01 2019
Michael Hampe: | |
aus: Heft 1/2019, S. 8-21 Manchmal leiden Menschen an Widersprüchen. So mag jemand einem Beruf nachgehen, in dem er oder sie vor allem danach zu streben hat, Geld unabhängig von einem konkreten Nutzen zu vermehren, etwa in der Finanzwirtschaft. Die Person interessiert sich jedoch nicht für Geld, möchte lieber einen Roman schreiben oder Bilder malen. Sie sieht dann, dass das, was sie tut, in einem Widerspruch zu dem steht, was sie sich unter ihrem Leben als einem guten vorgestellt hat. Menschen können aber auch daran leiden, dass etwas nicht gesagt wurde, was in ihren Augen öffentlich festgestellt werden sollte. Vielleicht sind Verwandte von ihnen verschwunden oder umgekommen, doch es ist nie darüber gesprochen, nie ein öffentliches Verfahren eröffnet worden. Die Menschen sind vielleicht überzeugt, dass nach vielen Jahren, seit sie ihre Angehörigen verloren haben, diese nicht mehr zurück zu bringen sein werden. Trotzdem möchten sie, dass die Tatsache des Verschwindens öffentlich wird, dass „Wahrheitskommissionen" eingerichtet werden. In diesem Zusammenhang wird seit 1987 in internationalen Gremien wie der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und den Vereinten Nationen von einem „Recht auf Wahrheit" als einem Menschenrecht gesprochen. Menschen können auch darunter leiden, dass das Gegenteil von dem behauptet wird, was der Fall ist. So leidet beispielsweise Ivan Iljitsch in der nach ihm benannten Erzählung von Leo Tolstoi nicht nur, weil ihm in Kürze der Tod bevorsteht, sondern auch, weil seine Angehörigen leugnen, dass er grade stirbt und ihn stattdessen so behandeln, wie einen „normalen Kranken", der wieder genesen wird. Man kann das Leiden an Unwahrheiten, das in diesen drei Beispielen angesprochen wird, mit klassischen philosophischen Konzeptionen der Wahrheit in Zusammenhang bringen: ● mit der Kohärenztheorie der Wahrheit, die unter anderem (nicht nur) die Vermeidung von Widersprüchen als ein Wahrheitskriterium benennt - Im ersten Fall einer Person, deren tatsächliches Leben dem, was sie sich unter ihrem Leben vorstellt, widerspricht; ● mit der apophantischen Wahrheitstheorie, die Wahrheit als das Geschehen des Offen-zu-Tage-Tretens begreifen will – im zweiten Beispiel der Menschen, die eine ihnen und ihren Angehörigen widerfahrene Grausamkeit öffentlich gemacht sehen wollen und ● mit der Korrespondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit, die eine Übereinstimmung zwischen dem, was der Fall ist und der Art wie wir es repräsentieren - thematisiert bei Ivan Iljitsch. Philosophen mögen sagen, dass die Zusammenhänge zwischen ihren Theorien und diesen Beispielen rein äußerlich sind. Denn den philosophischen Wahrheitstheorien gehe es ja vor allem um die wissenschaftlichen Wahrheiten, die sich in Aussagezusammenhängen ausdrücken, die widerspruchsfrei, die Wahrheit offenbarend oder den Tatsachen entsprechend sein sollten. In diesen Beispielen habe man es jedoch gar nicht damit zu tun, sondern mit Wahrheit in einem existentiellen Sinne, wie dem „wahren Leben". ... |
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