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Benussi: Psychologische Schriften

Vittorio Benussi: Psychologische Schriften

 

Der Triestiner Vittorio Benussi (1878-1927) hatte bei Alexius Meinong in Graz Philosophie studiert. Die meiste Zeit verbrachte er jedoch nicht im Philosophischen Seminar, sondern im Psychologischen Laboratorium, das Meinong als erste experimentalpsychologische Einrichtung innerhalb der Donaumonarchie im Jahre 1894 gegründet hatte. Benussi trat bald in den Kreis der engsten Schüler um Meinong ein und wurde zu      einem seiner aktivsten und engagiertesten Mitarbeiter. 1901 schloss er sein Studium mit der Arbeit Über die Zöllnersche Figur. Eine experimental-psychologische Untersuchung ab, wonach ihm Meinong die Funktion eines zweiten Assistenten am Psychologischen Labor übertrug. Nach und nach übernahm Benussi die Leitung des Labors; da das damit verbundene Entgelt keine ausreichende finanzielle Grundlage darstellte, übernahm er eine Teilzeitarbeit an der Universitätsbibliothek. Den Rest des Tages – und oft auch die Nacht – verbrachte er im Laboratorium.

 

1905 habilitierte er sich mit der Arbeit Zur Psychologie des Gestalterfassens. Er wurde nun langsam in internationalen Fachkreisen bekannt, doch um 1912 setzten sich neue Forschungsansätze durch, die seine Arbeiten in Frage stellten. Benussi geriet in den Schatten der Berliner Schule für Gestaltpsychologie – was mit darauf zurückzuführen ist, dass er stets isoliert arbeitete und außerdem seit 1918 in Italien, das am Rande der internationalen psychologischen Forschung lag. Dies, sowie die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und im Krieg die heikle Lage in „Feindesland“, lösten schwere Depressionen aus. Erst 1919 erhielt Benussi einen Ruf und zwar an den neu gegründeten Lehrstuhl für Experimentalpsychologie in Padua. Hier schlug er eine neue Forschungsrichtung ein und begann Suggestion und Hypnose als „Mittel psychischer Realanalyse“ zu verwenden. 1917, kaum neunundvierzig Jahre alt, nahm sich Benussi das Leben. Seine     Pionierleistungen auf dem Gebiet der experimentellen Gestaltpsychologie gerieten  bald in Vergessenheit, so dass sein Werk bis heute weitgehend unbekannt geblieben ist.

 

Mauro Antonelli legt nun Benussis wichtig­ste deutschsprachige psychologische Schriften in einer zweibändigen Werkausgabe im Rahmen der „Studien zur österreichischen Philosophie“  vor:

 

Benussi, Vittorio: Psychologische Schriften. Textkritische Ausgabe in zwei Bänden.

Band 1: Psychologische Aufsätze (1904 – 1914). Lii, 435 S., Ln., € 100.--

Band 2: Psychologie der Zeitauffassung (1913), XXIV,  435 S., 2002, € 93.--, Editions Rodopi, Amsterdam.

 

Die Beiträge des ersten Bandes dokumentieren die Entwicklung von Benussis Werk: seine ursprüngliche Verankerung in der   Theoriebildung der Grazer Schule und seine allmählich wachsende Selbständigkeit und Originalität. Die Motivation der Arbeiten schöpft aus den Gedanken Meinongs über die „Gegenstände höherer Ordnung“ und der damit verbundenen Theorie der Vorstellungsproduktion. Danach gehören Gegen­stände der niederen Ordnung (z. B. einzelne Töne) nicht der gleichen ontologischen Ordnung an wie Gegenstände der höheren Ordnung (z. B. Melodien). Gegenstände höherer Ordnung, d. h. Relationen und Komplexionen, sind keine wirklichen Gegenstände, denn sie haben keine Existenz. Dies macht ihre Wahrnehmung unmöglich. Ihre Erkenntnis ist auf eine intellektuelle Leistung zurückzuführen, die „Vorstellungsproduk­tion“ genannt wird. Es werden jedoch nicht die Relationen und Komplexionen selbst produziert, sondern deren Vorstellung; nicht die Gestalt, sondern die Gestaltvorstellung.

 

Benussi hat in empirisch-experimenteller Hinsicht wesentlich zur Ausarbeitung dieser Theorie beigetragen. Alle (bis auf eine Ausnahme) am psychologischen Laboratorium in Graz verfassten und in diesem Buch reproduzierten Arbeiten sind der Wahrnehmungspsychologie gewidmet. Sie betreffen nahezu ausschließlich die Gestaltwahrnehmung. Benussi untersucht die Raum-, Zeit- und Bewegungswahrnehmung sowohl auf visueller, akustischer wie auch taktiler Basis. Dabei konzentriert sich seine Aufmerksamkeit anfangs auf die Fälle „inadäquater Gestalt­auffassung“, d.h. auf jene Fälle, in denen die Wahrnehmungsleistung mit der objektiven Sachlage nicht übereinstimmt bzw. nicht mit der sog. Wirklichkeit korrespondiert, also den geometrisch-optischen Täuschungen – wobei Benussi den Ausdruck „Täuschung“ entschieden zurückweist und ihn durch „Vor­stellungsinadäquatheit“ ersetzt.  

 

Die Arbeit Psychologie der Zeitauffassung von 1913, abgedruckt in Band 2, stellt eine Summe der bisherigen Arbeiten Benussis im psychologischen Labor dar. Ausgehend von der These der außersinnlichen Provenienz der Gestaltwahrnehmung überträgt Benussi die in früheren Forschungen erlangten Ergebnisse über räumliche Gestaltkomplexe, über Täuschungen und Inadäquatheiten in der Wahrnehmung, über Scheinbewegungen und Vergleichspsychologie auf die Zeitebene und kommt zum Schluss, dass die Zeitvorstellung, wie andere Gestaltvorstellungen auch, eine Vorstellung außersinnlicher Provenienz ist.