PhilosophiePhilosophie

FORSCHUNG

Wittgenstein: Big Typescript


WITTGENSTEIN

Wittgensteins „Big Typescript“

Schon bald nach seiner Rückkehr nach Cambridge im Jahr 1929 muss Wittgenstein an die Veröffentlichung eines nach dem Tractatus zweiten philosophischen Buches gedacht haben. In einer Notiz vom Juni 1931 macht er sich Gedanken darüber, wessen „in seiner Vorrede“ zu gedenken sei, falls – wie er notiert – „mein Buch je veröffentlicht wird“. Diese und andere Bemerkungen machen die Vermutung wahrscheinlich, dass sich unter Wittgensteins Typoskripten jener Jahre solche finden, deren Kompilation aus den Manuskripten er explizit im Hinblick auf eine Veröffentlichung betrieb. Fragt man sich, bei welchen Typoskripten der frühen dreißiger Jahre dies der Fall sein könnte, wird man bald auf TS 213 stoßen, dass Wittgenstein 1933 fertigstellte und das heute allgemein als das Big Typescript bekannt ist.

Der Bedeutung dieses Textes wurde in einer Tagung an der Münchner Universität, an der die wichtigsten deutschsprachigen Wittgenstein-Kenner teilnahmen, nachgegangen:

Majetschak, Stefan (Hrsg.): Wittgensteins „große Maschinenschrift“. 291 S., kt., 2006, Wittgenstein-Studien 12, € 94.80, Peter Lang, Bern.

Wittgenstein hatte sich im Verlaufe seines Denkweges immer wieder auf TS 231 als auf die Maschinenschrift bzw. die alte Maschinenschrift bezogen und damit die Existenz anderer Typoskripte ignoriert. Und kein anderes von Wittgenstein selbst zusammengestelltes Textkonvolut erweckt so sehr den Eindruck, es handle sich um ein „konventionelles“, für die Veröffentlichung bestimmtes Buch. Denn neben einem eigens von Wittgenstein erarbeiteten achtseitigen Inhaltsverzeichnis weist das Typoskript eine Kapiteleinteilung mit Haupt- und Unterüberschriften auf, die dem Text den Anschein einer fertigen, für die Publikation bestimmten Argumentation verleihen.

Für Wolfgang Kienzler stellt das Big Typescript eine Zusammenfassung der von Wittgenstein als brauchbar erachteten Teile sämtlicher Texte aus dem Zeitraum von 1929 bis 1932 dar. In der vorliegenden Form wurde es aber von Wittgenstein sehr bald verworfen, jedoch später (bis 1945) wiederholt als Steinbruch für die Arbeit an den Philosophischen Untersuchungen verwendet. Es spielt daher für die endgültige Formulierung seiner Spätphilosophie eine nicht zu unterschätzende Rolle. Für Kienzler liegt die Bedeutung des Big Typescript denn auch nicht darin, dass hier ein eigenständiges drittes Hauptwerk vorliegt, sondern darin, dass es eine von Wittgenstein als definitiv betrachtete Sammlung seiner früheren Bemerkungen darstellt, mit der er später, wenn auch punktuell, weitergearbeitet hat. Die Bedeutung der für Wittgensteins Verhältnisse sehr konventionellen Form des Typoskriptes liegt vor allem darin, dass sie eine entschlossene, deutliche und radikale Abkehr von der literarisch durchgestalteten Form des Tractatus darstellt.

Bislang gibt es zum Big Typescript wenig Literatur, es existiert keine Monographie dazu. Die Forschung wurde erstmals 1969 mit der Publikation der Philosophischen Grammatik auf den Text aufmerksam. Deren Herausgeber R. Rhees hatte sich dafür entschieden, eine von Wittgenstein vorgenommene Überarbeitung des Big Typescript unter diesem Titel zu veröffentlichen. Neben der handschriftlichen Überarbeitung druckte Rhees auch umfangreiche Kapitel aus dem Big Typescript (7 von insgesamt 19) und machte auf die Existenz eines „großen Maschinenskripts“ aufmerksam. Zeitgleich erschien die erste Fassung von von Wrights Nachlasskatalog, in dem das Big Typescript erstmals unter diesem Namen, der sich seither durchgesetzt hat, auftauchte. Auf besonders intensive Weise widmete sich S. Hilmy in seiner Monographie The Later Wittgenstein dem Text. Er vertrat die Ansicht, dass im Big Typescript bereits wesentliche Züge von Wittgensteins Spätphilosophie sichtbar und ausgebildet sind.

Neben der Teilpublikation in der Philosophischen Grammatik machte der sog. Cornell-Mikrofilm (1967 ff.) den Text prinzipiell der Forschung zugänglich. Eine entscheidende Verbesserung gelang dann 2000 durch die zeitgleiche Publikation der elektronischen Bergener sowie der Wiener Ausgabe. Durch das Erscheinen einer Paperback-Ausgabe ist das Big Typescript zu einem allgemein zugänglichen Text Wittgensteins geworden.

Von Wittgensteins großem Typeskript gibt es jedoch zwei Exemplare, von denen eines umfangreiche handschriftliche Korrekturen enthält, während das andere ohne Überarbeitungsspuren ist. Band 11 der Wiener Ausgabe gibt den maschinenschriftlichen Text ohne Überarbeitungen wieder, die Edition der Überarbeitungen war weiteren Bänden vorbehalten (inzwischen wurde die Wiener Ausgabe eingestellt). Aber auch ohne Berücksichtigung der Überarbeitungen ist die Edition von Ts 213 keineswegs einfach. So enthält der Text eine ganze Reihe von Irrtümern und Versehen, die auf Entstehung durch Diktat zurückgehen. In gewisser Hinsicht sind daher die Manuskriptfassungen sorgfältiger gearbeitet und zuverlässiger als die Typoskriptversionen. Zudem fehlen im Typoskript die Illustrationen des Textes.

Der betont nüchternen Darstellungsweise des Big Typescript scheint einer wenig späteren Bemerkung Wittgensteins diametral zu widersprechen: „Ich glaube, meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefasst zu haben, indem ich sagte, Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten.“ Diese Bemerkung stammt aus dem Kontext der komplexen und mehrfachen Überarbeitung des Big Typescripts. Für Kienzler zeigt sie auf, dass Wittgenstein sich bereits 1934 von der Form des Big Typescripts wieder völlig gelöst hat. Man kann deshalb die Bemerkung zunächst allgemein so verstehen, dass Wittgenstein, als er dies schreibt, mit viel Mühe und bereits der Ahnung des Scheitern versucht, eine durchgehende, abgerundete Darstellung seiner Philosophie zu geben. Kienzler vermutet, dass bereits das Big Typescript als Zusammenfassung all dessen, was Wittgenstein von 1932 bis 1932 geschrieben hatte, aufzufassen ist. Wie aber ist dies „alles“ genauer zu verstehen? Das Big Typescript soll die frühere Sammlung der Philosophischen Bemerkungen vollständig ersetzen und an ihre Stelle treten. Kienzler ist der Überzeugung, dass das Big Typescript für Wittgensteins Textarbeit einen definitiven Abschnitt bildet, hinter den er nicht mehr zurückging.

Noch im Dezember 1933, unmittelbar nach der Fertigstellung des Textes, begann Wittgenstein mit Umarbeitungsmaßnahmen, in denen mehrere Phasen nachweisbar sind. Rhees stellte die Ergebnisse dieser Umarbeitungen zu einem Text zusammen, der 1969 als Philosophische Grammatik erschienen ist. 1934 gab Wittgenstein den Versuch, alles in einem Buch zusammenzufassen, auf und begann den nicht weniger ehrgeizigen Versuch, seine philosophische Methode schriftlich zu artikulieren, indem er auf Englisch das Blaue Buch diktierte. Auf diesen Versuch folgte das ebenfalls auf Englisch diktierte Braune Buch, wovon Wittgenstein dann 1936 eine deutsche Fassung herstellte. Diese verwarf er jedoch sofort wieder. Am Ende des gleichen Jahres begann er mit einem weiteren Versuch, seine philosophischen Einsichten schriftlich in Buchform niederzulegen. Er verfasste Ms 142, das seinem Gehalt nach weitgehend mit den ersten 189 Bemerkungen der Philosophischen Untersuchungen übereinstimmt. Bei der endgültigen Erstellung der Philosophischen Untersuchungen stellte Wittgenstein ein neues Typoskript her, das zahlreiche Textstellen aus dem Big Typescript enthält. Auf diese Weise gelangten Teile des Big Typescript in die Philosophischen Bemerkungen.

Für Eugen Fischer (München) besteht das Haupträtsel von Wittgensteins Spätphilosophie in der Frage: Was soll es wie erreichen? Auch die ernsthaftesten Interpreten fühlen sich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, substantielle Einsichten in Wittgensteins Werk auszumachen, und dem, ihm ein zutreffendes Selbstverständnis zuzubilligen – wobei der zweite Wunsch öfter das Nachsehen hatte. Wittgenstein scheint nicht nur vor substantiellen Antworten zurückzuschrecken, sondern vor allen Antworten. Fischers Ansicht nach stellt sich Wittgenstein eine rein therapeutische Aufgabe. Dies zeigt insbesondere das Big Typescript. In diesem Text spricht Wittgenstein wiederholt von Beunruhigungen, die durch die Worte „hier stimmt etwas nicht“ gekennzeichnet sind. Sein Ziel ist, Beunruhigungen zu beseitigen: „Wie ich Philosophie betreibe, ist es ihre ganze Aufgabe, den Ausdruck so zu gestalten, dass bestimmte Beunruhigungen … verschwinden.“ Einige Jahre später bekräftigt er dies in einer nicht zur Veröffentlichung bestimmten Bemerkung: „Friede in den Gedanken. Das ist das ersehnte Ziel dessen, der philosophiert.“ Dieses Ziel verleiht Wittgensteins Untersuchungen einen therapeutischen Charakter. Allerdings schließen sich therapeutische und „kognitive“ Ziele nicht aus. Was denn auch Wittgensteins Aufgabenstellung schwer verständlich macht, ist ihre Ausschließlichkeit und ihre Ausdrücklichkeit. Die „ganze“ oder „einzige“ Aufgabe seiner philosophischen Arbeit soll es erklärtermaßen sein, Beunruhigungen zum Verschwinden zu bringen. Aber warum?

Für Fischer ist die Annahme einer ausschließlich therapeutischen Aufgabenstellung nur dann sinnvoll, wenn die in Frage stehende intellektuelle Unruhe von einem bloß eingebildeten Problem herstammt, vom ungerechtfertigen Eindruck, einem Problem gegenüberzustehen, wo in Wirklichkeit keines ist. Das Big Typescript bestätigt diese Interpretation, heißt es doch dort: „Richtiger hieß es aber: Es werden Probleme gelöst (Beunruhigungen // Schwierigkeiten // beseitigt) nicht ein Problem“.


HEIDEGGER

Martins Bruder Fritz

In Meßkirch, Martin Heideggers Heimatort, war Fritz der berühmtere der beiden Brüder: jeder kannte ihn. Martin hingegen sah man vor 1939 nur noch selten in Meßkirch; danach kam er mehrmals zu Arbeitsbesuchen, denn sein Bruder schrieb seine Manuskripte ab. Erst in den fünfziger Jahren, als Martin häufiger beim Bruder wohnte, in Meßkirch seinen 70. und 80. Geburtstag feierte und schließlich Ehrenbürger der Stadt wurde, wurde auch der Philosoph in Meßkirch eine hochgeschätzte Persönlichkeit. Freilich gab es dann immer noch welche, die munkelten, der Fritz sei der Verfasser der Werke des Bruders; dem Fritz trauten sie dies eher zu als dem Martin, von dem nun alle Welt sprach.

Hans Dieter Zimmermann ist dem Verhältnis der beiden Brüder, insbesondere aber der Persönlichkeit von Fritz Heidegger nachgegangen. Er bietet in seinem im Plauderton gehaltenen und einfühlsam ohne wissenschaftlichen Anspruch geschriebenen Buch

Zimmermann, Hans Dieter: Martin und Fritz Heidegger. Philosophie und Fasnacht. 172 S., Ln., 2005, € 17.90, C.H. Beck

zudem eine Skizze von Meßkirch und Freiburg in der damaligen Zeit.

Fritz Heidegger war erst Kassierer der Bank in Meßkirch, dann gehörte er deren Vorstand an. Er konnte blitzschnell die Geldscheine zählen und wie ein Kartenspiel auf die Theke werfen, dabei noch ein paar Worte mit dem Kunden plaudernd: die Summe stimmte immer. Bekannt war der Bankier aber vor allem wegen seiner Fasnachtsreden, die er einige Male hielt, die erste 1934, die letzte 1949. Fritz war ein origineller Mensch, ein eigenwilliger mit Ecken und Kanten, ein wenig anders als die anderen. Er besuchte auch gerne die Weinkneipen zum Dämmerschoppen. Von Fritz Heidegger werden noch heute in Meßkirch Anekdoten erzählt.

Fritz war schon als Knabe keinesfalls weniger begabt als Martin. Und auch Fritz nahm anfangs den humanistischen Bildungsweg (er wollte Geistlicher werden) und besuchte ein Gymnasium in Konstanz. Er hatte aber ein besonderes Leiden: er stotterte. In der strengen Zucht des Gymnasiums verschärfte sich das Leiden: Was er sagen sollte, sagen wollte, kam nicht heraus. Peinvolle Minuten des vergeblichen Versuchs, bis endlich das begonnene Wort zu Ende gesprochen war. Man gab den Eltern den Rat, das Kind von der Schule zu nehmen. Der Beruf des Geistlichen war nun für immer verschlossen.

In den „Fasnetsreden“, wie diese im regionalen Dialekt heißen, hatte er, merkwürdig genug, keinerlei Schwierigkeiten zu reden. Sein Spiel mit der Sprache war voll Humor, er nahm die Sprache ernst und er nahm sie nicht ernst, so wie er sich ernst nahm und nicht ernst nahm. Er litt und riss seine Witze darüber. Seine Wortverdrehungen führten zu schlichten und klugen Einsichten.

Nur drei Karnevalsreden von Fritz sind überliefert, die von 1934, 1937 und 1948. Die von 1934 ist gespickt mit Andeutungen auf die damaligen Ereignisse. Fritz spricht vom vergangenen Sommer 1933, der so heiß war, dass er „alles braun werden ließ“. Und er warnte: „Hütet euch vor den 100%igen“. Fritz hatte im Unterschied zu Bruder Martin den Eintritt in die NSDAP abgelehnt; erst 1942 trat er ein, getrieben von der Sorge um die Zukunft seiner Söhne. Doch schon nach einem halben Jahr wurde er wieder ausgeschlossen. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass er den Hitlergruß nicht vorschriftsmäßig mit hoch erhobenem ausgestreckten rechten Arm und Hand ausführte.

1937 wird Fritz noch deutlicher: „Der eine sieht am helllichten Tag Gespenster, der andere zittert vor dem Schlag der Zeit und wieder ein anderer verwechselt die Volkswerdung mit einem alten Kasernenhof. Die wunderbare Tatsache: Alles zieht an einem Strick – und keiner traut dem anderen!... Gar nichts ist selbstverständlich auf dieser Welt. Es ist nicht einmal selbstverständlich, dass ich wieder heil von diesem Gerüst herunterkomme.“ Er zitierte anschließend ein Nazi-Lied „Lasst wehen die Fahnen, lasst flattern die Wimpel“ und fügte bei: „Und wer’s nicht glaubt, ist auch kein Simpel“.

Fritz Heideggers Scherze konnten aber auch recht grob sein. Wenn er schlecht gelaunt war, ließ er dies die anderen durchaus spüren. Es kam vor, dass er grußlos ins Wirtshaus kam, niemanden eines Blickes würdigte und sich an seinen Stammplatz setzte. Gefürchtet war seine Angewohnheit, im Weinglas, das er des öfteren im Wirtshaus leerte, einen kleinen Rest übrig zu lassen, um ihn den armen Seelen der Verstorbenen zu widmen. Denn er schüttete diesen Rest in hohem Bogen über die Schulter. Wen es traf, der hatte Pech gehabt. Erboste Gäste wies er zurecht: „Die arme Seele soll au was habe“.

Fritz hatte auch keinen Respekt vor seinem berühmten Bruder, denn er bei dessen gelegentlichen Besuchen in der Heimat immer mit in seine Stammkneipe nahm. So auch kurz nach dem 80. Geburtstag von Martin Heidegger. Ein am Stammtisch sitzender honoriger Bürger sprach den Philosophen an: „Herr Professor, wir haben Sie im Fernsehen gesehen und auch ihre Rede gehört, von der wir sehr beeindruckt waren“. Da sagte der Fritz: „Ach was, ihr müsst dem Kerl nit alles glaube, der ist alt und hinterstellig.“

Als sich im Herbst 1938 die Gefahr eines Krieges abzeichnete, bat Martin Heidegger seinen Bruder Fritz zu sich. Er gab ihm zwei große metallene Kisten mit Manuskripten, die er in Meßkirch aufbewahren sollte, wo er sie in Sicherheit glaubte. Sie wurden im Turm der Kirche des Nachbarortes Bietingen verborgen, der dortige Pfarrer war mit der Familie befreundet.

Dies war auch der Beginn einer Zusammenarbeit. Martin bat Fritz, seine Manuskripte ins Reine zu tippen, zunächst die Beyträge, er hatte offenbar in Freiburg niemanden, dem er vertrauen konnte, so dass er den Bruder darum bat. So entstand zwischen den beiden ein Arbeitsverhältnis, das über lange Jahre andauerte und nicht nur Martin nützte, sondern auch Fritz. Fritz war zwar der Dienende, er schrieb die Texte ab, versah sie aber mit Randnotizen, brachte den Bruder zu Verbesserungen, lange Sätze zerschnitt er in zwei Teile. Martin wiederum nahm die Einwände seines Bruders ernst. So schrieb Martin Heidegger am 19. April 1954 seinem Verleger Klostermann, er sei nach längerer Überlegung und Beratung mit seinem Bruder zu dem Schluss gekommen, für die Neuauflage der Schrift Vom Wesen des Grundes ein ausführliches Nachwort zu schreiben, das die Frage nach Grund und Kausalität neu stelle und die frühe Fragestellung der Schrift mit seinem heutigen Denken in Verbindung bringe.

Mit Beginn seines Ruhestandes im Jahr 1959 begann Fritz mit einem Eifer, der an seinen Bruder erinnerte, alles, was ihm durch den Kopf ging, in Notizhefte einzutragen: philosophische, theologische Überlegungen, Gedankensplitter, Aphorismen, Exzerpte aus wichtigen Werken, aber auch Anekdoten und Geschichten aus Meßkirch und Umgebung. Aber auch der Entwurf zu einem Roman, der nie ausgeführt wurde. Diese Aufzeichnungen liegen bis heute, unveröffentlicht, im selben Zimmer im Haus der Familie in Meßkirch. Auch sind Briefe zwischen den beiden seit 1927 erhalten, insgesamt etwa 500 Briefe und Karten.

Fritz Heidegger war ein religiöser Denker. Seine lebenslange Beschäftigung mit der Bibel, mit theologischen Werken, mit der Geschichte und der Liturgie der katholischen Kirche sind in seinen vielen Notizen deutlich zu erkennen. Aber er bringt keinen Kommentar zur Bibel, zur Auseinandersetzung zwischen Theologen, seine Überlegungen sind Selbstbefragungen, Standortbestimmungen: der Mensch in der Welt, Fritz Heidegger in dieser Welt und sein Verhältnis zu Gott. Und sie sind von einer Haltung bestimmt, die an die Mystiker erinnert: sich selbst zurücklassen, um Gott zu finden. Sein immer wieder erstrebtes Ziel ist es, die Gegenwart Gottes zu denken, ohne sich diesen vorzustellen. Denn: „Sich auf Gott berufen, kann eine gefährliche Anmaßung sein. Die einen sagen: der liebe Gott, unser Herrgott. Und die anderen sagen: das Unendliche, das Absolute, das kosmische Sein. Beide sagen gewöhnlich nichts damit.“ Seine Sehnsucht nach Gott führte zu einer Ablehnung aller äußeren Wichtigtuereien, die das menschliche Leben bestimmen, aber auch der inneren, wie Eitelkeit und Selbsterhöhung: „Ein neuer Silberstreifen am Horizont: die Demut, das wäre die Freundin, an deren Seite alles gesunden würde.“ Oder im Originalton Fritz Heideggers: „Die einen Kühe weiden voll Ergötzen und ohne Mitgefühl dafür, dass die anderen Kühe zur selben Zeit im Schlachthaus nebenan verbluten. Genauso naturhaft blöd benimmt sich der Mensch.“

Mit zunehmendem Alter verlor Fritz die Lust am Abschreiben der Manuskripte des Bruders, der diese schließlich nach Freiburg zurückholte und dort Schüler mit weiteren Abschriften beauftragte.


HANDLUNGSTHEORIE

Rüdiger Bittner räumt auf mit der hergebrachten Auffassung der Gründe, warum jemand etwas tut

Welches sind die Gründe, aus denen Leute etwas tun und in welcher Beziehung stehen sie zu diesem Tun? Dieser Frage geht der in Bielefeld lehrende Rüdiger Bittner in seinem ursprünglich in englischer Sprache erschienenen, nun ins Deutsche übersetzten Buch

Bittner, Rüdiger: Aus Gründen handeln. 235 S., kt., € 29.95, 2005, Ideen und Argumente, de Gruyter, Berlin

nach. Er hat auch eine Antwort: Ein Grund ist etwas, was in der Welt der Fall ist, ein Zustand der Dinge, und was aus einem Grund getan wird, ist eine Reaktion auf diesen Zustand.

Bittner lehnt damit die in letzter Zeit populär gewordene Ansicht ab, dass Gründe Dinge im Geiste oder Kombinationen solcher Dinge seien, ab. Er versucht vielmehr ein vollkommen „weltliches“ oder naturalistisches Verständnis von Gründen und Handeln aus Gründen zu gewinnen.

Die Standardauffassung

Die geläufige Antwort auf die Ausgangsfrage lautet: Ein Grund aus dem jemand etwas tut, ist eine Kombination aus einem Begehren und einer Meinung des Handelnden. Jemand möchte ein Bier trinken, und er denkt, wenn er zum Kühlschrank geht, so trägt das dazu bei, dass er dann wirklich eins trinkt: jenes Begehren und diese Meinung zusammen bilden den Grund, aus dem er zum Kühlschrank geht. Autoren wie Carl Gustav Hempel, Donald Davidson, Paul Churchland, Alvin Goldman und Michael Smith sind sich darin einig, dass eine vollständige Gründe-Erklärung eines Handelns ein relevantes Begehren des Handelnden angibt sowie eine Meinung des Handelnden mit dem Inhalt, dass das Handeln zur Realisierung des Begehren beiträgt.

Bittner sieht hier Schwierigkeiten. Eine betrifft die Frage, wie hier „Begehren“ zu verstehen sei. So wurde geltend gemacht, dass bei einem Verständnis von Begehren als Lust auf etwas nicht erklärbar wird, warum wir etwas aus moralischen Gründen tun. Und auch den Zahnarzt besuchen wir wohl kaum, weil man dazu Lust hat. Für Bittner lassen sich bei jeder Definition von „Begehren“ eine Vielzahl von Fällen finden, die sich nicht darunter subsumieren lassen. Davidson hat das erkannt und zugegeben, dass es Gründe bzw. Erklärungen von Handlungen gibt, die nicht auf ein Begehren oder Meinen des Handelnden Bezug nehmen. Er hat dies Erklärungen durch nicht-primäre Gründe genannt. Nicht-primäre Gründe verdanken ihre Erklärungskraft der Tatsache, dass sie anzugeben einen anderen, einen primären Grund erkennen lässt. Allerdings umgeht Davidson die Frage, wie denn dies zu verstehen sei. Aber auch andere Autoren bleiben bei dieser Frage unbestimmt. So schreibt Colin McGinn, dass ein Grund, mit dem wir eine Handlung erklären, „am besten verstanden wird als ein Begehren und eine Meinung in einer bestimmten Art von Verbindung“, und genauso unbestimmt ist Martha Nussbaum, wenn sie schreibt, dass „es in der Natur der Handlung liegt, durch ein Begehren oder eine Meinung bestimmt zu sein“.

Die Mängel der Standardauffassung

Einzig Michael Smith hat das Argument, dass Gründe, aus denen Leute etwas tun, immer aus einem Begehren und einer Meinung bestehen, ausgearbeitet und zwar in folgenden Schritten:

Einen Grund haben, aus dem man etwas tut, ist unteren anderem dies, ein Ziel zu haben.
Ein Ziel haben heißt in einem Zustand sein, mit dem die Welt übereinstimmen muss.
In einem Zustand sein, mit dem die Welt übereinstimmen muss, ist ein Begehren.
Folglich, einen Grund haben, aus dem man etwas tut, ist unter anderem dies, etwas zu begehren.

Bittner lässt dieses Argument nicht gelten. Einen Satz von Dispositionen zu haben, hält er für keine hinreichende Bedingung für das entsprechende Begehren, und Begehren besteht nicht darin, solche Dispositionen zu haben. Doch selbst, wenn es darin bestünde, würde dies nicht der dritten Prämisse des Arguments helfen: das dispositionelle Verständnis von Begehren stützt nicht die Vorstellung, dass in einem Zustande sein, mit dem die Welt übereinstimmen muss, Begehren ist.

Warum braucht es beides, Begehren und Meinung, für einen primären Grund, aus dem jemand etwas tut? Die Standard-Antwort auf diese Frage lautet: „Handeln aus einem Grund beruht auf einer leitenden Meinung und einem motivierenden Wollen“ (Robert Audi), und nach Georg Henrik von Wright ist „das Wollen das, was bewegt, und die Erkenntnis (kausaler Verknüpfungen) das, was die Bewegung steuert“.

Bittner hält das nicht für kohärent. Wenn Begehren für sich ein hilfloses Verlangen nach dem Ziel ist, dann ist es nicht wahr, dass es einen zum Handeln bewegt. Die Widersprüchlichkeit zeigt sich an den unvereinbaren Rollen, die dem Begehren zugewiesen werden. Begehren in der einen Rolle „setzt das Ziel“, wie sich Audi ausdrückt. Begehren in der zweiten Rolle ist das, was denjenigen in Bewegung setzt, der tatsächlich Schritte unternimmt. Doch von einem so verstandenen Begehren kann man nicht sagen, dass es für sich nicht zum Handeln gelangt: zum Handeln zu führen ist ja gerade seine Rolle.

Warum aber konnte sich diese Standard-These solange halten, wenn sie doch sichtliche Mängel hat? Dazu Bittner: Die philosophische Orthodoxie der Gegenwart steht hinter ihr, weil das die hergebrachte Auffassung ist. Die klassische Quelle ist Humes Lehre. wonach „erstens, die Vernunft allein nie Motiv für irgendeine Haltung des Willens sein kann, und zweitens, dass sie bei der Lenkung des Willens der Leidenschaft nichts entgegenzusetzen vermag“.

Die kantische Position

Es gibt allerdings noch eine zweite Antwort auf die Frage, was ein Grund ist, dass jemand etwas tut. Sie hat allerdings nicht so viele Anhänger wie die Standard-Antwort und besagt, dass ein Grund, warum jemand etwas tut, ein Prinzip ist. Diese Auffassung geht auf Immanuel Kant zurück, in der Gegenwart wurde sie von Onora O’Neill und Thomas
Hill ausgearbeitet. Kant spricht zwar nicht von Gründen, aus denen Personen etwas tun, er spricht vielmehr von Maximen und von praktischer Vernunft, aber laut Bittner läuft das auf die Konzeption hinaus: Gründe sind Prinzipien des Handelns. Doch auch diese Antwort scheitert, meint Bittner.

Kant spricht davon, ein vorausgehendes Begehren sei die Bedingung dafür, eine Regel sich als Maxime zu eigen zu machen. Andrews Reath und Henry Allison haben aber überzeugende Gründe dafür vorgebracht, dass die Vorstellung, ein Begehren übe eine Kraft auf den Willen aus, mit praktischer Freiheit im Sinne Kants nicht zu vereinbaren ist. Weiter ist es, um eine Maxime zu haben, nicht erforderlich, auch nach ihr zu handeln.

Bittners Konzeption

Bittner schlägt eine ganz andere Konzeption vor, die die Mängel der vorhergehenden nicht teilt: „Ein Grund, aus dem jemand etwas tut, das ist soviel wie, etwas sein, auf das die betreffende Handlung eine Reaktion ist.“ „Reaktion auf etwas“ ist allerdings nicht im naturwissenschaftlichen Sinne gemeint, gemeint ist vielmehr der Sinn, in dem wir das Wort in der Beschreibung unseres normalen Umgangs miteinander gebrauchen. Charakteristisch ist, dass dazu eine Geschichte gehört, die das einbegreift, worauf die Handlung eine Reaktion ist. Wir lernen Dinge zu tun und zu beschreiben, was getan wird, zum Teil dadurch, dass wir lernen auf das, was geschehen ist, zu reagieren und Reaktionen darauf als solche zu erkennen. Wir lassen uns ein auf ganze Handlungsverläufe und verstehen uns auch als eingelassen auf sie; und manche dieser Handlungsverläufe, wie zum Beispiel durch die Stadt fahren, schließen charakteristischerweise ein, Dinge in Reaktion auf etwas, das geschehen ist, zu tun.

Den ersten Hinweis auf die von Bittner vorgeschlagene Richtung gab Georg Henrik von Wright, indem er zwischen internen Gründen, verstanden nach dem vertrauten Muster der Begehren-/Meinungstheorie, und externen Gründen unterschied. Externe Gründe sind dabei Herausforderungen, wobei Dinge wie Befehlen, Bitten und Fragen eine Gruppe von Herausforderungen bilden und Dinge wie Normen, Gebräuche und Traditionen eine andere. Handeln aus einem externen Grund ist Handeln in Reaktion auf eine solche Herausforderung. Allerdings ist der von Bittner eingeschlagene Weg radikaler: Gründe, aus denen Leute etwas tun, sind allesamt externe Gründe im Sinne von Wrights.

Auf welche Arten von Dingen sollen Handlungen aus Gründen Reaktionen sein? Handlungen sind nach Bittner Reaktionen auf Zustände oder Ereignisse, nicht auf Gegenstände, Personen oder Tatsachen, obgleich wir manchmal so reden, als ob auch diese letzteren Dinge Gründe sein könnten. Der Kreis der Dinge, auf die Handlungen Reaktionen sein können, engt sich noch weiter ein: Ein Grund, aus dem jemand etwas tut, kann nicht etwas sein, wovon der Handelnde auf keine Weise Kenntnis hat. Etwas kann ein Grund sein, aus dem einer etwas tut, und für den anderen ist es ein Grund, dasselbe nicht zu tun. Dieser Unterschied rührt daher, dass beide verschiedene Dinge wissen, glauben, erwarten, begehren oder zu tun Lust haben. Es sollte leicht sein, diese beiden Dinge auseinander zu halten: einen Grund, aus dem wir etwas tun, und das an uns, was diesen oder jenen Zustand zu einem Grund macht, aus dem wir etwas tun. Aber die beiden Dinge werden häufig verwechselt, vermutlich in Folge der ähnlichen Verwechslung von Gründen und Ursachen.

Dasjenige, was die Gründe, aus denen man wirklich etwas tut, aus dem großen Feld all dessen, was ein solcher Grund sein könnte, aussondert, hängt also von Zügen des Handelnden selbst ab. Relevant dafür sind solche Dinge wie, dass man auf etwas aus ist, etwas meint oder etwas erwartet. Man kann daraus so etwas wie eine Reliefkarte von Dingen, die in verschiedenen Graden für uns wichtig sind, machen. Alle Gründe, die wir haben, etwas zu tun, sind irgendwo darauf angesiedelt, und ihre relative Stärke bestimmt sich dadurch, wie wichtig das betreffende Ding für uns ist. Moralische Gründe sind dabei eine Unterklasse der Gründe, die wir haben. Und die relative Stärke moralischer gegenüber anderen Gründen hängt vom Handelnden und vom jeweiligen Fall ab.

Welche Folgen hat diese Konzeption für das Bild vom Menschen, für die Vorstellung von uns selbst? Was für ein Wesen ist ein aus Gründen Handelnder?

Aus Gründen Handelnde brauchen nach Bittner eine weniger umfassende geistige Ausstattung als in der Theorie angenommen. Sie müssen lediglich Bewusstsein haben sowie die Fähigkeit, etwas zu tun in Reaktion auf das, wovon sie Bewusstsein haben. Mehr brauchen sie aber nicht. Insbesondere brauchen sie nicht das spezielle Vermögen – genannt praktische Vernunft –, das in einer weit gefassten platonischen Tradition als erforderlich für das Erkennen von Gründen angesehen wurde. „Handeln aus Gründen“ ist auch nichts spezifisch Menschliches, sondern findet sich in verschiedenen Wesen. Titel wie „Eine Theorie des menschlichen Handelns“, wie sie in der Literatur geläufig sind, gehen von vornherein fehl: Eine Theorie des menschlichen Handelns ist philosophisch gesehen uninteressant.


WAHRHEITSTHEORIE

Petra Kolmers hermeneutische Wahrheitstheorie

Die „Vielfältigkeit und Nicht-Eindeutigkeit“ unserer Wahrheitsauffassungen lässt sich nicht eliminieren. Was wir unter „wahr“ verstehen, ist irreduzibel abhängig von bestimmten Leitüberzeugungen, Gedankenmotiven und grundlegenden Intuitionen, die sich an unsere Sprache knüpfen. Das ist die These, die die Bonner Philosophin und Schülerin des verstorbenen Hans Michael Baumgartner in ihrer Habilitationsschrift

Kolmer, Petra: Wahrheit. Plädoyer für eine hermeneutische Wende in der Wahrheitstheorie. 448 S., Ln., 2006, € 48.—, Karl Alber, Freiburg

vertritt. Die Vieldeutigkeit des Wahrheitsbegriffes zu eliminieren bedeutete, das auszulassen, was in Wahrheitsangelegenheiten anderen Denkern das Wesentliche war.

In unseren Reden von der Wahrheit, sofern wir dasselbe meinen, verweisen wir nicht auf einen oder den Begriff von Wahrheit, sondern auf „begriffs- und zeichenlose Einsichten“, letztlich auf eine einzige begriffs- und zeichenlose Einsicht. Kolmer versteht Wahrheit als Verlässlichkeit eines Sinnfundaments, das vom lebensmäßigen Ernstfall geprägt ist. Verlässlichkeit ist der Sinn, den „wahr“ und „Wahrheit“ im Leben und aus der Perspektive des Lebens hat. Wahrheit hat daher Raum für eine gewisse Undeutlichkeit und damit auch für Relativität. Aus der Perspektive des Lebens lautet die Frage denn auch nicht: „Was ist wahr?“, sondern „Worauf können wir uns verlassen?“ Deshalb kann die philosophische Frage, was Wahrheit ist, nicht unabhängig von der Frage nach der Relevanz der Wahrheit für das menschliche Leben beantwortet werden.

Kolmer lehnt in der Folge die etwa von Puntel vertretene Auffassung ab, wonach ein Satz, wenn er wahr, der Sache nach und „unabhängig von der Zeit überhaupt“ wahr sei. Für sie ist Wahrheit immer kontextabhängig. Ein philosophisches Wahrheitskonzept kann nur akzeptabel sein, wenn es den „Zeit- und Kontingenzerfahrungen“ Rechnung trägt und damit hermeneutisch ist.


PSYCHOLOGIE

Heiner Hastedt über Gefühle

Der in Magdeburg lehrende Philosophieprofessor Heiner Hastedt verwendet in seinem Buch

Heiner, Hastedt: Gefühle. Philosophische Bemerkungen. 164 S., kt., € 4.80, 2005, Reclam UB 18357, Reclam, Stuttgart

den Begriff „Gefühl“ als Oberbegriff von acht Untergruppen von Gefühlsausdrücken:

- Leidenschaften. Sie sind starke Gefühle, die uns antreiben. Sie prägen uns ganz und können sich bis hin zum Rausch entwickeln. Das Subjekt steht ihnen mit einem Element von Passivität gegenüber, und manchmal ist der Anteil des Leidens nicht zu übersehen.

- Emotionen sind langwellige Grundtönungen der Existenz und der Weltwahrnehmung, die sich punktuell in Leidenschaft äußern können, ohne dass dies zwingend ist. Beispiele für Emotionen sind Angst und Freude.

- Stimmungen haben wie Emotionen den Charakter von Grundtönungen. Sie beziehen sich allerdings auf einzelne Situationen, in denen sie ein Element des Überindividuellen haben, auch wenn ein Einzelner sie durchaus an sich wahrnehmen kann. Stimmungen können sehr unterschiedlich erlebt werden, ihnen kommt überhaupt eine merkwürdige Ungreifbarkeit zu. Neben Substantiven benutzen wir Adjektive, um sie umzuschreiben. Martin Heidegger charakterisiert sie in Sein und Zeit eindrücklich: „Die Stimmung überfällt. Sie kommt weder von „Außen“ noch von „Innen“, sondern steigt als Weise des In-der-Welt-Seins aus diesem selbst auf“. Ein Beispiel für eine Stimmung ist Fröhlichkeit.

- Empfindungen sind Körpergefühle. In der analytischen Philosophie sind vor allem die Schmerzen als Körpergefühl die am meisten diskutierten Gefühle. Sexuelle Lust ist dagegen die am meisten interessierende Empfindung. Bei Empfindungen steht die leibliche Beteiligung im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie werden häufig als Wahrnehmung nach innen verstanden. Weitere Beispiele sind Ekel und Depression.

- Ob sinnliche Wahrnehmungen, die Wahrnehmungen unserer fünf Sinne, zu den Gefühlen gehören, ist nicht eindeutig. Das erlebte Spüren von Wahrnehmungen führt zu Gefühlen. Wahrnehmungen verweisen begrifflich auf Äußeres, Empfindungen auf Inneres.

- Hinter jeder Handlung lässt sich ein Wunsch rekonstruieren.

- Erkennende Gefühle zeigen ohne große Begrifflichkeit Sachverhalte auf, erahnen den Charakter von Personen und führen zu Erkenntnissen, wo der Verstand noch ohne Erkenntnis bliebe. Ein Beispiel für ein erkennendes Gefühl ist Intuition.

- Gefühlstugenden haben, anders als eine sich rein kognitiv verstehende Ethik behauptet, einen starken Gefühlsanteil. Dies gilt natürlich auch für Laster, deren Gefühlsanteil den Tugenden in nichts nahe steht. Beispiele für Gefühls(un)tugenden sind Geiz, Gewissen und Mitleid.

Innerhalb dieser Typologie der Gefühle lassen sich zwei konzentrische Kreise denken: In einen inneren Kreis gehören die Leidenschaften, die Emotionen, die Stimmungen und die Empfindungen, die die Kernbedeutung des Begriffs der Gefühle ausmachen. Den äußeren Kreis bilden die sinnlichen Wahrnehmungen, die Wünsche, die erkennenden Gefühle und die Gefühlstugenden. Hierbei haben wir es mit Gefühlen zu tun, die gleichsam in andere Bereiche menschlicher Fähigkeiten hineinragen.

Es ist nicht möglich, keine Gefühle zu haben. Gefühle prägen uns immer. Was irrtümlich als gefühllos daherkommt, sind andere Gefühle, Gefühle der Distanz, der Disziplinierung. Gefühle dienen dazu, die Perspektive einer Besonderheit hervorzubringen und so eine innere Beteiligung zu schaffen. Sie sperren sich gegen allgemeine Worte, weil diese gerade das Spezifische des leiblich-seelischen Involviertseins verfehlen. Gefühle tönen die Welterschließung und die Wahrnehmung von uns und anderen: „Gefühle sind Atmosphären, die freilich nicht wie das Wetter physikalisch interpretierbar sind, diesem aber in anderer Hinsicht ähneln“ (Schmitz).

Hastedt plädiert dafür, die Vielfalt der Gefühle zuzulassen, diese nicht zu eliminieren. In der Philosophie haben dagegen seit Descartes Reduktionsprogramme die Oberhand. Manche reduzieren Gefühle auf bewusste Gefühle, auf Handlungen, auf Empfindungen oder auf Intentionalität. Im 20. Jahrhundert nahm die Orientierung der Gefühle auf Handlungen eine prominente Rolle ein. Im Hintergrund steht dabei der psychologische Behaviorismus, der in Kritik an der Gleichsetzung von Gefühlen mit bewussten Gefühlen nach Hastedt den Verhaltensbezug des Mentalen überzeichnet. Die Reduktion von Gefühlen auf Empfindungen in der analytischen Philosophie hat dagegen vor allem innertheoretische Gründe und resultiert nicht aus einer Beobachtung der Phänomene.

Gefühle gehören zur biologischen Grundausstattung des Menschen; gleichwohl bedeutet es eine Kulturleistung, Gefühle differenziert auszubilden und Worte für sie zu finden. Die Kulturleistung besteht nicht darin, die Natürlichkeit des Gefühls zu verlassen, vielmehr ist in der Natur des Menschen eine Offenheit für die kulturelle Ausgestaltung angelegt. Neurologen sprechen in diesem Zusammenhang von der Plastizität des Gehirns.

Wenn Gefühle im Inneren zu finden sind, liegt es nahe zu unterstellen, dass sie authentisch und privat nur mir selbst zugänglich sind. Hastedt hält diese Vorstellung von den eigenen Wünschen und Gefühlen für falsch. Gefühle sind nicht vor aller Interpretation unabhängig vorhanden, als wenn sie bloß Ereignisse in unserem Inneren wären, mit denen wir gar nichts zu tun haben. Es gehört zu den Irrtümern der cartesianischen Tradition, so Hastedt, wenn man meint, dass Gefühle immer recht haben, weil sie Fakten unseres Innenlebens sind. Den Zugang zur eigenen Innerlichkeit als unkorrigierbar und privilegiert zu deuten ist ein Fehlurteil, das der Vielschichtigkeit der menschlichen Gefühle nicht gerecht wird. Denn es gibt kein wahres Ich: Was wir als Ich bezeichnen, ist jeweils unsere eigene Interpretation. Deshalb können wir uns auch nicht als authentische Urheber und Autoren unserer Gefühle verstehen.

Heute leben wir in einer Zeit der mit der Rationalisierung einhergehenden Kälte, die als zunehmend schwer lebbar empfunden wird. Deshalb muss die Gefühlswelt viel Aufwand betreiben, um die Rationalität und die Kälte zu kompensieren. Es wird ein schamloser Kult mit Gefühlen betrieben, und diese werden nach Belieben manipuliert durch Praktiken, die Wohlgefühle hervorrufen sollen.
Gleichzeitig werden Gefühle in ihrer Wichtigkeit nicht zugelassen, deswegen kommen sie an teilweise wenig erwünschten Stellen zur Geltung. Was wir haben, ist eine Erlebniskultur. Dabei wird aus einem Konzert ein Ereignis, ein Event, das durch Ästhetisierung und Werbung überhöht erlebt werden soll. Aber, so Hastedt, Erlebnisse sind vor allem die gespielten Leidenschaften des modernen Menschen, in dessen gedämpftem Leben echte Leidenschaften immer weniger vorkommen. Eigentlich, so das Fazit, ist der kompensatorische Erlebniskult der Gefühle ohne spezifischen Gegenstand; es handelt sich bloß um ein Deutungsphänomen. Für Hastedt hat speziell in Deutschland eine kompensatorische Aufwertung der Gefühle eine lange und verhängnisvolle Tradition. Vor allem sieht er die deutsche Romantik, den Wagnerkult und den Irrationalismus von Schopenhauer als markante Daten im Irrationalismus des deutschen Sonderweges.

Gefühle reichen nicht aus, richtige von falschen Handlungen zu unterscheiden. Sie sind in dieser Hinsicht Material für die Urteilskraft und für eine rationale Reflexion, die entscheidet, ob die Gefühle Recht oder Unrecht haben. Hastedt plädiert für eine rationale Aufwertung der Gefühle verbunden mit einem erweiterten Vernunftbegriff, der die „Machete der utilitaristischen Rationalität“ (Nussbaum) vermeidet. Während die Vernunft ohne Verkürzung auf Utilitarismus, Instrumentalisierung und Rationalisierung zu denken ist, ist es sinnvoll, auf Seiten des Gefühls das Kognitive einzubeziehen. So lässt sich eine begriffliche Annäherung von Gefühl und Vernunft denken, wenn auf beiden Seiten reduktive Begriffsfestlegungen vermieden werden.