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EDITIONEN

Wind, Edgar

EDGAR WIND

 

Das Experiment und die Metaphysik

 

Edgar Wind habilitierte sich 1930 mit der Arbeit Das Experiment und die Metaphysik. Zur Auswanderung gezwungen, konnte er die Endredaktion nur in Hast besorgen. Als das Buch schließlich im Frühjahr 1934 erschien, erging es ihm wie den Werken vieler Emigranten: es wurde totgeschwiegen und geriet alsbald in Vergessenheit. In dem kurz vor der Auswanderung geschriebenen Vorwort polemisiert Wind scharf gegen diejenigen „hervorragendsten Vertreter“ des neukantianischen „Idealismus“, die sich philosophisch mit den neuen Machthabern arrangierten. Wind selber wandte sich nach der Emigration kunsthistorischen und –theoreti­schen Themen zu. Das Experiment und die Metaphysik blieb seine einzige Arbeit zur Philosophie der Physik. Dies hat sicherlich mit dazu beigetragen, dass sie in Vergessenheit geriet.

Wie Brigitte Falkenberg in ihrem Vorwort zur Neuausgabe ausführt, ist es einzigartig, dass jemand, der eine Dissertation zur Methodologie der Kunstgeschichte verfasst und später zum bedeutenden Kunsthistoriker und         -theoretiker wurde, seine Habilitationsschrift den Problemen der modernen Physik widmet.

 

Unter dem Einfluss des amerikanischen Pragmatismus entwickelt Wind hier seinen Begriff der symbolischen Repräsentation, der eine Schlüsselrolle in seinen späteren Schriften spielt. Seine Schrift nimmt die experimentell bewährten Inhalte der nicht-klas-sischen Physik zum Anstoß, sich kritisch mit Kants Antinomienlehre auseinanderzusetzen. Damit steht Wind quer zu allen Ansätzen, die im Laufe des letzten Jahrhunderts von der empirisch orientierten Wissenschaftsphilosophie oder von der Kant-Forschung verfolgt wurden. Die Bedeutung des Buches, so Falkenberg, liegt in der Vielfalt von Gesichtspunkten, die Wind entwickelt, und in dem philosophischen Mut, mit dem er sie zu einer einheitlichen, aber nicht einfachen Deutung der modernen Physik verknüpft.

Bernhard Buschendorf hat innerhalb der Reihe stw eine Neuausgabe des bemerkenswerten Textes vorgelegt:

 

Wind, Edgar: Das Experiment und die Metaphysik. Zur Auflösung kosmologischer Antinomien. 345 S., kt., stw 1478, 2001, Suhrkamp, Frankfurt

 

 Der Ausgabe liegt ein vom Autor mit wenigen Ergänzungen und Korrekturen versehenes Handexemplar zur Grunde. Hinzugefügt wurden sieben Anhänge, die hier zum Teil erstmals veröffentlicht, übersetzt oder neu herausgegeben werden.

 

Erster Teil: Theorie des Experiments

 

Obwohl die Stimmung in der Philosophie, Wind verweist dabei explizit auf Jaspers und Heidegger, eine andere Darstellungsform verlange, sei das Unzeitgemäße die beste Rechtfertigung für die Arbeit. Denn die verlorene Würde der Philosophie könne nur dadurch zurückgewonnen werden, dass man unerbittlich gegen den Geist der Stunde kämpfe, der an die Stelle der klärenden Analyse die grüblerische Deklamation setzt.

 

Alle Kenntnis physikalischer Gesetze gründet sich auf die Ergebnisse physikalischer Messung. Physikalische Messungen aber sind als physikalische Vorgänge den Gesetzen, die sie erschließen sollen, selbst unterworfen. Daher kann der Physiker die Exaktheit eines Experiments nicht anders prüfen und begründen, als dass er die Gesetze, die in ihm erprobt werden sollen, bereits als bekannt voraussetzt. Es war die Einsicht in den zirkelhaften Verlauf der physikalischen Urteilsbildung, welche Eddington erklären ließ, dass alle umfassenden physikalischen Gesetze nichts anderes als Tautologien zum Ausdruck bringen. Die in ihnen ausgesprochenen Erkenntnisse seien mit der Erkenntnis eines Buchhalters zu vergleichen, der plötzlich bemerkt, dass seine Bücher eine merkwürdige Gesetzmäßigkeit erkennen lassen, wonach die Summen der Debet- und Krediteintragungen sich stets als einander gleich erweisen.

 

An jeder mechanischen Messung lassen sich drei Momente unterscheiden:

¢ Die Voraussetzungen eines Systems von Axiomen und Lehrsätzen, welches die Maßbegriffe definiert und die Gesetze ihrer ideellen Verbindung darstellt.

 

¢ Die Wahl individueller Gegenstände, welche die Maßbegriffe in der Erfahrungswelt vertreten und dadurch als Messinstrument dienen.

 

¢ Die Anwendung dieser Messinstrumente auf die zu messenden Gegenstände.

 

Das dritte dieser Momente, der Akt der Messung, ist nichts anderes als ein physikalisches Ereignis, dessen Ausgang sich rein empirisch beobachten lässt. Umgekehrt kann das erste Moment nur als Gegenstand rein axiomatischen Denkens erfasst werden. Solange beide Momente unabhängig voneinander betrachtet werden, enthält keines von ihnen etwas methodisch Widersinniges. Problematisch wird die Beziehung in dem Augenblick, da wir zwischen den beiden eine Beziehung herstellen, die es uns erlaubt, physikalische Objekte als Messinstrumente anzusehen. Denn die Wahl des Instrumentes ist weder logisch durch reines Denken begründbar, noch ist sie empirisch in dem Sinne motiviert, dass sie sich aus reiner Beobachtung ableiten ließe. Wir können einen physikalischen Körper nicht anders zum Messinstrument machen, als durch die Antizipation der Gesetze, durch die sein physikalisches Verhalten beherrscht wird. Aber wie können wir einer solchen Antizipation trauen? Gibt es eine Methode, durch die sich entscheiden lässt, ob ein gegebenes physikalisches Objekt, das wir zum Instrument bestimmt haben, die von uns als sinnvoll konzipierten geo

metrischen Begriffe adäquat zur Darstellung bringt?

 

Die erste dieser Fragen hat Einstein in seinem Vortrag „Geometrie und Erfahrung“ beantwortet. Danach birgt das Prinzip der Identität vom physikalischen Gesichtspunkt aus die Annahme konstanter raum-zeitlicher Entsprechungen in sich.

Ein Messkörper „hier und jetzt“ ist nicht identisch mit einem Messkörper „da und dann“. Werden beide nichtsdestotrotz als Vertreter ein und desselben Maßbegriffes betrachtet, so liegt der Grund dafür hierfür, dass sie aufeinander gelegt werden können, dass ihre entsprechenden Punkte genau miteinander koinzidieren. Das setzt aber voraus, dass, wenn zwei Messkörper irgendwo und irgendwann zur Koinzidenz kommen, sie überall und immer zur Koinzidenz gebracht werden können. Das ist eine fast wörtliche Übersetzung des Prinzips der Identität in die Sprache der Physik. Wie hat dieser rein logische Satz plötzlich eine physikalische Bedeutung erhalten? Er ist durch die Wahl von Messinstrumenten in die Region von Raum und Zeit übertragen worden. Unter dem Gesichtspunkt von Raum und Zeit verwandelt sich der mathematische Punkt in einen Koinzidenzpunkt; Koinzidenz wird zum Kriterium der Gleichwertigkeit. und Gleichungen werden zum Ausdruck physikalischer Entsprechungen. Durch das Medium von Raum und Zeit wird eine notwendige Beziehung hergestellt zwischen der Wahl eines geometrischen Systems und der Annahme gewisser physikalischer Axiome. Um aber zu entscheiden, ob unsere geometrische Wahl physikalisch gültig ist oder nicht, müssen wir erproben, ob die physikalischen Axiome, welche sie postuliert, auf Koinzidenzen hinführen, die sich tatsächlich beobachten lassen. Das Mittel, diese Probe durchzuführen, ist aber – das Experiment. Der letzte Zweck des Experiments besteht also darin, seine eigenen Voraussetzungen zu erproben. Dies muss als unvermeidlich hingenommen werden. Nur wenn das Experiment eine bestimmte Stelle innerhalb der physikalischen Welt einnimmt, kann es uns etwas Authentisches über sie berichten.

 

Indem das Instrument einen Teil der Natur bildet, stellt sich die Frage: „Wie können wir daraus ein objektives Verständnis der Natur, welches die Teile in ihrer Beziehung zum Ganzen begreift, gewinnen? Indem wir die Beziehung vom Teil zum Ganzen jedesmal herstellen, wenn wir ein Messinstrument zu konstruieren beginnen. Denn für die Konstruktion müssen wir uns ein Urteil über die physikalische Gesamtkonstellation bilden, an der es teilhat. Dies gelingt nur dadurch, dass wir alle früher gesammelten Be­obachtungen in ein System zu bringen versuchen. Das Ergebnis des Experiments bestätigt oder widerlegt dieses System. Im ersten Fall geht die neue Tatsache sofort in die vorausgesetzten systematischen Beziehungen ein, im anderen Falle wird die Geltung der Annahmen, auf welche sich die gegebene Einzelkonstruktion gegründet hat, widerlegt. Eine solche Krisis ist aber immer ein Durchbruch zu neuen Erkenntnissen.

 

Dies zeigt aber, dass dasjenige, was wir gewöhnlich „Tatsachen“ nennen, nichts unmittelbar Gegebenes ist. Die physikalische Tatsache wird von einem Instrument registriert, und Instrumente sind Gebilde der Konstruktion. Das Gelingen oder Misslingen eines Instrumentes ist nichts anderes als ein metaphysisches Signal. Die Fähigkeit, mit diesen Signalen zu rechnen, begründet die Kunst des Physikers. Das Vertrauen auf die Folgerichtigkeit dieser Botschaft bildet sein metaphysisches Glaubensbekenntnis. Die Methode seiner Kunst besteht darin, dass er einen rein logischen Begriff erprobt, indem er einen völlig metalogischen Akt provoziert. Indem wir einen Körper für eine bestimmte Messung als „geeignet“ oder „ungeeignet“ erklären, sprechen wir ein Urteil über eine in der realen Welt vorwaltende Proportion. Dieses Urteil ist eine Hypothese, können wir doch a priori nichts darüber wissen. Der Aufschluss, den wir durch den Gebrauch eines Instruments suchen, ist stets zugleich ein Aufschluss über die Stellung des Instruments in der Welt. Die Tatsachen lassen sich zwingen, auf Fragen Antwort zu geben, indem wir durch einen Akt der Verkörperung eine mathematische Größe mit einer physikalischen ineins setzen und beobachten, ob die physikalische Größe die Veränderung erfährt, die die mathematische Transformation ihr vorschreibt. Geschieht dies, so dürfen wir uns dem Glauben hingeben, dass die Welt wirklich so ist, wie wir


sie uns denken. Geschieht dies nicht, so machen wir eine Entdeckung.