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FORSCHUNG

Platon: Die Rekonstruktion von Platons Idee durch A. Schmitt

PLATON

Was heißt bei Platon „Idee“? – die Rekonstruktion von Arbogast Schmitt


Gemeinhin werden Empirismus und Rationalismus in einen scharfen Gegensatz zueinander gestellt. Platon gilt als Hauptvertreter eines besonders strengen Rationalismus. Ihm wird die Ansicht zugeschrieben, das menschliche Denken habe seine eigentliche Basis in einer transzendenten Welt rein intelligibler Wesenheiten. Im Unterschied zum Empiriker, der sich auf Dinge beschränkt, die den Sinnen zugänglich sind, habe Platon Erkenntnis in einem Bereich gesucht, der alle Erfahrung übersteigt und der allein durch eine intellektuelle Schau erfasst werden könne.

Für Arbogast Schmitt ist dies, wie er in seinem Aufsatz

Schmitt, Arbogast: Platonismus und Empirismus, in: Schiemann / Mersch / Böhme (Hrsg.): Platon im nachmetaphysischen Zeitalter, 216 S., Ln., , 2006, € 54.90 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt

ausführt, eine Fehlinterpretation – auch wenn sie in die Lehrbücher eingegangen ist. Denn Platon unterscheidet nicht einfach zwischen empirischen Dingen auf der einen und rationalen Wesenheiten auf der anderen Seite, sondern zeigt, dass eine sinnvolle Erkenntnis bei den Sinnen zugänglichen Dingen nur möglich ist, wenn man bei den Einzeldingen selbst einen Unterschied macht zwischen dem, was man an ihnen mit den Sinnen erfassen und was man nur mit dem Verstand begreifen kann. Das heißt: Es gibt bei Platon nicht die Differenz von blinder Anschauung und leerem Verstand, sondern zwischen wahrnehmbaren und begreifbaren Momenten in der Erkenntnis des Einzelnen selbst. Platon ist mit dieser Unterscheidung einen besonderen und eigenständigen Weg gegangen, der durch mancherlei ungünstige Umstände später in der Philosophiegeschichte verschüttet wurde.

Aristoteles hat Platons These, die Gegenstände der Wahrnehmung seien abstrakt, übernommen. Im ersten Kapitel seiner Physik führt er aus, die Wahrnehmung liefere eine abstrakte und konfuse Erkenntnis der Einzeldinge, erst die Ratio sei durch Differenzierungen in der Lage, ein konkretes, distinktes Wissen von den Einzeldingen zu gewinnen. Aristoteles sagt auch, die Wahrnehmung beziehe sich zwar auf ein konkretes Einzelding, sie selbst aber, d.h. der Erkenntnisinhalt der Wahrnehmung, sei allgemein.
Diese Feststellung widerlegt das verbreitete Vorurteil, erst die Moderne sei zu der Einsicht gekommen, dass uns die Dinge immer nur so zugänglich sind, wie sie uns erscheinen. Aristoteles macht aber zugleich deutlich, dass es gar nicht möglich ist, Begriffe durch Abstraktion von Einzeldingen zu bilden. Wir haben, wie er sagt, ja nicht den Stein in der Seele. Wenn wir Abstraktionen von etwas bilden wollen, dann kann das nur eine Abstraktion von einem schon vorhandenen Wissen sein – und das ist bei der ersten Wahrnehmung konkreter Dinge eben selbst noch abstrakt und konfus – , eine Abstraktion von Einzeldingen gibt es überhaupt nicht; wer so redet, unterscheidet nach Aristoteles nicht zwischen dem konkreten Sein der Dinge und seiner Kenntnis von ihnen.

Für eine genauere Begründung der Abstraktheit und der Konfusion der Wahrnehmung muss man aber nach Schmitt auf Platon zurückgreifen, der in vielen Analysen zuerst diese Eigentümlichkeit einer Erkenntnis, die sich auf Wahrnehmungen stützt, aufgewiesen hat. Platon zeigt in vielen Dialogen, dass die Wahrnehmung und der Sprachgebrauch die Tendenz haben, etwas Einzelnes unmittelbar als etwas Allgemeines aufzufassen, und er zeigt dies vor allem an den Widersprüchen, in die man durch diese Tendenz gerät.

Der empirisch Beobachtende stützt sich auf die (vermeintlich) direkte Beobachtung der Gegenstände, weil er überzeugt ist, auf diese Weise noch unverformt erfassen zu können, was etwas ist: Gegenstände wie Bäume oder Menschen, oder auch deren Eigenschaften: schön, gerecht, oder der Relationen, in denen sie stehen: gleich, groß, usw. Bei jedem Erkenntnisakt macht man also die Voraussetzung, dass etwas nur erkannt werden kann, sofern es auch genau und nur ein bestimmtes Etwas ist. Diese Voraussetzung ist nicht aus der Erfahrung abgeleitet, man bringt sie vielmehr, wie es Aristoteles formuliert hat, bei jeder Erkenntnis schon mit, und sie wird auch nicht durch Erfahrung kontrolliert, sondern wir kontrollieren an ihr unsere Erfahrungen.

Stellt man die Frage, ob etwas „etwas“ ist, in diesem platonischen Sinne und verwechselt sie nicht mit der Frage, ob etwas in empfindbarer Weise „existiert“, ergibt sich eine ungewohnte Deutung des Verhältnisses vom Allgemeinen zum Einzelnen. Denn die verifizierende Prüfung, ob dieser mit den Sinnen wahrnehmbarer Gegenstand tatsächlich ein Kreis ist, muss dann so verlaufen, dass man prüft, ob und in welchem Ausmaß diese mit den Sehsinn wahrnehmbare Form den Bedingungen des Kreisseins genügt, d. h. ob diese Form so ist, dass ihre Peripherie von allen Punkten aus denselben Abstand zu einem vorstellbaren oder sichtbaren Zentrum einhält. Dass aber bestimmte Einheiten zu einer anderen Einheit immer dieselbe Differenz einhalten, ist weder eine konkrete Vorstellung noch ein symbolisiertes Schema, sondern ein mögliches Ordnungsprinzip, das als es selbst nur begriffen werden kann.

Daraus kann man eine erste, noch vorläufige Bestimmung dessen, was bei Platon „Idee“ heißt, ableiten. Die Idee als das, was das bestimmte Sein von etwas aussagt, ist für Platon kein idealer Gegenstand, kein perfekter Standard, der wie der Urmeter in Paris in unveränderlicher Festigkeit und Vollkommenheit selbst in genau dem Sinne ein Gegenstand ist wie diejenigen Gegenstände, die sich nach ihm ausrichten. „Idee“ ist vielmehr ein Inbegriff von Möglichkeiten, allerdings nicht von beliebigen fiktionalen Möglichkeiten, sondern von jeweils ganz bestimmten Möglichkeiten, die genau unterschieden und erkannt werden können. Ihr Sein besteht, wie Platon immer wieder betont hat, in ihrer Erkennbarkeit, d.h. unter dem Aspekt, dass sie präzise erkannt werden können, sind sie auch selbst etwas, Wirkliches, eben etwas wirklich Erkennbares, in dem Sinne, dass sich anderes nach diesen erkennbaren Bedingungen richten kann, sie aber etwas Mögliches sind, mögliche Vorgaben für Gestaltung und Ordnung.

Platons Begriff des Mentalen weicht grundlegend von den bekannten Begriffen des Denkens in der Moderne ab. Leitend für diese letzteren ist der Gedanke, dass Denken seine wesentliche Aufgabe in der mentalen Repräsentation der Wirklichkeit habe. Es ist aber nicht gelungen, eine grundlegende Einigkeit darüber zu erzielen, wie auf einer erfahrungslogischen oder sprachanalytischen Basis dieser logische Aufbau der Welt gelingen könnte. Betrachtet man nun diese Uneinigkeit aus der platonischen Perspektive, dann erscheint sie nach Schmitt als Resultat einer Konfusion, und zwar erstaunlicherweise genau der Konfusion, die viele Moderne Platon zuschreiben.

Die grundlegenden Erfahrungsformen – und dies ist die eigentliche Achillesferse fast jeder Form des Empirismus – sind immer wieder dem Metaphysikverdacht ausgesetzt. Auch ist von ihnen mitnichten klar, dass sie, wie Russell behauptet, „really entities“, d.h. wirkliche Dinge sind, oder wenigstens: wirkliche objektive Wiedergabe der Dinge, wie sie von sich aus sind, sondern auch sie sind subjektive Erlebnisformen und sind deshalb möglicherweise von den Akten, in denen das Denken seine Gegenstände bildet, überformt. Es gibt keine Sicherheit, dass sie wirklich präsemiotisch, jeder Reflexion vorhergehend sind, sondern auch bei ihnen muss man mit der Konstruktion subjektiver Welten rechnen, gleichgültig, ob man sich auf Wahrnehmungen, Eindrücke oder Empfindungen stützt. Weshalb, so fragt Schmitt, soll eine noch von keiner irgendwie gearteten Reflexion beeinflusste Erfahrung Grundlage und Garant einer objektiven Erfahrung der Welt sein, wie sie wirklich ist?

Für Platon ist etwas erkennbar, wenn es genau und nur ein bestimmtes Etwas ist. Dieses „genau eine Sache sein“ bezeichnet Platon auch als eine „einfache Sache sein“ – einfach im Gegensatz zum Komplexen und Zusammengesetzten. Die Suche nach einer solchen „einfachen Sache“, die ohne Zusätze und Zutaten genau und eindeutig sie selbst ist, ist aber ohne Frage nicht nur für rationalistische Ansätze, sondern auch für Empiriker wie Locke oder Hume charakteristisch. Sie lokalisieren aber das Problem allein in der Schwierigkeit, sich beim Erkennen aller Subjektivität zu entledigen. Die Frage, ob das methodische Ziel, das in der Erkenntnissicherung durch eine unverfälscht direkte Erfahrung erreicht werden soll, überhaupt für die angestrebte möglichst sachgetreue Erkenntnis relevant ist, wird nicht gestellt.

Wenn man meint, man könne aus einer direkten Bekanntschaft mit den Sinnendingen kennen lernen, was diese Dinge sind, überlastet man die Wahrnehmung, und zwar mit einer eigenen begrifflichen Leistung. Die Sinne müssten dann nicht nur zu erkennen geben, was sie erkennen können, Farben, Töne, Geräusche usw., sie müssten auch das einfache Band liefern, wie diese Sinnesmerkmale in einen Gegenstand zusammengehören, sie müssen zugleich ein Auswahlkriterium liefern – was am schwarzen Schnee gehört zum Schnee, was zum Staub? Diese Überforderung der Wahrnehmung ist typisch für das common sense-Denken und für den gewöhnlichen Sprachgebrauch. Man sagt: „ich sehe einen Kreis“ und nicht: „ich erkenne an der Erfüllung bestimmter Begriffsbedingungen, dass diese Kreide hier die Form eines Kreises hat“.

Schmitt sieht in dieser Überforderung der möglichen Leistung der Wahrnehmung eine der wesentlichen Ursachen, weshalb es eine so breite Tradition gibt, die nicht nur die mögliche Objektivität des Denkens, sondern auch der Wahrnehmung und anderer, noch direkterer Formen der Erfahrung in Frage stellt. Wenn wir immer wieder hören, dass es auch in der Wahrnehmung keinen unverfälschten Kontakt zur Wirklichkeit geben könne, so könnte durchaus der Eindruck entstehen, die alte platonisch-aristotelische Kritik an der Konfusion der Gegenstandswahrnehmung werde hier in reflektierterer Form fortgesetzt.
Platon teilt zwar mit den Repräsentationsmodellen die Überzeugung, dass das Denken nur dann erfolgreich ist, wenn das, was es denkt, wirklich etwas ist. Er nimmt aber nicht unreflektiert die Wirklichkeit äußerer Dinge zum Kriterium, sondern bleibt konsequent in der Dimension des Denkens selber und kommt dadurch zu einem erheblich grundlegenderen Begriff des Denkens. Auch wenn die mentale Repräsentation eine zentrale Aufgabe des Denkens wäre, könnte eine Repräsentation ja niemals äußere Dinge zum Inhalt haben, sondern nur das, was wir durch eine der Repräsentation vorhergehende Erkenntnisform, z.B. durch Wahrnehmung, von ihnen erkannt haben. Wenn eine Repräsentation aber darin ihr Wahrheitskriterium hat, dass sie keine Chimäre bildet, sondern etwas, das wirklich etwas, etwas widerspruchsfrei Mögliches ist, wiedergibt oder rekonstruiert, dann ist der ihr vorausgehende Erkenntnisakt notwendigerweise gerade die Erfassung von etwas, und der Grundakt des Denkens ist, wie Platon sagt, das Unterscheiden. Wäre Denken Vorstellung oder Vergegenwärtigung, könnte man, wie Kant sagt, Denken was man will. Nur was irgendwie etwas ist, kann man für sich erfassen und gegen anderes abgrenzen. Das Denken hat sein Maß daher nach Platon an der Bestimmtheit von etwas, das es erkennen will, d.h. an der Forderung, dass die gesuchte Sache etwas sein muss, was in sich selbst nicht widersprüchlich, was nicht zugleich F und nicht F ist. Da dieses erkennbare Etwassein für Platon ein inneres Maß des Denkens und keine Vorgabe durch die Dinge ist, können die Kriterien, an denen erkannt, ob etwas Seiendes oder genauer ein Etwas-Seiendes ist, nur aus dem Denken selbst gewonnen werden.