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FORSCHUNG

Phänomenologie: Hedwig Conrad-Martius

PHÄNOMENOLOGIE

Hedwig Conrad-Martius


Die 1888 als Tochter eines Arztes in Berlin geborene Hedwig Conrad-Martius war eine der ersten Frauen, die in Deutschland ein Universitätsstudium aufnahmen. Sie studierte zuerst in Rostock, dann in Freiburg Geschichte und Literatur, begeisterte sich dann für Philosophie und begann in München mit einem Philosophiestudium. Das schildert Alexandra Elisabeth Pfeiffer in ihrer von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz betreuten Doktorarbeit

Pfeiffer, A.E.: Hedwig Conrad-Martius: Eine phänomenologische Sicht auf Natur und Welt. 232 S., kt., € 34.—, 2005, Orbis Phaenomenologicus, Studien Band 5, Königshausen und Neumann, Würzburg

Hedwig Conrad-Martius begeistert sich in München für die Phänomenologie und wird Mitglied des von Theodor Lipps begründeten „Akademischen Vereins für Psychologie“, in dem die Schüler Lipps’ im Sinne der Phänomenologie wirken.

1911 wechselt sie nach Göttingen und wird dort als erste von drei Frauen (auf sie folgen Edith Stein und Gerda Walther) in den Schülerkreis Husserls aufgenommen. Sie gehört damit zum „Urkreis der Phänomenologen“ und ist Teil derjenigen Bewegung, die später München-Göttinger-Phänomenologenschule genannt werden wird. 1912 (sie ist zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt) gewinnt sie mit der Schrift Die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Positivismus einen von der philosophischen Fakultät Göttingen ausgeschriebenen Wettbewerb. In Göttingen darf sie aufgrund ihres Abiturs, das keine Griechischkenntnisse einschließt, trotz der Auszeichnung nicht promovieren. Alexander Pfänders, ein ehemaliger Schüler Lipps’, nimmt jedoch ihre Arbeit als Dissertation in München an. Aber das weitere akademische Fortkommen ist ihr verwehrt: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es Frauen nicht möglich, sich zu habilitieren. Und später wird gegen sie aufgrund eines jüdischen Großelternteils von den Nationalsozialisten Publikationsverbot verhängt. 1938 kann sie zwar in Österreich noch eine Monographie veröffentlichen, doch nach dem Anschluss Österreichs wird auch dies nicht mehr möglich sein.

Ihre anfängliche Begeisterung für Husserl weicht allerdings der Enttäuschung. Husserl hatte nach den Logischen Untersuchungen seine Position in einer Weise weiterentwickelt, der sie – wie viele seiner Schüler – nicht folgen konnte. Diese bedauerten, dass Husserl zwar zu einer wahren Wesenswissenschaft vorgedrungen war, diese jedoch auf das Bewusstsein reduzierte. Mit der Forderung der Einklammerung der Welt und der Ideation der psychischen Fakten habe er eine unzulässige Reduktion auf das Wesen des Bewusstseins selbst betrieben und sich nicht mehr mit der Wesenserkenntnis aller Dinge, auch der vom Denken unabhängigen Welt, beschäftigt und so zu Unrecht alles Bewusstseinstranszendierende aus dem Forschungsgebiet ausgegrenzt. In ihren kleinen Schriften und Vorträgen setzt sie sich immer wieder mit Husserl auseinander. Trotz aller Differenzen spricht sie aber immer mit großer Hochachtung von ihm.

Hedwig Conrad-Martius will Wesensschau betreiben, d.h. von allen vorgefassten Meinungen über die Welt absehen und sich bei der Erkenntnis der Gegebenheiten auf deren Evidenz verlassen. Sie will zu den Sachen selbst gelangen, ja diese sprechen lassen, um sie verstehen zu können. Wichtig war ihr, in ihren eigenen Worten, „die radikale Sachlichkeit, um welche Gebiete es sich immer handeln mochte, das unbeirrbare, stets neue Anfangen angesichts irgendeiner aufgegriffenen Problematik“.

Noch vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich das Ehepaar Conrad-Martius selbständig gemacht und betrieb in Bad Bergzabern in der Pfalz eine Obstplantage. Hier beschäftigte sich Hedwig Conrad-Martius weiter intensiv mit Philosophie. Insbesondere in den Wintermonaten, in denen die Feldarbeit nicht so zeitaufwendig war, widmete sie sich philosophischen Studien. In ihrem Haus trafen sich auch viele Phänomenologen; es entstand der viele Jahre lang bestehende „Bergzabern-Zirkel“. In diese Zeit fällt auch die enge Freundschaft mit Edith Stein. In Bergzabern war es auch, wo Edith Stein zum Katholizismus konvertierte.

Das Interesse von Hedwig Conrad-Martius wendet sich nun immer mehr „dem realen Sein als solchem, im speziellen der Natur“ (Conrad-Martius) zu. Neben Husserl setzt sie sich auch mit Heidegger auseinander. Es ist für sie aber eine große Enttäuschung, dass Heidegger den Schritt in eine Ontologie der realen Außenwelt nicht vollzieht. Sie empfindet seine Untersuchungen als ein Verharren in Subjektivismus und Idealismus. Sie kritisiert, dass er mit der Einschränkung des Daseinsbegriffs auf den Menschen die ganze nicht- oder vorpersonale Welt ihres wahren Realitätscharakters entkleide und auf diese Weise eine nicht zu rechtfertigende „Seinsabwertung“ vornehme. Sie selber betreibt Wesensschau aller denkbaren Gegenstände der Welt sowie des Wesens der Realität. Von allem, von jedem Ding und von jedem Sachverhalt – das ist ihre unerschütterliche Überzeugung – kann die Essenz betrachtet werden, ohne gleichzeitig notwendig seine Existenz zu untersuchen, und so auch von der Realität als solcher. Sie kommt zu der Aussage, dass sie – genau wie Husserl – zwar letztlich nichts über Sein oder Nichtsein der Realität aussage, dass sie diese aber im Gegensatz zu ihm in ihren Untersuchungen nicht nur nicht ausklammere, sondern als wirklich ansetze. Die Dinge zeigen sich, und in dem, was wir wahrnehmen, können wir sie erkennen. Zwar ist es möglich, dass wir Täuschungen unterliegen, dies liegt aber nicht im Wesen der Dinge begründet, sondern vielmehr darin, dass wir ihnen nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit gegenübertreten.

Um ihr philosophisches Programm zu verwirklichen, ist Conrad-Martius zufolge neben der Husserlschen transzendental-idealistischen und der Heideggerschen existentialistischen eine dritte Art der Phänomenologie vonnöten. So entwickelt sie eine Konzeption, die die gesamte reale Welt betrachtet und dabei der von ihr selbst angenommenen Unabhängigkeit dieser Welt vom Bewusstsein und vom existierenden Ich gerecht wird. Dieses eigene Programm nennt sie „Wesensforschung“, „Ontologische Phänomenologie“, oder, weil alles untersucht wird, einfach „Ontologie“. Dabei nimmt sie Begründungszusammen- hänge an, die unserem naturwissenschaftlichen, an Kausalzusammenhänge gewöhnten Denken fremd erscheinen: Für Conrad-Martius gibt es zwischen dem Wesen eines Dinges oder Organismus und seiner äußeren Gestalt bzw. seinem Verhalten oder seinem Ort einen Kausalzusammenhang. Die Blüte deutet Conrad-Martius in diesem Sinne als „Augenaufschlag der Pflanze, in dem diese ihre Seele offenbart“. Diese Ablehnung rein funktionalistischer Erklärungsversuche für das Phänomen des Lebendigen basiert auf der ontologisch-metaphysischen Annahme, dass der Ausprägung einer natürlichen Einheit ein spezifisches Wesen zugrunde liegt, dementsprechend sich der Gegenstand ausformt. Es ist das Wesenhafte, das als eine Art zielursächlicher Formungskraft hinter den Dingen steht. Mit ihrem Wesen ist eine Entität an eine bestimmte Stelle des als wohlgeordnet und intelligent gedachten Kosmos gestellt: „Die Wesenserkenntnis zeigt die unabänderlich letzten Formen und Strukturlinien auf, die apriorischen Schemata im kleinen wie im großen, in Sphären und Einzelgestaltungen, innerhalb deren sich die Fülle der Konkretion bewegt und aus der sie sich nie herausbewegen kann.“

Die Wesenheiten in ihrem Sinnsein und nicht die real seienden Entitäten sind Grundlagen der Wesenswissenschaft und damit Grundlage der Phänomenologie. Sie zu erkennen bedeutet den Sinn der Gegenstände zu erfassen, d.h. ihre Erkenntnis führt zur wahren Erkenntnis. Der Weg der „Ideierung“ oder „Wesensschau“ ermöglicht es, von den einzelnen real gegebenen oder auch nur vorgestellten Gegenständen oder Sachverhalten zum Wesen derselben zu gelangen und es in Form einer Idee fassbar zu machen. Die Ideen sind dabei das Mittel, die an sich vollkommen gegenstandsfremden Wesenheiten zu vergegenständlichen und auf diese Weise fassbar zu machen. Als Hauptpfeiler der Wesensforschung gibt Conrad-Martius Begriffe wie Evidenz oder Intuition an und spricht von der eigenen Methode sogar als von einer „sachlichen Gesamtintuition“. Darüber hinaus setzt sie ein nicht näher bestimmtes „geistiges Organ für das Wesen der Dinge“ voraus. Sie legt aber stets Wert darauf, dass es sich bei der so charakterisierten Wesensschau um eine exakt festgelegte, keineswegs beliebige Methode handle, die zu sicheren Erkenntnissen führe. Auch sei die dabei verwendete Intuition keinesfalls „eine mystische, ohne direkten Forschungskontakt mit den Sachen selbst zustande kommende Eingebung, sondern im Gegenteil eine gerade im allerengsten Sachkontakt sich vollziehende anschauliche Erkenntnisweise“, die hauptsächlich darin besteht, „wesenhaft geschlossene Formeinheiten aus unwesentlichen, zufälligen Beimengungen, Konkretisierungen und Materialisierungen herauszufassen, zu beschreiben und aus ihrer eigenen inneren Gestaltung heraus zu verstehen“. Bei der Phänomenologie geht es dabei letztlich um „die Auffindung und anschauliche Durchdringung und Beschreibung jener Eiden, jener ewigen ‚Urbilder’ und Wesenheiten, deren Artung man in rein philosophischer Wesensschau und also a priori erforschen kann“.

Das menschliche Erleben kann sich für Conrad-Martius auf drei Ebenen vollziehen: Zunächst ist es möglich, die Phänomene in Form ihrer physischen Gegebenheit wahrzunehmen. Auf einem nächsten Niveau kann in diesen Phänomenen das Wesen der jeweiligen Entitäten erkannt werden. Und schließlich kann Gott, insofern er sein Wesen offenbart, erkannt werden. Entsprechend setzt sie neben einer hyletischen eine höher bewertete pneumatische Substanz. Letztere ist innerhalb der empirisch untersuchten Welt nie in Reinform, jedoch im menschlichen Geist anzutreffen. Innerhalb der menschlichen Teilsubstantialität ist sie für uns erkennbar, und da es die phänomenologische Wesensschau zulässt, anhand von Einzelanalysen allgemeingültige Bestimmungen zu erkennen, macht es die Kenntnis des menschlichen Geistes möglich, auch Aussagen über pneumatische Substanzen im allgemeinen zu machen. Auf der phänomenalen Ebene zeigt sich das spezifisch Geistige am Menschen an seiner Personalität oder „Ichheit“: Sein Verhalten und seine Wahrnehmung sind ihm noch einmal in die eigene Verfügbarkeit und Reflexivität gegeben. Der Geist entsteht als absoluter Gegenpol des Stoffes durch eine Transzendierung: Das geistige Sein hebt sich ständig aus sich selbst heraus, ohne dass es als Ganzes die Bewegung mitmachen würde. So gewinnt es seinen aktiven und insofern auch personalen Charakter.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Conrad-Martius in München, wo sie nun mit ihrem Mann wieder lebt, Dozentin für Naturphilosophie und 1955 Honorarprofessorin für Philosophie. 1958 wird ihr von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein wissenschaftlicher Mitarbeiter bewilligt, für den sie Eberhard Avé-Lallemant auswählt. Im gleichen Jahr erhält sie das große Bundesverdienstkreuz. Sie verfasst nun nicht nur eine Vielzahl von Monographien, sie macht sich auch durch eine große Zahl von Rundfunkvorträge und Zeitschriftenartikeln einen Namen. 1966 stirbt sie in Starnberg, wohin sie sich mit ihrem Mann und ihrer Adoptivtochter zurückgezogen hat.