das minderwertige Kunst war, große Kunst wird. Das war, was ich

versucht habe heraus zu arbeiten, als ich zum Beispiel Hegels Blick auf die Kindheit von

Murillo gefolgt bin oder dem von Mallarmé in das Schauspiel der Music-Hall von Loïe

Fuller [die genannten Beispiele stammen aus dem Buch Aisthesis. Scènes du régime

esthétique de l’art, Anmerkung T.K.]. Das ist meine Art, die Lektion der intellektuellen

Emanzipation anzuwenden: „Lernen Sie etwas und beziehen Sie den ganzen Rest

darauf.“ Es geht nicht um eine Verwandlung des Banalen, die das Alltägliche fabelhaft

werden lässt. Es geht um eine andere Art der Ausübung des Denkens. In einer Szene sind

die Bedingungen des Denkens einer sinnlichen Konfiguration der Konfiguration selbst

immanent.

 

TK: Während der letzten Jahre – darauf haben Sie bereits hingewiesen – haben Sie viele

Texte über ästhetische Themen oder Phänomene im engeren Sinne geschrieben (über

die Literatur, die Kunst, das Kino; ich komme nachher darauf zurück). Seit Ihren

Anfängen (oder fast seit den Anfängen) aber spielt die Ästhetik im weiten Sinne des

Wortes – die Sphäre des „Sinnlichen“ („le sensible“), wie Sie es nennen – eine wichtige

Rolle in Ihren Reflexionen. Dabei verweist das Wort „sinnlich“ („sensible“) auf zwei ganz

unterschiedliche Aspekte: Auf der einen Seite auf all das, was wir dank unserer Sinne

wahrnehmen, also auf das Sensorium; mir scheint, dass Sie auf die herausragende Rolle

des Sensoriums insistieren, um jede Art von essentialistischer Metaphysik oder

ontologischer Fundierung zurück weisen und auf der „Oberfläche“ des bloß „Ontischen“

bleiben zu können, um nicht in einem Linksheideggerianismus zu enden wie viele Ihrer

Zeitgenossen. Zugleich sind Sie aber auch kein Empirist, denn das Wort „sinnlich“

(„sensible“) verweist auf der anderen Seite auch auf die Tatsache, dass alles, was wir

wahrnehmen, unmittelbar „Sinn“ („sens“) macht, d. h. in einem immer schon sinnhaften

Kontext erscheint. In diesem sinnhaften Kontext konzentrieren Sie sich – darüber haben

wir gerade gesprochen – auf „Szenen“, die auf den ersten Blick oder nach den

herrschenden Interpretationsmustern „Unsinn“ sind oder auch sinnlos – was Sie

ihrerseits dann bestreiten. Könnte man Ihre Arbeit daher als die Arbeit eines

Semiologen (im vagen und weiten Sinn eines „Lesers von Zeichen“) charakterisieren,

dessen Aufmerksamkeit nicht einfach auf die Entstehung von Sinn gerichtet ist (wie dies

bei einer ganzen Generation von Strukturalisten der Fall war), sondern auf den Streit um

den Sinn? Der nicht zuerst erkenntnistheoretisch, sondern politisch zu verstehen ist,

denn er ist zuerst ein Streit um die Verteilung des Sinns oder von Sinn?

 

JR: Tatsächlich bezeichnet das Sinnliche bei mir nirgends eine bloße Gegebenheit der

Sensation, die darauf wartet unter einen Begriff gebracht zu werden. Es bezeichnet

immer eine gewisse Form von Artikulation zwischen Sinn und Sinn: Das

Wahrgenommene ist wahrgenommen im Ganzen einer Einteilung des Wahrnehmbaren,

die dafür sorgt, dass es sichtbar (und nicht unsichtbar) ist, bedeutsam oder

unbedeutend, dass es den Regimen der Erfahrung oder der Bedeutung zugeordnet wird

usf. Um zu verstehen, was wahrgenommen wird, muss man immer nach dem Sinn

fragen, der dem Wahrgenommenen gegeben werden kann, und nach der Verteilung der

Fähigkeit, diese Verbindung herzustellen. Das ist es, was die Szene auf dem Aventin in

der Wiedererzählung von Ballanche illustriert, wie ich sie in La Mésentente kommentiert

habe. Die erste Frage – der erste Streitpunkt – ist, ob der Lärm, den die Plebejer mit

ihrem Mund produzieren, Sprache ist oder nicht. Auf gewisse Weise ist „die Aufteilung

des Sinnlichen“ („le partage du sensible“) meine Version der „apriorischen

Anschauungsformen“, eine Version, die sich auf eine bestimmte Form des Apriori

konzentriert, die nämlich, durch die die Wahrnehmung der Menschlichkeit der

Menschen bestimmt ist : die Frage des Konflikts über die Sichtbarkeit oder

Unsichtbarkeit menschlicher Wesen, über das, was sie mit ihren Sinnen und der

Wahrnehmung machen können, über das, was sie sind und was sie machen

entsprechend dem Platz, den sie in der Welt einnehmen. Tatsächlich habe ich mich nie

mit dem Ursprung des Sinns oder dem Ursprung der Gemeinschaft befasst. Beide gibt es

immer, ebenso wie es immer einen Verteilungsmodus gibt und einen Moduss, über

diesen Verteilungsmodus zu streiten. Deshalb würde ich meine Arbeit nicht mit einer

Lektüre von Zeichen gleichsetzen. Ich befasse mich nicht damit, was die Zeichen

bedeuten, sondern mit der Art und Weise, wie ein Feld des Wahrnehmbaren, des

Sagbaren und des Denkbaren organisiert ist. Das ist eher die Arbeit eines Zuschauers

oder eines Regisseurs („metteur en scènes“) als die eines Semiologen.

 

TK: Nach diesen eher methodologischen Fragen würde ich nun gern mit Ihnen über

einige zentrale Begriffe Ihrer Reflexionen sprechen. Seit ihrem Buch Le maître ignorant

von 1987 – dessen Bedeutung für Ihren intellektuellen Weg Sie seit einigen Jahren

zunehmend hervorheben – ist der Begriff der „Gleichheit“ einer Ihrer Hauptbegriffe,

zugleich aber ein schwer zu verstehender. D. h., der Begriff als solcher ist so schwer

nicht zu verstehen – die Idee der Gleichheit hat eine lange Tradition in der neuzeitlichen

okzidentalen Philosophie – es ist eher die Art und Weise, wie Sie den Begriff bestimmen,

die zu denken aufgibt. Bei Ihnen (die Sie darin Joseph Jacotot, dem Hauptprotagonisten

des o.g. Buches folgen) ist die Gleichheit keine natürliche Gegebenheit oder Tatsache, die

als Legitimationsgrundlage dienen kann, ebenso wenig wie sie eine Forderung der

Vernunft ist, auf die Rechte zu gründen möglich ist. Sondern Sie bestimmen Gleichheit

als eine „unverzichtbare Voraussetzung“ der Gemeinschaft, die es je aufs Neue zu

„verifizieren“ gilt, d. h. die nur existiert dank besonderer Akte der „Verifikation“. Was

soll das bedeuten? Und: Wie stellen Sie sich die Beziehung dieser Vorstellung von

Gleichheit zu den „klassischen“, oben genannten Vorstellungen der Gleichheit vor, zum

Beispiel zur Gleichheit, die die Menschenrechte oder das gleiche Recht auf Bildung

rechtfertigen soll? Gibt es einen Bezug der klassischen Begriffe der Gleichheit zu ihrem

oder schließen sie sich gegenseitig aus?

 

JR: Die klassischen Begriffe der Gleichheit positionieren – wie die der Freiheit – diese

stets im Zentrum eines Widerspruchs zwischen Recht und Tatsache: Die Menschen

werden frei und gleich vor dem Recht geboren (Rousseau) und liegen doch überall in

Ketten; die Menschen sind einander von ihren Fähigkeiten her gleich, vor allem darin,

einander zu schaden (Hobbes) und müssen eben deshalb ihrer Unterordnung unter

einen Souverän zustimmen. Die Tatsache widerspricht dem Prinzip oder aber das

Prinzip soll die Tatsache berichtigen. Der Marxismus hat sich in diese Logik der

Differenz zwischen Recht und Tatsache eingeschrieben, oder genauer zwischen dem

Recht und der Fähigkeit, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Im Gegensatz dazu

rührt die Originalität Jacotots aus zwei Prinzipien: Zuerst einmal ist die Gleichheit – oder

die Ungleichheit – direkt in Begriffen der Fähigkeit oder der Unfähigkeit gefasst und

nicht in denen von Recht oder Tatsache. Mit einem Schlag ist so der klassische Gegensatz

zwischen Prinzip und Tatsache in den Gegensatz zweier Prinzipien transformiert, die

selbst nur in ihrer und durch ihre Verwirklichung existieren. Die Gleichheit und die

Ungleichheit existieren in der Form einander widersprechender Maximen, die sich

durch ihre jeweilige Verwirklichung verifizieren. Es gibt keine Rechtsgleichheit

zwischen dem Meister und dem Schüler und zugleich eine Ungleichheit in der

Wirklichkeit. Es gibt die Entwicklung der inegalitären Maxime durch das System der

Erklärung, das unaufhörlich die Distanz reproduziert; und es gibt die Entwicklung der

egalitären Logik, die die Ausübung der ersteren bedingt: der Schüler muss verstehen,

was der Meister sagt, um den Erklärungen folgen zu können, die die inegalitäre

Beziehung verwirklicht. Die beiden Logiken sind in actu in derselben Beziehung

anwesend; sie verbinden sich in den Formen der Beherrschung, des Konflikts und des

Kompromisses. Noch hier sind die Bedingungen des Aktes dem Akt selbst immanent. Es

gibt eine Praxis der Gleichheit und eine Praxis der Ungleichheit, die eine unaufhörliche

und unaufhörlich polemische Verifikation ihrer Prinzipien sind.

 

TK: Gleichheit durch Akte besonderer Art zu verifizieren ist für Sie zugleich der Kern

dessen, was man „Emanzipation“ nennt – das für Sie wohl wichtigste politische Projekt.

Die Idee, von „Szenen“ auszugehen, in denen auf besondere Weise etwas nicht stimmt –

darüber haben wir gerade gesprochen – suggeriert, dass Ihre Methode eine rein

deskriptive ist: Ich sehe eine Szene, in der etwas nicht funktioniert und ich versuche zu

verstehen, was da passiert: warum etwas nicht funktioniert, was sich in diesem Nicht-

Funktionieren oder diesem Un-Sinn zeigt oder zur Erscheinung kommt, welcher Streit

sich dahinter verbirgt usf. Aber dabei machen Sie nicht Halt, Sie gehen einen Schritt

weiter. Um zum Beispiel „Interventionen“ zu rechtfertigen braucht es einen Grund: Man

interveniert nicht, wenn man denkt, dass alles gut ist. Ebenso wie Ihre Beispiele zeigen,

dass Sie nicht nur Szenen der Emanzipation beschreiben, sondern dass Sie diese Akte

der Emanzipation als wichtig und wünschenswert ansehen. Man sieht daran sehr klar,

dass die Idee selbst der „Emanzipation“ (wie zum Beispiel auch die des „Widerstandes“)

in sich selbst notgedrungen und unausweichlich zumindest eine normative Tendenz

oder einen normativen Zug in sich tragen. Angesichts dessen die folgende Frage: Woher

kommt die Notwendigkeit der Emanzipation? Oder anders gefragt: Was ist das

normative Fundament ihrer Schriften, Ihrer „Interventionen“, so unscheinbar es auch

sei?

 

JR: Auch hier ist es mir nicht möglich in Begriffen einer externen Norm zu denken, die

als Maß der Akte der Emanzipation existieren würde. Die Norm ist diesen Akten selbst

immanent. Das ist es, was die Idee der „Verifikation“ impliziert. Es gibt zwei

Normativitäten, die sich einander entgegen setzen. Man wählt, die Gleichheit oder die

Ungleichheit zu verifizieren, und es gibt jenseits der Opposition dieser beiden

Handlungsweisen keine Norm, die festlegt, welche der Verifikationen legitim ist und

welche nicht. Das ist das Herz von La Mésentente: Es gibt, sobald ein Konflikt über die

Sprechsituation selbst entsteht, keine einer Kommunikationssituation implizite Regel.

Sicher kann man Schlüsse aus der Form selbst ziehen, durch die die beiden Logiken sich

gegenseitig implizieren. Der Erfolg der inegalitären Verifikation zwingt sie auf die

Vermittlung durch die Gleichheit zu setzen: Der Befehl muss verstanden werden, seine

Ausführung setzt die entsprechenden Fähigkeiten des Handelnden voraus, der Kampf

gegen den rebellischen Sklaven setzt seine Anerkennung als Krieger voraus etc. All dies

sind Formen der Implikation, von denen die Episode des Sklavenaufstandes der Skythen

bei Herodot zeigt, dass man ihnen nur entkommt, wenn man es schafft, den anderen,

Niederstehenden vollständig zum Tier zu machen. Im Gegensatz dazu hat die Gleichheit

die Vermittlung durch die Ungleichheit nicht nötig, um sich zu verifizieren. Man kann ihr

also den Vorrang der Bedingung über das Bedingte geben. Auf einer anderen Ebene

kann ich sagen, dass der Anspruch auf Universalität des Denkens nur dann Sinn macht,

wenn man sie auf eine Fähigkeit bezieht, die die eines jeden ist, egal wer, und dass die

Ausübung des Denkens nur dann Sinn macht, wenn sie diese Gleichheit der Fähigkeiten

verifiziert. Zugleich ist aber auch klar, dass dieses Argument für den, der der Logik der

Ungleichheit folgt, kein Gewicht hat. Es erhält seine Evidenz nur aus den

Rahmenbedingungen, innerhalb derer ich sie skizziert habe, und aus der gemeinsamen

Welt, die meine Akte zu konstituieren versuchen. Aber es macht gar keinen Sinn für den,

der sich für die Verifikation der Ungleichheit entschieden hat oder der von ihr gewählt

wurde. Das wird nicht den Journalisten überzeugen, der mich dazu auffordert über die

Notwendigkeit zu sprechen, dass die Intellektuellen ihrem Auditorium das zu erklären

haben, was dieses unfähig ist von sich aus zu verstehen. Die Frage der Norm ist im

Grunde die nach der Welt, in der man leben möchte – oder einfacher: in der man leben

kann. Auch das soll „verifizieren“ bedeuten: durch unsere Handlungen die Möglichkeit

einer Welt schaffen. Die Annahme der Gleichheit ist nicht einfach ein Prinzip, das unsere

Handlungen leitet. Sie ist ebenso die grundlegende Tonalität, die für uns eine ganze Welt

der Wahrnehmungen und der Affekte einfärbt.

 

TK : Auf theoretischer Ebene scheint mir das vollkommen konsistent; aber in der Praxis

bleibt es doch etwas unbefriedigend. Nehmen wir ein Beispiel, dass Sie selbst gern

verwenden: die Montagsdemonstrationen in Leipzig im Jahr 1989. Die Demonstranten

riefen: „Wir sind das Volk!“, und Sie haben das als Verifikationsakt der Gleichheit

verstanden, d. h. als einen Akt der Emanzipation, durch den sich die Gehör verschafft

haben, die bis dato im politischen Feld nicht erschienen sind. Zur Zeit gibt es wieder

Montagsdemonstrationen, diesmal in Dresden (nicht weit von Leipzig), auf denen

gerufen wird: „Wir sind das Volk!“ Ich spreche von den Montagsdemonstrationen der

PEGIDA-Bewegung. Wenn man diese nach ihrer eigenen Normativität beurteilt, sind

auch ihre Demonstrationen Akte der Emanzipation im von Ihnen geschilderten Sinne.

Können Sie mit einer solchen Selbstbeschreibung wirklich einverstanden sein?

 

JR : Ganz sicher nicht. Es reicht nicht, dass man sich zum Volk erklärt, um sich zu

emanzipieren. Politik ist nicht ein Akt des Volkes, sondern eines Volkes, einer Form des

Volkes gegen eine andere. Es geht also darum zu wissen, welches Volk sich da welchem

anderen jeweils entgegen setzt. Die Demonstranten von Leipzig haben sich klar von der

Form der Einverleibung abgegrenzt, die dem Volksstaat eigen ist. Sie wussten sehr wohl,

dass sie eine verschwindend kleine Minderheit waren, aber sie haben durch ihre Akte

gerade die Tatsache verifiziert, dass eine Minderheit sehr wohl durch ihre Worte und

Taten eine Form vorstellen kann, die ein Volk ist. Auf diese Weise haben sie ein anderes

Volk ausgerufen, ein offenes, eines, das dem Staat nicht einverleibt ist, d. h. unter den

damaligen Bedingungen ein unmögliches Volk, das sie gleichwohl wirklich werden

ließen. Die Demonstranten von PEGIDA nehmen diesen Slogan wieder auf – weil es

faktisch keinen Slogan, kein Wort, keinen Satz gibt, der nicht wieder aufgenommen,

umgedreht oder verkehrt werden kann (weshalb das Wichtige nicht die Wörter sondern

die Redesituation („la scène de parole“) ist). Aber das Volk, das sie auf diese Weise

ausrufen, ist ein identitäres Volk, ein ausschließendes, das sich durch seine

Verschiedenheit von denen definiert, die es ausschließt: die Fremden, die, die nicht dem

deutschen Boden und der deutschen Nation angehören. Ich habe immer betont, dass

eine politische Subjektivierung instabile Identitäten bestimmt, die fortwährend von

einer doppelten Gefahr bedroht werden: der Gefahr eines schlichten Verschwindens,

und der der Konstitution eines glorreichen Körpers; dieses letzte Phänomen illustriert

beispielhaft die Figur des „Proletariers“, die immer aufgespannt war zwischen dem

unsichtbaren Arbeiter und dem Arbeiter-König der „proletarischen“ Parteien. Man weiß

zudem wie die Sowjetunion und die Volksdemokratien mit der Gleichsetzung dieser

Einverleibung des Proletariers und der nationalen Einverleibung gespielt haben und wie

sie den „Demokratien“, die auf sie gefolgt sind, diese übersteigerte patriotische

Identifikation weiter vererbt haben. Und selbst wenn eine gute Anzahl der Anhänger

von PEGIDA nach 1989 geboren wurden, ist es doch bezeichnend, dass das Phänomen

PEGIDA dort entstanden ist, wo ehedem das „Volks“-Deutschland war. Was auch immer

man sagen mag, ich glaube, dass die Art von Volk, die von der DDR geerbt wurde,

wichtiger ist als das Arbeitsmarktproblem in den ostdeutschen Bundesländern, um

diese Verortung von Demonstrationen der extremen Rechten zu erklären.

 

TK: Ein wichtiger Operator Ihrer schriftlichen Interventionen seit dem Anfang der

1990er Jahren ist die Dichotomie zwischen „Politik“ und „Polizei“ – eine Unterscheidung,

über die seit dem viel geschrieben und diskutiert wurde. Sie selbst sprechen dabei von

zwei „Logiken“, die sich widersprechen, und die zugleich aufeinander angewiesen und

ineinander verstrickt sind. Freilich zeigt sich die Logik dessen, was Sie „Politik“ nennen,

nur ausgesprochen selten, denn sie bezeichnet den Augenblick, in dem sich das

fundamentale Unrecht zeigt, auf dem jede „Polizei“ ruht: Den Augenblick einer

Aufteilung, die sich als selbstverständlich gibt, und die doch in Wirklichkeit immer

prekär, weil umstritten bleibt. Diese Augenblicke bedeuten zweifellos wichtige Momente

im politischen Feld, aber sie sind ebenso sicher nicht gleichbedeutend mit dem Ganzen

dieses Feldes. Und wenn ich vom „Ganzen“ rede, denke ich nicht einfach an die

klassischen Felder der politischen Philosophie wie die gerechte Verteilung der Güter, die

Strukturen und die Errichtung juridischer Apparate oder notwendiger politischer

Institutionen und andere mehr. Sondern es geht auch um das, was Sie selbst „Politik“

nennen, die, wie Sie selber sagen, nur auf dem Feld und in den Worten der „Polizei“

überhaupt erscheinen kann. Müsste man also, insofern politischer Philosoph, nicht nur

die Momente des Erscheinens der „Politik“ beschreiben, sondern ebenso verschiedene

Formen der „Polizei“, die eben das Erscheinen der Politik gerade möglich machen, oder

aber, im Gegenteil, zu verhindern suchen? Anders gesagt, müsste man nicht viel mehr,

als Sie es getan haben, darüber nachdenken, wie eine „Polizei“ strukturiert oder

organisiert sein muss, damit Emanzipation die Möglichkeit hat, zu geschehen (oder

zumindest nicht erschwert oder verhindert zu werden)? Und würden Sie, darüber

hinaus, wirklich sagen, dass nur diese seltenen, ungewöhnlichen, dramatischen

Momente, in denen sich das fundamentale Unrecht zeigt, auf der alle „Polizei“ ruht,

„Politik“ genannt werden sollen – und dass all die anderen alltäglichen und „banalen“

Situationen, wie z. B. die, in der ein Obdachloser eine Wohnung zu bekommen versucht

und sich darüber mit einem lokalen Beamten streitet – dass all das nicht „Politik“

bedeutet?

 

JR: Politik und Polizei definieren zwei verschiedene Arten das Gemeinsame zu

konstruieren und nicht zwei einander entgegen gesetzte Domänen. Vor allem ist die

Polizei nicht die Domäne der Institutionen und die Politik nicht der Akt der Subversion

gegen die Institutionen. Was ich zu zeigen versucht habe war, wie die Domäne, die man

gewohnt ist als die der Politik oder des Politischen zu bezeichnen – die der Institutionen

der Macht des Staates und des Kampfes um dieses Macht – tatsächlich nur die Wirkung

eines Konflikt einander zuwider laufender Prinzipien ist. Beginnen wir mit dem

einfachsten dieser Gegensätze: Wir haben Verfassungen, die das Volk als Subjekt der

Macht bestätigen und Wahlen, die als Verwirklichung dieser Macht gelten. Folglich

dienen diese Wahlen vor allem der Reproduktion einer Klasse von Spezialisten der

Ausübung der Macht, die mehr und mehr diese Ausübung als ihre Privatsache

betrachten. Die Unterschiede zwischen rechts und links sind nahezu verschwunden weil

die Parteien dasselbe ökonomische Credo nachbeten, die ihre immer größerer

Unterordnung unter die Finanzmächte wieder spiegelt. Man zieht aus diesem Stand der

Dinge gemeinhin zwei entgegengesetzte Konsequenzen: Für die einen entscheidet das

Volk, das so zum Vollstrecker seiner eigenen Unterwerfung wird. Für die anderen ist die

Macht des Volkes eine Illusion, die die Herrschaft des Kapitals kaschiert. Kurz, man

denkt immer im Schema eines Widerspruchs zwischen Prinzip und Realität. Von

meinem Standpunkt aus gesehen sind sowohl das Prinzip als auch die Realität

zweigeteilt. Das Wahlsystem ist die Kombination zweier antagonistischer Prinzipien:

Das demokratische Prinzip der Gleichheit eines jeden beliebigen Einzelnen mit jedem

anderen, dessen originärer Ausdruck die Auslosung und das Repräsentationsprinzip ist,

gemäß dem frühere Souveräne den Instanzen, die die Ordnung repräsentieren, eine

beratende Macht gegeben haben, Instanzen, die als für die soziale Ordnung konstitutiv

angesehen werden, wie der Adel oder der Klerus. Die „Macht des Volkes“, die in der

Logik der Wahl verkörpert ist, ist in sich selbst eine widersprüchliche Macht, eine

gemeinsame Macht, in die ihrem Prinzip selbst privatisiert wurde, was bedeutet, dass

die Demokratie, gesetzt, dieses Wort hat einen Sinn, fordert, dass die Macht des Volkes

sich als überschüssige Macht verwirklicht, d. h. dass sie sich woanders verwirklicht, in

Handlungen, Versammlungsformen und Institutionen, die vom repräsentativen Prinzip

unabhängig sind. Was zugleich bedeutet, dass „das Volk“ nicht existiert. Es gibt Figuren

des Volkes, die sich konstruieren und in den Spannungen der einander entgegen

gesetzten Prinzipien trotzen, und bisweilen auch in den Verzerrungen, die diese

Spannungen erzeugen (wenn zum Beispiel heute die Form der herrschenden Opposition

gegen die konsensuelle Logik der herrschenden Parteien sich in identitären Parteien

verwirklicht). Eben deshalb kann sich das Problem nicht in den Begriffen fassen lassen:

Die Polizei derart organisieren, dass sie das politische Spiel zulässt. Es geht eher um die

Wirksamkeit der politischen Handlung, die Verschiebungen im Gleichgewicht zwischen

den zwei Logiken im Herzen der Institutionen selbst erzeugt. Ich bin absolut davon

überzeugt, dass unser Wahlsystem in einem demokratischen Sinn erschüttert werden

könnte durch die Einführung kurzer Mandate, die nicht kumulierbar und nicht

erneuerbar sind, und dadurch, dass ein Teil der Mandate der Auslosung überlassen

wird. Noch mehr aber bin ich davon überzeugt, dass es keinerlei Grund gibt, dass diese

Erschütterung im Herzen der aktuellen Beziehung zwischen Wählerschaft und

Regierungsparteien geschieht, und dass nur die Existenz einer neuen politischen Kraft,

die unabhängig vom offiziellen Spiel ist, daraus etwas anderes machen kann als einen

frommen Wunsch.

 

TK: Politische Subjekte – im emphatischen Sinn, den Sie diesem Wort gegeben haben –

existieren ihrer Meinung nach nur in der Form der „Subjektivation“, deren Kern ein

Prozess der „Desidentifizierung“ ist. Philosophisch scheint die Idee hinter dieser

Definition die folgende zu sein: Die genannten Begriffe funktionieren als eine Abwehr

jedweder Form von politischem Essentialismus, jedweder Form von politischer

Legitimation durch das Recht oder sogenannte „natürliche“ Qualitäten. Diese Idee ist auf

mindestens zwei Weisen kritisiert worden: Auf der einen Seite zerstöre die Idee einer

notwendigen „Desidentifikation“ jede Form von Hoffnung auf „Selbstfindung“, um

Ansprüche von außen abweisen zu können – wie man, zum Beispiel, in der kolonisierten

Welt zuerst die „eigene“ Identität sucht, um die abweisen zu können, die von den

Kolonisatoren aufgezwungen wurde. Und auf der anderen Seite hat man festgestellt,

dass eine Desidentifikation nur für solche Subjekte möglich ist, die im Stande sind sich

zu desidentifizieren, d. h. die die dazu notwendigen Möglichkeiten und Fähigkeiten

haben (was, nebenbei bemerkt, auf die Frage danach verweist, ob Ihrer Idee von

Emanzipation nicht eine ziemlich „klassische“ Vorstellung von autonomer Subjektivität

zu Grunde liegt). Was aber, so lautet die kritische Frage hier, macht man mit denen, die

nicht sprechen (wie etwa Spivaks „Subalterne“)? Ganz einfach, weil sie nicht sprechen

können? Ist nicht die Fähigkeit, sich durch einen Akt polemischer Desidentifikation zum

politischen Subjekt zu machen, eine, die nur bestimmten Subjekten zukommt, die man

beileibe nicht überall auf der Welt findet? Ist Ihre Konzeption folglich nicht auf gewisse

Weise zugleich „elitär“ und „verantwortungslos“? „Elitär“, weil sie nur für eine

bestimmte Anzahl von Subjekten gilt? Und „verantwortungslos“, weil sie sich nicht auch

denen zuwendet, die sich nicht um sich selbst kümmern können?

 

JR: Beginnen wir mit dem Sinn des Wortes „Desidentifikation“. Es bedeutet nicht, dass

man sich jedweder Identität entledigt, um etwas wie eine jungfräuliche Oberfläche zu

werden oder ein reiner Repräsentant des Allgemeinen. Es bedeutet, dass man sich der

Identität entledigt, die einem vom herrschenden System zugesprochen wird. Als

Arbeiter zu kämpfen, als Frau, als Schwarzer, als Kolonisierter hat immer schon einen

Bruch mit den Formen der Arbeiteridentität, der weiblichen Identität etc. bedeutet, die

vom der Macht der Arbeitgeber, der Männer, der Weißen oder der der Kolonisatoren

zugesprochen wurde. Die wirklich wirksamen antikolonialen Kämpfe des 20ten

Jahrhunderts haben sich nur zu einem sehr kleinen Anteil auf einer den Kolonisierten

eigenen Identität gegründet, als viel mehr auf einen Prozess mit doppeltem Gesicht: auf

der einen Seite das Ablegen der Identität, die von der Kolonisierung geschaffen wurde;

und auf der anderen Seite eine Wiederaneignung und Umkehrung der universalistischen

Werte, die von den Kolonisatoren proklamiert wurden. Die identitäre Selbstbestätigung

und die kulturalistische Obzession kamen eher im Laufe der Desillusionierung der

postkolonialen auf, ebenso wie der Aufschwung des Kommunitarismus in den USA dem

Scheitern der schwarzen Befreiungsbewegung gefolgt ist. Was nun die anbelangt, die

nicht die „Fähigkeiten“ haben, sich „um sich selbst zu kümmern“ oder die nicht sprechen

können, ist das Problem das des Richters oder Experten, der diese Unfähigkeit

bestätigen kann. Die Geschichte hat uns – durchgehend – Lebewesen gezeigt, die, nicht

dazu bestimmt zu sprechen, doch zu sprechen begonnen haben, d. h. die gezeigt haben,

dass sie sprechen und dass man sie vernehmen muss. Denn sprechen heißt zuerst als

sprechendes Wesen gehört und wahrgenommen zu werden. Die Plebejer auf dem

Aventin sprachen nicht, weil die Patrizier sie nicht haben sprechen hören, und die Taub-

Stummen sprachen nicht nach dem Urteil der Autoritäten, die sie im Jahr 1880 zwangen,

einer Sprache der Zeichen zu entsagen und statt dessen eine „mündliche“ Sprache

einzuführen.

Es gibt ganz sicher heute überall in der Welt unendliches Leid, das nicht vernommen

wird. Zu sagen, dass die, die dieses Leid ertragen, strukturell unfähig sind zu sprechen,

ist ein logischer Sprung, den nichts rechtfertigt außer das Vorurteil der Ungleichheit der

Intelligenzen – was wahrhaft elitär ist. Ansonsten gibt es, wie man weiß, „noch etwas

anderes im Leben als die Politik“: Was bedeuten soll, dass es eine Vielzahl von

Möglichkeiten gibt, denen zu helfen, die nicht sprechen, die Leiden derer zu lindern, die

nicht dahin gelangen, ihnen aus eigener Kraft zu entkommen, oder gegen die

Knechtschaft zu kämpfen, die sie erleiden. Ich gehöre nicht zu denen, die die Arbeit der

NGOs im Namen des Prinzips kritisieren, dass nur die totale Revolution der Knechtschaft

und dem Leiden ein Ende bereiten kann. Ich versuche einfach, zwei verschiedene

Logiken voneinander abzuheben. Und ich übergebe die Bürde des Beweises an die, die

die Gleichheit für a priori unmöglich erklären.

 

TK: Erlauben Sie mir, da sie dazu noch gar nichts gesagt haben, noch einmal auf den

Begriff vom Subjekt selbst zurück zu kommen, jenseits aller Fragen nach Normativität

oder Moralität. Sehen Sie eine Beziehung zwischen Ihrer Idee von „Subjektivierung“ und

der Althusser’schen Idee der „Anrufung“? Genauer gefragt: Ist das erste Konzept auf

gewissen Weise eine Antwort auf das zweite?

 

JR : Ganz sicher ist das erste Konzept in jeder Hinsicht dem zweiten entgegen gesetzt.

Das Althusser’sche Subjekt ist im eigentlichen Sinne ein unterworfenes Subjekt („sujet

assujeti“), ein Subjekt, das vom anderen identifiziert und an seinem Platz durch

Bezeichnung fixiert wird (das berühmte „He, Sie da!“). Sein Modell ist das religiöse

Modell des Individuums, das vom Gesetz gerufen wird, d. h. letztendlich von der

Göttlichkeit, die ihm seinen Namen gibt („Du bist Peter!“) und dort hinschickt, wo es

hingehen soll. Was ich im Gegenteil unter Subjektivierung verstehe ist ein Prozess der

Desidentifikation, die sich in Operationen verwirklicht, die mit einem Schlag die Rahmen

modifizieren, in denen die Individuen und die Orte wahrnehmbar und benennbar sind.

„Subjekt“ ist für mich der Operator eines solchen Vorgangs. Das Subjekt ist dem Vorgang

immanent, durch ihn bestimmt. Es ist nicht sein Autor. Das Individuum Descartes ist

nicht das Ich des cogito. Dieses Subjekt existiert in der Schrift der Meditationen. Es

existiert im Intervall, dass das cogito und das sum miteinander verbindet und

voneinander trennt. Aber dieses Intervall ist selbst von einer ganzen Dramaturgie, einer

Erfahrung des Denkens geschaffen, die das Feld des Sichtbaren, des Wahrnehmbaren

und des Denkbaren umwälzt. In derselben Weise habe ich stets gesagt, dass das Subjekt,

das durch ein Manifest konstruiert wird, das deklariert „Wir, die Arbeiter“, nicht der

Arbeiter oder die Gruppe von Arbeitern ist, die das Manifest schreibt. Es ist auch nicht

das Gesamt all derer, die mit ihren Händen für ein Gehalt arbeiten. Das Subjekt existiert

in der Abweichung zwischen dem Kollektiv der Aussage, das durch das „Wir“ bezeichnet

wird, und dem Referenz-Kollektiv, das „Arbeiter“ genannt wird. Diese Abweichung

schafft ein Arbeiter-Subjekt, indem es es von der Arbeiterklasse als soziologischer

Realität trennt. Wie ich eben schon gesagt habe ist diese Trennung immer prekär. Es gibt

Subjekte, die nur durch diese besondere Aussage in besonderen Umständen existieren,

wie das „Wir“ in „Wir sind alle deutsche Juden“. Einige von ihnen verschwinden oder

werden im Gegenteil identitäre Körper.

 

TK: Zu Beginn dieses Interviews haben wir schon davon gesprochen, welche Bedeutung

die Ästhetik im weiten Sinne des Wortes für Ihre Arbeit hat. Seit Sie sich nun mit

ästhetischen Themen und Phänomenen im engeren Sinne des Wortes beschäftigen,

tauchen bei Ihnen Formulierungen auf wie „Poetik des Politischen“ oder Sie sprechen

von einer generellen „Literarizität der Politik“. Zwei Fragen in diesem Zusammenhang:

Auf der einen Seite könnte man darunter eine Art Ästhetisierung der Politik oder von

politischem Ästhetizismus vermuten. Scheint Ihnen diese Vermutung legitim? Und zum

anderen kann man sich, eingedenk der immensen Bedeutung, die die Ästhetik im engen

Sinne des Wortes während der letzten Jahre angenommen hat, fragen, ob die Künste für

Sie eine größere Bedeutung für das Projekt der Emanzipation haben als zum Beispiel die

politischen Institutionen oder aber die jüngst so viel besprochene „Zivilgesellschaft“.

Kurz: Würden Sie sagen, dass die Kunst heute der eigentliche Ort der Politik ist?

 

JR: Ob man es nun will oder nicht: Tatsache ist, dass die Politik erst durch eine

bestimmte Einteilung des Raumes und durch bestimmte Arten die Zeit zu skandieren

existiert. Sie ist aus Reden und Effekten dieser Reden gesponnen, aus Bildern, Gesten,

Haltungen, Konfigurationen und Verschiebungen. Natürlich gibt es die, die sagen, dass

dies alles nur das Spektakel ist, hinter dem man die Maschine der ökonomischen

Interessen erkennen muss. Aber das läuft darauf hinaus zu sagen: Es gibt keine Politik,

oder die Politik ist selbst nur eine ästhetische Parade. Auf gewisse Weise muss man sich

also nicht fragen, ob die Politik ästhetisch sein soll oder nicht, sondern wie, in welcher

Weise sie es ist: Ob sie es ist wie eine bemalte Leinwand, die das Triebwerk der

Maschine versteckt, oder wie eine wirkmächtige Szene, in der die Körper, die Worte, die

Haltungen Effekte produzieren. Was nun die Rolle anbelangt, die die Kunst spielt, so

muss man sie in Bezug auf die Art und Weise betrachten, in der diese Ästhetik des

Politischen aufgefasst wird. Sie kann die Rolle der Begleitung, der Verschiebung oder

des Korrektivs spielen. Was heute geschieht, erinnert an das Prinzip der

kommunizierenden Vasen: Was von der offiziellen Szene verschwindet, in denen die

Politik in ein Management der Ströme der Reichtümer und der Bevölkerungen überführt

wird und in den intellektuellen Diskurs, der uns die Welt als vollständig immateriell

vorstellt und als eine kleinbürgerliche Gesellschaft, die auf die ganze Welt ausgedehnt

wurde, kommt auf den der Kunst eigenen Orten wieder zur Erscheinung, bereit, diese

manchmal in Auslagen eines Trödlers oder Kuriositätenkabinetts zu verwandeln. Der

zentrale Pavillon der letzten Biennale ist in dieser Hinsicht sprechend. Alles geschah als

ob der Leiter der Biennale und die Künstler, die er ausgewählt hat, darauf aus waren, in

die Ordnung des Sichtbaren und des Hörbaren das zurück zu holen, was die

Entscheidungen der Herrschenden und des intellektuellen Diskurses, die sie begleiten,

verschwinden gemacht haben: Jeremy Deller hat Juke-Boxen aufgestellt, aus denen der

Krach der Fabriken erklang, den die Auslagerung verschwinden gemacht hat,

Schauspieler lasen das gesamte Kapital von Marx, Rikrit Tiravanija hat ein Zimmer mit

Vielzahl von Zeichnungen tapeziert, die Demonstrationen rund um die Welt dargestellt

haben, die unsere Fernseher vergessen haben usw. Dieses Prinzip der

kommunizierenden Vasen ist umso bedeutender, als die Kunst, um eine verlorene

soziale und industrielle Welt in Erinnerung zu rufen, Orte verwendet, die die Industrie

verlassen hat. Ich würde keinesfalls sagen, dass die Kunst heute der der Politik eigene

Ort ist. Eher ist sie ein Ort, der vom Verschwinden der sinnlichen Formen der Politik

zeugt: Die Objekte und die Einsätze der Politik zeigen sich heute eher an den Orten der

Kunst als in den Debatten, die behaupten, politisch zu sein. Aber das tun sie in einem

Raum, der nicht der der kollektiven politischen Entscheidung ist. Die Kunst tendiert

heute dazu, der Ort der Erinnerung der Politik zu sein, vielleicht auch ihrer Nostalgie.

 

TK: Zum Schluss erlauben Sie mir noch eine Frage, mit der wir auf gewisse Weise auf

den Anfang unseres Gesprächs zurück kommen: zum Versuch einer theoretischen

Verortung ihres Denkens. Michel Foucault, der zweifellos von einiger Bedeutung für Ihre

Arbeit war, hat in einem berühmten Interview mit Ducio Trombadori im Jahr 1980

bedauert, dass er erst sehr spät die Schriften der Autoren der Frankfurter Schule (es

ging dabei um die erste Generation) entdeckt hat, weil er darin doch viele Ideen hat

finden können, die für sein eigenes Denken von großem Wert waren. Wie steht es um

Sie? Sehen Sie Parallelen zwischen Ihrer Arbeit und der Adornos oder Benjamins?

Haben oder hatten diese Autoren eine besondere Bedeutung für Sie? Natürlich findet

man bei Ihnen nicht den erbarmungslosen Negativismus eines Adorno, ebenso wenig

wie den umgekehrten Messianismus eines Benjamin. Und doch scheint mir, dass zum

Beispiel die Bedeutung, die für beide die Kunst, oder, allgemeiner, die Inszenierung auch

philosophischer oder politischer Inhalte hatte, es erlaubt, eine gewisse Nähe zwischen

Ihrem Denken und dem der genannten Autoren zu entdecken. Dasselbe gilt für die Idee

eines Denkens „in Konstellationen“ (die ja immer „Szenen“ schaffen, die plötzlich

aufscheinen und einen „Chok“ produzieren) einer Philosophie, die, nach dem berühmten

Wort Adornos, „Philosophie im Handgemenge“ ist (und sein soll), d. h. eng mit der

politischen und kulturellen Situation verquickt, in der sie entsteht und in Bezug auf die

sie sich als eine theoretische Praxis versteht, d. h. als ein Instrument der Emanzipation.

Kurz: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur ersten Generation der Frankfurter Schule

definieren?

 

JR: Tatsächlich wurden die Texte der Frankfurter Schule erst sehr spät übersetzt und in

Frankreich bekannt, und dadurch mussten die, die versucht haben den Zusammenhang

von Philosophie, Politik, Kunst und Alltag zu denken sich andere Waffen mit Bordmitteln

schaffen. Das bestimmt ein Gefühl von Nähe in der Distanz. Es gibt eine Art, Philosophie

zu betreiben, eine historische Form zu denken im Durchgang durch eine Architektur

oder eine Szene des täglichen Lebens, oder auch die Macht der Emanzipation in

Kunstwerken zu finden, in denen ich Betrachtungsweisen und Untersuchungsformen

wiedererkenne, die den meinen ähnlich sind. Aber ich habe sie zu spät kennen gelernt,

als das sie mich hätten inspirieren können. In einem gewissen Sinn war das sogar ein

Vorteil: Das hat mir erlaubt, Reflexionen etwa über die Paradoxe der Moderne

anzustellen, die nicht im Voraus von den Kategorien und Analysen Benjamins belastet

waren, die so viele mechanisch wiederholt haben und die sie mit Gewalt Objekten

anzupassen versucht haben, die sich ihnen sperrten. Zudem hat mir diese Verspätung

erlaubt, die Frankfurter Texte als einen Anhaltspunkt zu gebrauchen, um besser – und

bisweilen in Abweichung von ihnen – zu bestimmen, was ich zu machen versucht habe

mit Werkzeugen, die ich mir zusammengebastelt hatte. Die Auseinandersetzung mit

Benjamins Texten über die Photographie und das Kino hat mir zum Beispiel erlaubt,

eine kritische Distanz zu den Analysen aufzubauen, die ästhetische Transformationen

von technischen abgeleitet haben. Die Begegnung mit Adorno war in verschiedenen

Momenten entscheidend: Zuerst habe ich in ihm einen Verbündeten gesehen, um das

ästhetische Versprechen und sein Potential für die Emanzipation zu begreifen, vor allem

im Treffen auf Bourdieus soziologische Vision, die die ästhetische „Unterscheidung“ an

den Pranger gestellt hat. Dann habe in ihm eher eine Zeugen der Widersprüche des

Begriffs des Undarstellbaren gesehen, als ich die seltsame Verbindung

Kant/Adorno/Lyotard analysiert habe, die zu einer „Ästhetik des Erhabenen“ geführt

hat. Natürlich gibt es auch all die reaktionären Interpretationen des Erbes Adornos – all

die Plattitüden über die „Kulturindustrie“, die Klagen über das Unrecht, die die

„Massenkultur“ der großen Kunst angetan hat – die gewichtet sein wollen. Aber diese

Philosophen waren eben zugleich auch Schriftsteller, deren Texte das konsensuelle

Universum perforiert haben, was einen einfach glücklich machen, Befreiungsgefühle

produzieren kann, jenseits jeder Idee von Theorie, die es zu beurteilen oder

anzuwenden gilt. Für mich formen Texte eher Welten, in denen man leben kann, als

Werkzeuge, die es anzuwenden gilt