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ESSAY

Fulda, Hans Friedrich: Die Hegelforschung am Ende unseres Jahrhunderts

Die  Hegelforschung am

Ende unseres Jahrhunderts

Rückblick und Fazit von Hans Friedrich Fulda

 

Wie Hegel 1970 gesehen wurde

 1970 näherte sich die Revitalisierung der marxistischen Diskussion ihrem Höhe­punkt. Für die Wirkung, die Hegel damals ‑ vor allem bei uns in Deutschland ‑ hatte, und die Weise, in der er sich darstellte, sind mindestens sechs Sachver­haltskomplexe charakteristisch gewesen:

 1. Innerhalb des Marxismus stehen zwei kontroverse Einstellungen zur Hegelschen Philosophie einander gegenüber. Mit dem "orthodoxen" dialektischen und histori­schen Materialismus konkurriert ein "un­dogmati­scher", intellektuell anspruchs­vol­ler Aktio­nismus, der nicht nur auf radikale Kapitalis­muskritik ausgeht, son­dern auch auf Erneue­rung des Sozialismus drängt. Er entnimmt Hegel andere Anregungspoten­tiale, als sie das in den sozialistischen Ländern verwalte­te, zum orthodoxen Mar­xismus geschlagene "Hegelsche Erbe" anbietet.

 2. Wie in Zeiten des Kalten Krieges und während der frühen 30er Jahre hat sich dadurch erneut auch der Kontrast zwischen marxistischen und "bürgerlichen" Formen des Umgangs mit Hegel verschärft. Auf der einen Seite erfährt die Philosophie Hegels eine rigide gesellschaftskritische Revision. Nur als kritische Dauerreflexion über politi­sche, gesellschaftliche und wis­senschaftliche Prozesse soll sie noch Be­rechtigung haben. Auf der anderen, "bür­gerlichen" Seite aber besitzt die Hegelsche Philosophie längst ihre Bedeutung als Korrektiv hiergegen.

3. Die forschende Beschäftigung mit Hegel ist aber nicht nur ein Korrektiv gegen sol­che Reduktionstendenzen; die Hegel­sche Philosophie empfiehlt sich überhaupt als wichtige Gegeninstanz gegen charak­teristi­sche Denkversuche unseres Jahrhun­derts: vor ihr sollen diese Versuche ihre überlege­ne Berechtigung ausweisen oder sich als Partialphilosophien und damit als kompen­sationsbedürftig darstellen. Damit ist die Hegelsche Philosophie Gegenstand nicht nur der Erinnerung, sondern minde­stens ebenso­sehr der Orientierungssuche und Beurtei­lung.

4. In der Perspektive der Beurteilung heben sich drei Einstellungen deutlich voneinander ab: Zum ersten die vor allem durch Popper beeinflußte Verdammung und Verachtung der Hegelschen Philoso­phie als einer Heils­lehre und Herr­schaftsideologie ‑ im scharfen Kontrast zur hohen Wertschätzung, die He-gel inzwi­schen bei der Nachkriegsgenera­tion West­deutschlands genießt. Diese Wert­schätzung geht außer auf den Marxismus zum zwei­ten bei den einen zurück auf Joa­chim Ritters Anregung, Hegel als den tief­sinnigsten Deuter der Moderne zu verste­hen; als einen, der ‑ die Erfahrungen der Fran­zösischen Revolution verarbeitend ‑ insbe­sondere über das Aufkommen der in-du­striellen bürgerlichen Arbeitsgesell­schaft nachdenkt. Im Unter­schied hierzu geht zum dritten die Wert­schätzung Hegels bei ande­ren vor allem zurück auf die durch Gada­mer vermittelte Auseinanderset­zung mit Heideggers Ver­such, die abend­län­dische Metaphysik zu überwinden. Hei­deg­ger sprach Hegel die ausgezeichnete Rolle eines Vollenders der abendländischen Metaphy­sik zu und begab sich dabei, wie besonders von Gadamer immer wieder betont wurde, mehr als eingestanden in die Nachbarschaft zur Hegelschen Philosophie, so daß es gar nicht leicht schien, seinen Denkversuch vom He-gelschen Unterneh­men deutlich abzu­grenzen und gegen dieses Unterneh­men erfolgreich zu ver­teidigen. Für Gada­mer ergab sich daraus die Forderung, an Hegels Idee einer

spekulativen Logik zu zeigen, daß deren Dialektik sich in Hermeneutik zurückneh­men muß. Doch die Vagheit, in der die Erfüllung dieser Rücknahmeforderung ver­blieb, konnte ebenso gut als Indiz dafür gelten, daß man sich durch eingehendere hermeneutische Beschäftigung mit Hegel und mit dem Kontext seiner Philosophie vom Einfluß Heideggers freimachen sollte. Konnten nicht die in der angelsächsischen, analytischen Philosophie entwickelten Ver­fahrensweisen, geschickt genutzt, zu dieser Verselbständigung des hermeneuti­schen In-teresses an Hegel beitragen?

5. Für letzteres spricht um 1970 umso mehr, als sich just um diese Zeit in der angel­säch­sischen Philosophie eine Wendung anbahnt. Die zur unvoreingenommenen Untersuchung natürlicher Sprachen über­gegangene analyti­sche Philosophie zeigt sich nun gegenüber Themen der kontinen­talen philosophischen Tradition wieder aufgeschlossener. Hegel, den man während der fünfziger Jahre in den USA nur noch für einen bedeutenden Philo­sophen hatte halten können, wenn man be-reit war, als Narr oder Dumm­kopf zu gel­ten, gelangt wieder zu An­sehen. Es kommt sogar zur Gründung einer Hegel Society of America, die 1970 ihren ersten Kongreß über "Hegel and the Sciences" veranstaltet. In den zehn Jahren zwischen 1965 und 1975 wird über Hegel auf eng­lisch schät-zungsweise soviel veröffentlicht wie bis dahin im ganzen Jahrhundert nicht; und kein geringerer als Wilfrid Sellars, der seine philosophische Posi­tion in den Sechzi­gern durch Variatio­nen Kantischer Themen zu verdeut­lichen versucht hatte, fragt schon, ob denn ‑ nachdem die Philosophie Mitte der sech­ziger Jahre zum zweiten Mal "zu­rück zu Kant" gegangen sei ‑ nun ein hege­liani­scher "trip" noch lange auf sich warten lassen könne. Ganz im Gegen­satz zur Ernst­haftigkeit dieses Interesses an einem neuen, alte Vorurteile und Klischees hinter sich lassenden Ver­ständnis der Hegelschen Phi­losophie tritt aller­dings in Kreisen des fran­zösischen Strukturalismus neben ge­lehrte Hegel‑­Studien in der Nach­folge Jean Hyp­polites just um diese Zeit eine eher spiele­risch-­assoziative Verwer­tung der Früchte solcher Gelehrsamkeit.

6. Die Lebhaftigkeit der innermarxisti­schen und überhaupt linksintellektuellen He­gel­Diskussion ‑ aber auch die mili­tante libe­rale Polemik gegen Hegel und Marx als zwei verschwisterte, wenn­gleich unterein­ander verfeindete Weg­bereiter des Totali­tarismus ‑ hatte der Meinung Vorschub geleistet, die intensive Be­schäftigung mit Hegel sei der "bür­gerlichen" Philosophie unseres Jahrhun­derts lediglich von außen aufgedrängt wor­den. Diese Beschäftigung diene vornehmlich dem Zweck, den Mar­xis­mus abzuwehren. Sie sei daher auch zu philosophischer Un­frucht­barkeit ver­dammt. So denken um 1970 nicht nur viele linke Intellektuelle, sondern auch andere, wie z.B. Karl Löwith.

Der Wandel der Hegel-Rezeption seit 1970

Was hat sich am Muster, innerhalb dessen uns Hegels Philosophie um 1970 entge­gen­trat, während der letzten rund fünf­undzwan­zig Jahre verändert und wie sind diese Veränderungen im Rahmen der Hegelfor­schung zu bewerten?

1. Die Theorie des orthodoxen Marxismus ist nun in ganz Europa ihrer stärksten insti­tu­tionellen Stütze beraubt und als Legitima­tionsideologie politischer Regime wertlos geworden. Die wenigen, die ihr noch Kre­dit geben, sind wahrscheinlich mehr denn je darauf angewiesen, sich an Hegelsche Philo­sopheme zu halten. Der Fehlschlag des sozialistischen Mensch­heitsex­periments hat ja nicht gerade dazu gedient, die katastro­phentheoretische Kern­prognose der Marx­schen Ökonomiekritik zu be­stätigen. In der Neuen Linken blieb der aus Hegel gezogene Nutzen ziemlich gering. Vorsich­tige Ansät­ze, von ihm aus den DDR‑Mar­xismus zu re-formieren, sind dann in der Affäre um Pe-ter Ruben Anfang der acht­ziger Jahre durch parteiamtliche Maßrege­lungen abge­würgt worden und werden se­lbst vom Initia­tor dieser Ansätze inzwi­schen nur noch hi-storisch gesehen. Grund zu Häme oder Groll hierüber besteht nicht. Vermutlich exemplifiziert die ganze Ge­schichte des realen und irrealen Sozialis­mus die Hegel­sche Behauptung, daß die Weltge­schichte das Weltgericht ist.

2. Die Gretchenfrage im Hinblick auf Hegel ist nicht mehr "Wie haltet ihr's mit Marx?"; und mit dem Verstummen dieser Frage er-übrigt sich auch eine Reihe von Polaritä­ten, in denen Hegels Philosophie jeweils nach Standpunkt für aktuell oder obsolet, anzie­hend oder abstoßend gehalten wurde. Ich meine Fragen wie die, ob man die He­gel­sche Philosophie z.B. ideologie­kritisch oder hermeneutisch betrachtet. Die Zeit solcher Polarisierungen ist vorbei.

3. Trotzdem besteht das Interesse an Hegel fort. Unplausibel geworden ist damit auch die Meinung, dieses Interesse sei nur zur Abwehr des Marxismus entstan­den und un-terhalten. In Wahrheit näm­lich hatte sich die histo­risch‑hermeneutische Wendung, welche die westdeutsche Philosophie gegen Ende der fünfziger Jahre nahm, vor allem aus dem Versuch ergeben, sich dem annihi­lie­renden Sog zu entziehen, der zu Beginn dieses Jahrzehnts vom Denken des späten Heideg­ger aus­gegangen war. Her­vorgerufen war dieser Versuch vor allem durch die Über­zeugung, daß die Verweigerungshal­tung, die der späte Heideg­ger der modernen Welt entgegenbrachte, keine angemes­sene Reak­tion auf die von deut­scher Ideologie vorbe­reiteten, von deutschen Tätern verüb­ten und von einem deut­schen Regime zur europäi­schen Kata­strophe ge­machten Ver­brechen war und daß das im­mer wortkarger werden­de Hei­deggersche "Andenken" an ein rät­selhaftes Sein gewiß nicht das unaus­weich­liche Fazit aus zwei­einhalbtausend Jahren euro­päischer Denkge­schichte zog. Aber nicht nur in Bezug auf mar­xistische Einstel­lun­gen zu Hegel ist seit 1970 ein drastischer Wandel eingetreten.

4. Unglaubwürdig geworden ist die Hei­deg­ger mit Marx verbindende These, in Hegel vollende sich ein für allemal die Ge­schichte der Metaphysik und der nach Hegel erfolgte Bruch mit aller systemati­schen Philosophie, ja sogar Zusam­menbruch unserer ganzen bürger­lichen Kultur sei unwiderruflich. Die These ist nicht nur dadurch diskreditiert, daß die analytische Philosophie wie die angelsäch­sische Philo­sophie insgesamt, weithin aber auch die Philosophie in Frank­reich von solchen epochalen Ver­siche­rungen un­beeindruckt blieb. Inzwi­schen werden ja selbst unter hartgesot­tenen Natu­ralisten wieder meta­physische Probleme entdeckt, die vor die Frage stellen, in einer wie ver­standenen Dis­ziplin sie eigentlich ihren Zusammen­hang haben sollen. Unplausibel ist die These auch dadurch geworden, daß wir durch die historisch‑hermeneutische Er­forschung des Kantischen sowie nach­kan­ti-schen Idealismus die Hegelsche Phi­loso­phie viel besser als zuvor in ihrem eigenen Kon­text sehen gelernt haben und daß ihr in diesem Kontext keineswegs die Sonder­rolle abschließen­der Vollendung zukommt, in der Hegel selbst und seine unmittel­baren Schü­ler sie gerne genommen wissen wollten.

5. So gut wie verstummt ist ferner die Pole­mik gegen Hegel, die vom kriti­schen Ra­tionalis­mus und verwandten, militant liber­alisti­schen Positionen aus­gegangen war. Die postmoderne, eher journali­stische Absage an die "Meisterdenker" hingegen hat nicht so viel Resonanz gefunden, daß man sich ih-retwegen wieder einmal an eine Apologie Hegels machen müßte. Was immer ihre Be-rech­tigung gegenüber einer von Marx inspi­rierten, für ihn oder gegen ihn eingenomme­nen Geschichtsbetrachtung sein mag ‑ dem mit den philosophischen Fragen Hegels Be-faßten präsentiert sie nur ein neues Pot­pour­ri an Stereotypen und abwegi­gen Ge­mein­plätzen. Daß man mit solchen Mitteln nicht dahin gelangt, über Hegel Bescheid zu wis-sen, hat sich schon an der linksintellek­tuel­len Hegelrezeption gezeigt. Wer nach eiliger Lektüre einiger Hegelscher Sätze erklärt, "so können wir nicht mehr denken", dem braucht man nur zu bestäti­gen, daß er nicht mehr kann.

6. Für die Einstellung eingehender her­me-neutischer Beschäftigung mit Hegel, die in den letzten Jahrzehnten entstan­den ist, scheint mir charakteristisch, daß sie sich viel stärker als frühere Hegelia­nismen abge­löst hat von den besonderen Gegeben­heiten der jeweiligen nationalen intellek­tuellen Kultur, innerhalb deren die Be­schäftigung betrieben wird. Sie ist inter­nationaler und in ihren Interessen wis­senschaftlicher gewor­den; und sie hat sich damit im Typus der forschen­den Ausein­andersetzung mit ande­ren großen Philoso­phen der Vergangenheit angenähert. Vor­ausgesetzt, daß es uns um Forschung geht, kann auch das nur als er-freulich betrachtet werden.

7. Die Forschung selbst ‑ im Unterschied zur Einstellung, der sie sich verdankt ‑ geht komplementär zum soeben Dargeleg­ten viel genauer als früher auf die Beson­d­erheiten des geistigen Umfeldes ein, inner­halb des­sen die Hegelsche Philoso­phie entstan­den ist und das sie dann ihrer­seits geprägt hat: Eine Kette ineinander­greifen­der, großenteils mit histo­risch‑kritischen Text­editionen ver­bundener Untersuchun­gen zum jungen und zum Jenenser Hegel hat uns von der Genese des Hegelschen Sy­stems inzwischen ein so detailliertes Bild vermittelt, wie man es sich zu Anfang der 70er Jahre, als erst wenige Glieder dieser Kette geschmiedet waren, gewiß nicht hätte machen können. Durch neu edierte Dokumente und zahl­reiche Publika­tionen von Vor­lesungsnachschriften be­sitzen wir auch über Hegels unmittelbares Wirken in Jena, Heidelberg und Berlin viel mehr an Infor­mation, als die schon vor 25 Jahren vor­liegenden Brief‑ und Werkaus­gaben ent­halten. Die Konstellationsfor­schung zum Ursprung des Deut­schen Idea­lismus gibt und verspricht uns ganz neue Auf­schlüsse über Evidenzen, aus denen sich die "Ge­dankenexplosion" dieses Ursprungs nährte. Um 1970 hätte man von ihnen nur träu­men können.

8. In der weiteren Umgebung dieser histo­risch-­philologischen und detektivi­schen Arbeit ist die ideengeschichtliche Literatur über The­men der Hegelschen Philosophie seit 1970 zu einem kaum noch überblick­baren Strom geworden. Zusätzlich dazu, daß sie enorm in die Breite gegangen ist, gibt sie oft auch präziser als ältere Bücher Aus­kunft über die Ziele, auf die Hegels Denken aus­gerichtet war, über die Motive, die es vorangetrieben haben, und die Pro­ble­me, die es dabei zu bewältigen ver­suchte. In ihren besten Zeug­nissen wer­den einzelne Gedanken Hegels oder ihr sy­stematischer Zusammenhang er­folgreich identifiziert als innovative Ant­worten auf Fragestellungen oder von Hegel allererst entdeckte Probleme ihrer unmittel­baren Vorgeschichte oder älterer philosophi­scher Tradition, mit der sie gesättigt sind; und indem Hegels Gedan­ken als solche Ant­worten auch diskutiert wer­den, zeigt sich meistens, daß sich ihr Bezug auf Fragen, die unabhängig von Hegel für uns Ak­tuali­tät haben, fast von selbst ergibt.

9. Schließlich und nicht zuletzt trägt we­nig­stens ein Teil dieser Untersuchungen ‑ fast möchte man sagen: erstmals ‑ Er­hebliches zum Verständnis der Begriffs­form bei, in welcher die großen sy­stematischen Werke Hegels verfaßt sind und in deren "logi­schem Geiste" Hegel sie laut Vorrede der Rechts­philosophie auch "gefaßt und beur­teilt" wissen woll­te.

Die Beschäftigung mit Hegel heute

Die Chancen einer produktiven Beschäf­ti-gung mit Hegel sind heute weitaus gün­sti-ger als vor 25 Jahren. Nachdem die Marx-sche Herausforderung der ganzen Philoso­phie entfallen, Heideggers Frage nach einem anderen Anfang des Denkens auch bei den Schülern verstummt, der vom Kriti­schen Rationalismus und verwandten Strö­mungen erhobene Vorwort des Totali­taris­mus zu­mindest kleinlaut geworden ist, wäh­rend der Szientismus nebst anderen Varian­ten der analytischen Philosophie in die Defensive geraten sind, sodaß sie als große, Energien bündelnde Gegeninstanzen aus­scheiden ‑ kann da nicht die hermeneu­tische Philoso­phie sich von äußeren Irrita­tionen unbehel­ligt in der gesamten Tradition der abendlän­dischen Philosophie ergehen, und kann sie dabei nicht auch Hegel unge­schmälert die Auf­merksamkeit widmen, die ihm wir­kungsge­schichtlich gesehen zu­kommt?

Ein so wacher intellektueller Zeitzeuge wie Richard J. Bernstein hat sich 1977 im Blick auf die analytische Philosophie nicht mehr gefragt, ob Hegel jetzt aktuell sei, sondern nur noch, "warum?". Eine kurze und bündige Antwort auf diese Frage hat im letzten Jahr Bernard Bour­geois gege­ben: Die Aktualität Hegels im sozial­politischen Bereich beruhe darauf, daß die fundamenta­len Probleme, die Hegel in diesem Bereich ausgemacht hat, auch noch die unseren sind, ja z.T. sogar mehr und mehr die unseren werden, und das im interstaatlichen Kontext ebenso wie im innerstaatlichen.

In den 80er Jahren ist mit Recht die Kon­frontation von Kant und Hegel in den Vor­dergrund des Interesses gerückt ‑ nicht bloß als Sache eines ausschließenden Entweder ­Oder in Bezug auf die Philoso­phiekonzepte beider im ganzen, sondern als Aufgabe synoptischer Arbeit an Pro­blemen, die sich nur für einen von beiden oder jedenfalls nicht für beide in gleicher Weise ergeben. Die Verfolgung dieses Interesses enthält in meinen Augen ein Potential an Einsichten, das bei weiten nicht ausgeschöpft ist. Im Bereich der Philosophie des Praktischen aber sollte wohl viel stärker, als das bisher geschehen ist, Kants Metaphysik der Sitten in die Diskussion und Konfrontation mit der Hegelschen Rechtsphilosophie einbezogen werden. Es sollten auch ‑ nicht nur in die­sem Bereich ‑ stärker die unausdrück­lichen und indirekten Hegelschen Bezug­nahmen auf Kant berücksichtigt werden; denn im Ungesagten und in Darstellungen, in denen Kants Gedanken von Hegel still­schweigend verändert werden, liegen oft die interessan­testen Ergebnisse Hegelscher Arbeit an Kantischen Problemen verbor­gen. Im Hin-blick auf den institutionellen Rahmen sol­cher Hegel und Kant gemein­sam gewidme­ten Arbeit sollte vielleicht auch stärker als bisher die Zusammenar­beit mit den der Kantforschung gewid­meten Gesellschaften gesucht werden; und was für Hegel und Kant exemplarisch gilt, müßte wohl über kurz oder lang auch in Bezug auf Hegel und Fichte sowie ‑ wie­der einmal ‑ Hegel und Schelling prak­tiziert werden.

Editorische Arbeit, entwicklungsge­schicht-liche Untersuchungen zum Denken einzel­ner Autoren oder zu deren Diskus­sionszu­sammenhang und ideenhisto­rische For­schungen allgemein geistesgeschichtli­chen Zuschnitts ‑ all das verlangt sehr viel Entsa­gung im Hinblick auf philo­sophisch oft hö-her respektierte Arbeit an Problemen, die bereits als solche iden­tifiziert sind und womöglich im Rahmen systematischer Phi-losophie unserer Gegen­wart traktiert wer­den. Wo diese Entsagung zu leicht fällt und nicht durch Aufspüren und Vergegenwärti­gen älterer, meist nicht gelöster, sondern nur verdrängter Probleme kompensiert wird, breitet sich in solch hi­storischer Arbeit und Forschung rasch ein doxographischer und philologischer Nihilis­mus aus, in dem die Beschäftigung mit Geschichtlichem aufhört, philosophisch zu sein. Die Gefahr, dieser Verfallstendenz zu erliegen, ist umso grös­ser, je selbstläu­figer eine philosophiehistori­sche For­schung ge­worden ist und je mehr sie sich dabei der Arbeit anderer histori­scher Geisteswissenschaften angleicht. Ich fürch­te, manches Produkt der Hegelfor­schung hat dieser Tendenz schon zu weit nach­gegeben. Man sollte ihr mit einer For­derung Rüdiger Bubners begegnen: das In-novative an He­gels Gedanken auf­zuspüren und es in erster Linie als solches auf seine Überzeugungs­kraft hin zu prüfen.

In diesen Zusammenhang gehört aber wohl noch ein weiterer Punkt: Alles in allem ist ‑ besonders bei uns Deutschen, im Unter­schied beispielsweise zu Italien und Frank­reich ‑ die extensive denk-, entwick­lungs- und ideenhistorische Forschung, aber auch die auf Erschließung der Hegel­schen Vorle­sungen gerichtete Arbeit dem eindringenden Verständnis der großen systematischen Wer-ke Hegels nicht so zugute gekommen, wie man sich das ein­mal von all diesen Aktivi­täten versprochen haben mag. Man braucht nur einen Kom­mentar wie den von Michael Wolff über Hegels Behandlung des Kör­per‑Seele‑Pro­blems in § 389 der En­cyclopädie" (1830) zu studieren, um zu sehen, wie viel unser Verständnis dieser Werke von solch an­derer Art des Umgangs mit ihnen profiti­eren kann. Ich denke, wir brauchen in Zukunft mehr, als wir bisher besitzen, an streng kommentierender He­gel‑Literatur. Jeder Schritt der Interpreta­tion, mit dem über die möglichst genaue Auslegung eines bestimmten Textstücks hinausgegan­gen wird, sollte darin deutlich von der Textauslegung abgehoben werden und ihr nachfolgen.

Die philologisch‑historische Beschäftigung mit Hegel, so schrieb Löwith 1968 in der Einleitung zu seiner kleinen Studienaus­gabe Hegelscher Texte, sei so nützlich und legi­tim wie steril, "wenn sie nicht auch neue Antriebe und Gesichtspunkte für das Stu­dium Hegels hervorbringt". Wo könn­ten solche Antriebe und Gesichtspunkte her­kommen? In einer Hinsicht, deren Relevanz Löwith gewiß nicht bestritten hätte, ist das leicht zu sagen: aus den weltgeschichtlichen Veränderungen, deren Zeugen wir im Wechsel vom vorletzten zum letzten Jahr­zehnt unseres Jahrhunderts geworden sind. Dieser Umbruch gibt der Hegelforschung beispielsweise Anlaß zu fragen, worin eigentlich die philosophisch interessanten Gründe dafür liegen, daß aus der ideologie­kritischen Marxschen For­derung, die Philo­sophie zu verwirklichen, eine der fatalsten Ideologien unseres Jahr­hunderts geworden ist und warum diese Ideologie vor dem Weltgericht nicht be­stehen konnte.

Allerdings befürchte ich, daß der Anschein, die hermeneutische Philosophie könne von sich aus im Umgang mit Hegel jetzt erst richtig auf Erfolgskurs gehen, sich als trüge­risch erweisen wird. Die intensive Beschäf­tigung mit Hegel nach dem Krieg hatte für viele (auch für mich) zu einem guten Teil die korrektive Funktion, es all denen, die Hegel ständig im Munde führ­ten, sich aber auf seine Gedanken gar nicht ernsthaft einließen, zu zeigen, wie man mit ihm umgehen sollte und wie schwer es ist, über ihn hinaus zu gelangen. Anders als der Neuhegelianismus der 30er Jahre zehrte sie nicht von der illusionären Hoffnung, unse­rer intellektuellen Kultur durch eine vage hege­lianisierende Philoso­phie wieder etwas von jener Einheit zu­rückgeben zu können, die im 19. Jahrhun­dert verloren gegangen schien. Die neuere Hegelforschung lebte vom Widerspruch gegen diejenigen, die glaubten, aus der Feststellung des illusionä­ren Charakters jener Hoffnung vorschnell Rückschlüsse auf die geringe Leistungsfä­higkeit der Hegelschen Philosophie ziehen zu können und die darum der einen oder anderen Reduktionsphilosophie unseres Jahrhun­derts den Vorzug gaben. Sie war also polemisch abhängig von den Veräch­tern, falschen Freunden und Ignoranten der Hegelschen Philosophie. Von ernsthaften Hegel‑Studien, die im Ambiente der analy­tischen Philosophie, der Postmoderne oder des Strukturalismus betrieben werden, gilt vermutlich etwas Ähnliches. Daraus ergibt sich die Frage, und die ist im Hinblick auf hermeneutisch reflektierte und gebildete Beschäftigung mit Hegel sogar noch dring­licher: Wie soll sich ein wirkungsge­schichtliches Bewußtsein artikulieren, wenn die Verächter verstummen, die fal­schen Freunde sich verlaufen und die Wirkung amorph wird?

Ich kann mir keine bessere Antwort auf diese Frage denken als die, daß wir uns nunmehr von der Hegelschen Philosophie selber herausfordern lassen müssen. Die Richtung aber, aus der diese Herausfor­de­rung an uns ergeht, sollte eine sein, in die unsere Forschung bisher schon ten­dierte und in der wir nur ein Stück weiter­gehen müs­sen, um uns der neuen Provoka­tion auszu­setzen. Wir wissen inzwischen, daß im Mit-telpunkt der an Hegel zu adres­sierenden Frage nicht das angebliche Ende der Meta­physik zu stehen hat oder ein mit ihrer "Verwindung" bzw. "kritischen Dar­stellung" verbundener Aufgabenkomplex ‑ geschwei­ge denn eine angeblich Hegelsche "dialekti­sche Methode" oder ihre Frucht­barkeit im Felde kritischer Reflexion der Gesellschaft, in der wir leben. Wir wissen auch, daß vor Hegels praktischer Philoso­phie das eigenar­tige Hegelsche Konzept einer Fundamental­philosophie Vorrang verdient, daß diese Fundamental­philosophie sowohl philosophi­sche Logik als auch eigentliche Metaphysik sein soll, und daß man, anstatt ihr Konzept groß­zügig einer angeblich abgeschlossenen Geschichte zuzuschlagen, genau zusehen sollte, worin es besteht. Dazu gehört bei­spielsweise die Frage, ob dieses Meta­physikkonzept eigentlich noch in die von Heidegger skizierte Geschichte der abend­ländischen Ontotheologie hineingehört; ob es diese nicht vielmehr bereits ablöst. Ich glaube, daß das letztere der Fall ist und daß man Hegels Konzept von Metaphysik zu­treffender als ein systematisches Demen­ti aller in eine Ontotheologie gesetzten Erwar­tungen (einschließlich derjenigen einer Definition des Absoluten) begreift. Nur wenn man es so versteht, kann man ernst­haft diskutieren, was für und wider die argumentative Durchführbarkeit des Hegel­schen Metaphysikkonzepts zu sagen ist und welche Funktion für andere Teile der Philo­sophie (wie z.B. die "Rechts­philosophie") man ihm guten Gewissens zusprechen oder beim besten Willen nicht zubilligen darf. Und wir wissen nicht zuletzt, daß nur so allmählich Licht ins Dunkel der logisch­methodologischen Fragen einer Hegelschen Philosophie des Geistes, wie übrigens auch einer spekula­tiven Naturphilosophie kom­men kann.

Metaphysik im neuen Hegelschen Sinn rein spekulativer Erkenntnis der Vernunft selbst ist nicht die ganze Hegelsche Philo­sophie als solche, sondern nur die ihre fundamen­tale Disziplin ausmachende "Lo­gik", die zugleich eine letzte philoso­phische Disziplin ist. Wenn man dem He­gel­schen Idealismus-verständnis gerecht wer­den will, muß man sich eingehend mit beidem be­fassen ‑ mit der Metaphysik ebenso wie auch mit den Funktionen, die ihre Begriffe als "das Logi­sche" in der einen oder an­deren sol­cher Philosophien des Realen haben, wobei diese Funktionen nur zu fassen sind zusammen mit anderem, von ihnen Ver­schiedenem, das ebenfalls zur Hegelschen Philosophie ge­hört. Nur in Konzentration auf beides kann man sich auch Aussicht machen auf ein sach­gemäßes Urteil über Hegels Anspruch, nicht nur die Vernunft selbst, sondern die Wirklichkeit als ver­nünftig zu erkennen. Und nur durch Ver­besserung dieser Aus­sicht darf man sich versprechen, wieder zu einer substantiel­len, systematischen Philo­sophie dessen zu gelangen, was an und für sich recht und gerecht ist, ‑ also etwas auszumachen über ein Recht, das nicht nur in Ideologie und Überbau, Konvention, positiven Gesetzen oder gar bloßen Macht­instrumenten be­steht.

Damit aber kommt nun endlich das Skan­dalon in Sicht, durch das wir uns provo­zieren lassen sollten: Es liegt im Hegel­s­chen Anspruch, nicht nur die Vernunft selbst, sondern auch die Wirklichkeit als vernünftig zu erkennen und es in der eige­nen philosophischen Arbeit nicht bei einem bloßen Erkenntnisanspruch sein Bewenden haben zu lassen, sondern so­wohl den in den Anspruch eingehenden Erkenntnisbegriff zu rechtfertigen als auch das ganze eigene Unternehmen systemati­scher Philosophie als Exemplifikation dieses Begriffs. Gerade Hegel soll im Hinblick auf das­jenige Er­kenntnisproblem, das sich der Philosophie mit ihrem eigenen Erkentnis­anspruch stellt, besonders ernst genommen werden! Es ist aber evident, daß die Philoso­phien unseres Jahrhunderts in dieser Hin­sicht wirklich nicht viel zu­stan­degebracht ‑ ja, sich weit­gehend ab­stinent verhalten haben. Durch Heidegger war das kritische Interesse der Philosophen auf Begriffe gelenkt worden, die sich in Kern­wörtern der abendländi­schen Denk­geschichte nie­dergeschlagen haben. In Bezug auf Er­kenntnisansprüche, die mit der ernsthaften philosophischen Verwen­dung solcher oder anderer Be­griffe in der Regel verbunden waren und der Gründe geltend machenden Rechtfertigung oder Bestreitung bedürfen, blieb Heidegger mißtrauisch, als sei diesen Begriffen selbst schon das Stigma ihrer Fragwürdigkeit oder das Zeichen evidenter Ver­wendbar­keit auf die Stirn geschrieben. Ähnlich hat auch die philoso­phische Her­meneutik nur eine sehr vage umschriebene "hermeneu­tische Erfah­rung" als Basis für die Aus­weisung ihrer auf historisches Verstehen gerichteten An­sprü­che geltend zu machen vermocht. Ent­sprechend lange war die von ihr stimu­lierte Hegelinterpre­tation eher an der He­gelschen Begrifflichkeit als an Fragen möglicher Rechtfertigung von Er­kenntnisansprüchen des in solcher oder anderer Begrifflichkeit betätigten, interpre­tierenden oder interpre­tierten Denkens interessiert. Doch mit dem Ende der Ab­schottung unserer kontinentalen philoso­phischen Tradition gegenüber der angel­sächsichen, analytischen ließ sich das Absehen von Erkenntnisansprüchen und anderen Rechtfertigungsfragen als denen philologischer Belegbarkelt und phänome­nologischer Evidenz nicht mehr aufrechter­halten. Im Gegenteil dürfte inzwischen klar sein, daß nur im Kontext der Bear­beitung epistemologischer Fragen aus­gemacht wer­den kann, ob eine Begriffs­dialektik wie die Hegelsche tatsächlich einer Zurücknahme in Hermeneutik bedarf oder ob nicht vielmehr umgekehrt eine Hermeneutik eigentlich der Begründung in spekulativer Philosophie bedürfte, um sich der begrifflichen und argumentativen Schwächen ihrer Selbstver­ständigung und Betätigung zu entledigen.

Unsere Verkettung mit Hegel kommt an der damit angesprochenen philosophiestra­tegi­schen Situation aber erst richtig zum Vor­schein, wenn man die analytische Philoso­phie hier noch näher in Betracht zieht.

Die Aufgabe, zwischen den Prinzipien sittli­cher Einsicht und denen theoretischer, ein­zelwis­senschaftlicher Erkenntnis einen sy­stematischen Zusam­menhang aufzu­decken, macht die Suche nach einem Kon­zept spezi­fisch philosophischer Erkenntnis unvermeid­lich. Nachdem nam­hafte Vertre­ter der ana­lyti­schen Philoso­phie sich "exi­stentiellen" Fragen zuge­wandt haben, die eine Deutung menschli­chen Lebens im ganzen verlan­gen, aber unter eudämonisti­schen Voraus­setzun­gen keine über­zeugende Antwort finden, sollte diese Suche wieder neue Anziehungs­kraft ge­winnen. Dabei ist leicht zu sehen, daß sie nicht erfolgreich werden kann, wenn man sich von der Philosophie der theoreti­schen Wissenschaften ein Er­kenntniskon­zept für alles Erkennen vor­geben läßt. Aber alle Kon­zepte spezifisch phi­losophischer Tätig­keit, die von den kon­kurrierenden Richtun­gen der Philosophie unseres Jahr­hunderts ent­worfen worden sind, versagen an­ge-sichts dieser Aufgabe, oder vielmehr an­gesichts dieser beiden Aufgaben, da es ja nicht nur um die prak­tische Philosophie, sondern auch um eine erkennende Selbst­verstän­digung der Philo­sophie im ganzen geht.

Was ist zu tun, wenn man wissen will, was Hegel hierzu zu sagen hat, und wenn man sich vom diesbezüglichen Erkennt­nisan­spruch Hegels provozieren läßt? Offenkun­dig reicht es dann nicht aus, sich bloß mit Hegels Verständnis von Dialektik oder auch mit dem, was Hegel die Me­thode nennt, zu befassen. Denn in beiden Fällen geht es zunächst bloß um eine Bewegung des Den­kens. Denken und Erkennen aber sind auch bei Hegel nicht einfach dasselbe und selbst wenn man dasjenige Denken, um das es bei Hegels Rede von der Methode geht, nicht nur als ein im philosophischen Denken gedachtes verstehen müßte, als das sich "objektive Gedanken" bewegen, sondern zusätzlich auch als das sich bewegende philoso­phische Denken betrachten dürfte, das wir im Philosophieren zu betätigen haben, ‑ selbst dann ist ja mit der Aufklä­rung der Bewegungsstruktur dieses Denkens keines­wegs eo ipso auch schon die Einsicht zu erwarten, daß sich das so bewegte als erkennend zu erkennen gibt. Es mag sein, daß das nach Hegels Auffassung letzten Endes der Fall ist. Aber daß es sich so verhält, müßte erst in einem sehr auf­wendigen Interpretationsunternehmen ge­zeigt werden und darf jedenfalls nicht von vornherein unterstellt werden mit jenem Begriff des Denkens, der in den Hegelschen Konzepten des Dialektischen und der Me­thode enthalten ist.

Wenn es darum geht, den Hegelschen An­spruch philosophischer Erkenntnis aufzuklä­ren und zu beurteilen, wäre es erst recht eine Verkürzung der Aufgabe, sich zu die­sem Zweck bloß mit Formen der Begrün­dung von Behauptungen in der Hegelschen Philosophie zu befassen oder mit der "Me­thode" als einem rationalen Vorgehen in der Bearbeitung von Stoffen, die sich das philo­sophische Denken vor­geben lassen muß. Nicht einmal der Re­kurs auf das, was Hegel unter einem philo­sophischen Beweis ver­steht, würde hier ausreichen. Denn nicht jede Begründung einer Behauptung, nicht jedes rationale Vorgehen und nicht jeder Beweis führt ohne weiteres zu einer Er­kenntnis; und selbst wenn das nicht gilt von einer philo­sophischen Begründung, einem rationalen philosophischen Vorgehen und einem philosophischen Beweis, muß der Begriff der Erkenntnis, für den es nicht gilt, erst einmal eingeführt und gerechtfertigt wer­den und muß darüber hinaus von einer philosophischen Begründung, einem ratio­nalen philosophischen Vorgehen, einem philosophischen Beweis diesem Erkennt­nisbegriff gemäß erkannt werden, daß jeder Fall von ihnen mit einem Exempel solcher Erkenntnis einhergeht; und das wäre nicht einmal dann gelungen, wenn sich zeigen ließe, daß jeder Fall von ihnen zu einem Wissen führt. Denn zwischen Erkennen und Wissen besteht ein Unter­schied, den Hegel durchaus beachtet hat und der es erlaubt, sowohl von einem Erkennen ohne Wissen als auch einem Wissen ohne Erkennen zu sprechen. So­weit ich die Literatur über­schaue, ist bis jetzt jedoch nicht einmal dieser Unter­schied zum Gegenstand einer gründlichen Untersuchung gemacht worden. Dasselbe gilt vom Hegelschen Konzept eines philo­sophischen Beweises. Geschwei­ge denn ist der Zusammenhang gründlich untersucht, den ein entsprechend bestimmtes Erkennen mit den epistemologisch bedeutsa­men Tätigkeiten philosophischen Denkens haben mag.

Bereits im Hinblick auf das ganz Grund­sätzliche also tun sich hier Forschungs­desi­derate auf, mit deren Erfüllung wir noch sehr am Anfang stehen. Natürlich aber verdient es jedes philosophische Thema, das Hegel systematisch bearbeitet hat, daraufhin erforscht zu werden, ob seine Bearbeitung durch Hegel eigentlich bis zur Erfüllung des spezifischen Erkennt­nisanspruchs gediehen ist, den Hegel ihr zugemutet hat; und wenn das nicht der Fall ist: ob die Bearbeitung des betreffen­den Themas in Fortsetzung des von Hegel Geleisteten wenigstens dahin gebracht werden kann, wohin sie zu bringen Hegel für möglich und erforderlich hielt, ‑ oder ob es Gründe gibt, dies zu verneinen. Das Aufgabenfeld, das die Hegelforschung hier vor sich hat, ist, wie man sieht, sehr um­fangreich. Es erstreckt sich so weit wie die ganze systematische Philosophie Hegel