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EDITIONEN

Luhmann, Niklas

 

NIKLAS LUHMANN

 

Mit dem Erscheinen des unwiderruflich letzten Bandes aus Niklas Luhmanns Nachlass, mit dem Titel Das Erziehungssystem der Gesellschaft, liegt seine Gesellschaftstheorie nun vollständig vor:

 

Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft, 9 Bände in Kassette, 5100 Seiten, € 128, Suhrkamp, Frankfurt.

 

Nach seinem Tod am 6. November 1998 erschien jeweils ein Band über das Politiksystem, über das Religionssystem und zuletzt über das Erziehungssystem der Gesellschaft. Außerdem erschien postum der Band Organisation und Entscheidung, der aber nicht zum Kanon der Luhmannschen Gesellschaftstheorie gehört.

 

Bei seiner Antrittsvorlesung in Bielefeld hatte Luhmann 1967 angekündigt, dass sein Forschungsprojekt eine Theorie der Gesellschaft sein werde. Er wolle sie in 30 Jahren fertiggestellt haben. Nachfolgend hat Luhmann die wichtigsten gesellschaftlichen Subsysteme erforscht und in einzelnen Büchern dargestellt. 1984 erschien die „Einleitung“, fast 700 Seiten stark, mit dem Titel Soziale Systeme. Seinerzeit sagte Luhmann, dass alles, was er zuvor geschrieben habe, als „Nullserie“ zu betrachten sei. Im Anschluss erschienen die einzelnen Kapitel als Darstellungen der gesellschaftlichen Subsysteme in folgender Reihenfolge: Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990), Das Recht der Gesellschaft (1993), Die Kunst der Gesellschaft (1995), Die Politik der Gesellschaft (postum 2000), Die Religion der Gesellschaft (postum 2000), Das Erziehungssystem der Gesellschaft (postum 2002).

 

Etwa zweieinhalb Jahre vor seinem Tod bemerkte Niklas Luhmann die zunehmende zerstörerische Kraft einer heimtückischen Krebskrankheit, die von seinem Körper Besitz ergriff. Darum entschied er sich, die fast fertigen Manuskripte der Bücher, die nun postum erschienen sind, nicht weiter zu bearbeiten. Sein ursprünglicher Plan war es, die Bände, die die einzelnen Subsysteme der Gesellschaft zum Inhalt hatten, zuerst zu veröffentlichen und als letzten Baustein Die Gesellschaft der Gesellschaft zu publizieren, worin er zeigen wollte, wie die einzelnen Subsysteme zusammenwirkten und so die moderne Gesellschaft insgesamt ausmachen. 1996 merkte er, dass er nicht mehr die Zeit hatte, sein Lebenswerk in Gänze zu vollenden. So entschied er sich, den Band Die Gesellschaft der Gesellschaft mit den letzten ihm zur Verfügung stehenden Kräften publikationsreif zu machen. Dieses Buch erschien 1997 und Luhmann konnte es noch in Händen halten. Damit erfüllte er pünktlich sein Versprechen, dass die Gesellschaftstheorie in 30 Jahren fertig sei.

 

Luhmanns Lehrer war Talcott Parsons, der der Nachwelt sein Werk als eine gigantische Ruine genialer Geistesproduktion hinterlassen hatte, in der man sich wie in einem Labyrinth verirren und stecken bleiben kann. Luhmann wollte – Parsons als warnendes Beispiel vor Augen – ein systematisch gegliedertes und somit übersichtliches und zugängliches Werk hinterlassen. Das war das Motiv für seine Anstrengung zweieinhalb Jahre vor seinem Tod.

 

Warum die Darstellung der Gesellschaft in einzelnen Systemen? Zum einen, weil die gegenwärtige Gesellschaft so komplex ist, dass sie als ganze für den Sozialwissenschaftler unüberschaubar ist. Dazu ein Wort aus seiner schon erwähnten Antrittsvorlesung: „Die Welt ist äußerst komplex, die aktuelle Aufmerksamkeitsspanne intentionalen Erlebens und Handelns demgegenüber sehr gering.“ Außerdem gibt es keine Hierarchie der Systeme, so dass eines besonders wichtig sei und deshalb vorrangig untersucht werden müsste.

 

In der Politik der Gesellschaft sagt Luhmann, man müsse mit realistischem Blick sehen, dass die Politik heute nicht mehr die Steuerung und Leitung einer Gesellschaft übernehmen könne, wovon man einstmals in der corpus-Metapher von der Politik als Kopf der Gesellschaft ausging. Die moderne Gesellschaft bestehe aus nebeneinanderliegenden Systemen, wie das Wirtschaftssystem, das Rechtssystem, das Gesundheitssystem, das politisches System, das Bildungssystem und viele mehr, von denen keines Vorrang habe, auch die Politik nicht. Alle seien geschlossene Systeme, die sich selbst erhalten und sich strikt von den anderen abgrenzten.

 

Wenn wir es in der Gesellschaft mit voneinander unabhängigen und nebeneinander liegenden Systemen zu tun haben, stellt sich die Frage, wie sie miteinander verbunden sind und aufeinander reagieren, denn, sagt Luhmann, „würde man die moderne Gesellschaft lediglich als eine Menge von autonomen Funktionssystemen beschreiben, die einander keine Rücksicht schuldeten, wäre schwer zu verstehen, wieso diese Gesellschaft nicht binnen kurzem explodiert oder in sich zerfällt“. Die Verbindung der einzelnen Systeme stellt Luhmann in seinem Abschlusswerk Die Gesellschaft der Gesellschaft dar.

 

Religion ist für Luhmann ein soziales Funktionssystem neben anderen. Das Religionssystem der Gesellschaft ist orientiert an dem binären Code Immanenz und Transzendenz oder Diesseits und Jenseits. Alles Immanente kann auf Transzendentes bezogen werden. Man kann auch sagen, dass Religion genau auf der Grenzlinie zwischen Leben und Tod entsteht. – Keine Kommunikation funktioniert ohne Sinn. Sinn wählt aus den unendlich vielen Möglichkeiten dessen, was kommunizierbar ist, das aus, was sich an den speziellen Kommunikationsstrom anschließen lässt. Sinn hat nach Luhmann drei Dimensionen. In der religiösen Kommunikation wird in der Sozialdimension die Begegnung mit Gott gesucht und gefunden. In der Zeitdimension des Sinns liegt die geschichtliche Einmaligkeit der Offenbarung. In der Sachdimension finden wir in Analogie zur Codierung den Zusammenhang von Einheit und Komplexität, Gott und Welt, Religion und Kosmologie. Wie wird nun die Kommunikation in Gang gehalten? So wie in allen sozialen Systemen, durch ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. Dieses sei in der religiösen Kommunikation die Sünde. Sünde verbindet Diesseits und Jenseits. Man sündigt im Diesseits und wird im Jenseits bestraft. Dieses Kommunikationsmedium hat den Vorteil, dass es Gott, Gnade und Seele mit einschließt. Denn man kann sich nicht aus eigener Kraft erlösen. Man braucht dazu die Gnade Gottes. Die Seele verbindet Diesseits und Jenseits.

 

Wie alle anderen sozialen System hat auch das Religionssystem die Funktion, die Gesamtgesellschaft zu erhalten. Es mag sein, dass die Religion für die einzelnen Menschen viele Funktionen erfüllt, z.B. kann Religion Trost spenden, Ängste besänftigen, Sinnfragen plausibel beantworten, Gemeinschaft in kultischen Handlungen herstellen oder den Glauben bestätigen. Religion hat nach Luhmann bezogen auf die Gesellschaft als ganze aber nur eine Funktion. In der funktional differenzierten Gesellschaft ist diese die Erlösung von der Gesellschaft; heute bei uns – im Gegensatz zu religiös homogenen Gesellschaften – in einer Weise, dass individuell entschieden werden kann, in welcher Religionsgemeinschaft das zu geschehen hat. Und Luhmann konstatiert in seiner unnachahmlichen Lakonik, dass die Gesellschaft arm dran wäre, wenn es diese Funktion nicht mehr gäbe.

 

Im Erziehungssystem der Gesellschaft zeigt Luhmann, dass die Erziehung die gesellschaftliche Funktion habe, die „Neuankömmlinge in der Gesellschaft zu denaturieren“. Die Erziehung müsse die Interaktionsregeln vermitteln, die es möglich machten, dass Menschen gesellschaftsfähig werden. Welche Schwierigkeiten es bei dieser Vermittlungsarbeit im Unterricht gibt, hatte Luhmann zu Lebzeiten bereits in vielen Publikationen dargestellt. Diese Schwierigkeiten werden in dem neuen Buch nicht verschwiegen. Doch ist der Schwerpunkt hier, zeigen zu wollen, dass innerhalb von Organisationen die Erziehung problemloser stattfinden kann als in anderer Weise. Ein Thema auch seines postum erschienenen Buchs Organisation und Entscheidung. In Organisationen „braucht der Lehrer nicht auf den Fluren umherzuirren und zu versuchen, irgendwo mit seinen Ideen akzeptiert zu werden“. Erziehung findet im Unterricht statt, der zu einer bestimmten Zeit für eine bestimmte Klasse erfolgt. Gut durchorganisierte Systeme halten höhere Komplexität aus. Sie gestatten es, durch Erhöhung der Komplexität die Komplexität zu reduzieren. Gesellschaftliche Aufgaben und deren Erfüllung werden Organisationen zugewiesen. Dadurch werden soziale Systeme übersichtlicher. Das Erziehungssystem verkraftet mit der Durchorganisierung eine größere Vielfalt von differenzierten Erziehungsmaßnahmen. Die Verantwortung dafür tragen einzelne Organisationen im Erziehungssystem. Stundenpläne macht die Organisation Schule, Lehrpläne macht die Organisation Kultusministerium, Ausführungsvorschriften dazu macht die Organisation Bezirksregierung. Organisationen anderer Art ermöglichen ein weiteres differenziertes Erziehen, z.B. als Erwachsenenbildung oder als außerschulische Jugendbildung in Volkshochschulen, Heimvolkshochschulen, in Landerziehungsheimen oder Jugendfreizeiteinrichtungen.

Detlef Horster, Hannover