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ESSAY

Höffe, Otfried: Eine föderale Weltrepublik? Über Demokratie in Zeiten der Globalisierung

Otfrie­d Höffe:

Eine föderale Weltrepublik?

Über Demokratie in Zeiten der Globalisierung

 

Eine im emphatischen Sinn politische Philo­sophie stellt sich den Herausforderun­gen der Epoche, heute der Globalisierung. Der Ausdruck ist allerdings durch in­flationären Gebrauch so konturarm geworden, daß er eines neuen Profils bedarf. Dafür schlage ich drei Gesichtspunkte, drei Reprofilierun­gen vor.

Globalisierung im Plural

Erstens spricht man gewöhnlich von der Globalisierung im Singular und meint wirt­schaftliche Veränderungen. Träfe die darin enthaltene Einschätzung zu, so wäre vor­nehmlich die Ökonomie zuständig, hilfs­weise auch das Völkerrecht, die Theorie internationaler Politik und die Soziologie. Mindestens zwei Gründe rufen aber auch die Philosophie auf den Plan: Zum einen befaßt sie sich generell mit einer Bedin­gung, die die Globalisierung allererst mög­lich macht: mit der allen Menschen gemein­samen Sprach‑ und Vernunftfähigkeit. Und weil sich die Philo­sophie letztlich auf nichts anderes beruft, gelingt ihr zum anderen sehr früh und rasch die Globalisierung: Ausge­hend von Kleinasien, später Athen, breitet sie sich zunächst über den Mittelmeerraum, dann nach und nach über den gesamten Glo­bus aus. Infolgedessen werden die Klas­siker der Philosophie, werden Platon und Aristo­teles, Hobbes und Descartes, Kant und Hegel schon zu einer Zeit weltweit studiert, als an eine Globalisierung der Wirtschafts‑ und Finanzmärkte nicht ein- mal gedacht war. Und lange vor den Com­putern stehen in den gebildeten Häusern der Welt die Werke von Nietzsche, Heidegger und Witt­genstein.

Der Globalisierung im Singular liegt jene ökonomische Verkürzung zugrun­de, die zwei sonst so erbitterte Gegner vereint: orthodoxe Marxisten und orthodoxe Libe­rale. Denn beide sehen in der Welt vor­nehmlich Wirtschaftskräfte am Werk. In Wahrheit haben nicht einmal die wirtschaft­lichen Veränderungen nur wirtschaftliche Ursachen, ihnen liegen sowohl politische Entscheidungen zugrun­de ‑ wir erinnern uns an Bretton Woods, GATT und OECD ‑ als auch technische Neuerungen, teils militäri­scher, teils nichtmilitärischer Art. Außerdem besteht die Globalisierung nicht bloß in einer globalen Wirtschafts‑ und Arbeitswelt, ergänzt um ihr Gegenstück, die globale Freizeitwelt, einschließlich des globalen Touris­mus. Hinzu kommt vielmehr eine Fülle von wenig oder gar nicht ökonomi­schen Phänomenen. Ihre Gesamtheit, ein­schließlich der wirtschaftlichen Globalisie­rung, läßt sich in drei Themenfelder bün­deln.

Die erste Dimension besteht in einer facet­tenreichen "Gewaltgemeinschaft": Im Krieg, der durch die neuen Waffen globale Aus­maße anzunehmen droht, in der inter­natio-na­len Großkriminalität (Rauschgift­handel, Menschenhandel, Terroris­mus), auch in den grenzüberschreitenden Umweltschä­den. Die Gewaltgemein­schaft hat aber auch eine ana-mnetische Seite. Ein "kritisches Weltge­dächtnis" behält die großen Gewalt­taten in Erinnerung. Und wenn ein gerechtes Welt­ge­dächtnis die Untaten nicht nur selek­tiv bewahrt, so hilft es, künftigen Gewaltta­ten vorzubeugen.

Glücklicherweise ergänzt sich die reiche "Gewaltgemeinschaft" um eine noch reiche­re "Kooperationsgemeinschaft". Selbst in ihr spielen Wirtschaft und Finan­zen, der Ar­beitsmarkt und das Transport‑ und Kommu­nikationswesen eine wich­tige, aber nicht die einzige Rolle. Es globalisieren sich auch die Philosophie und die Wissenschaften, und hier nicht nur die Naturwissenschaften, Medizin und Technik, sondern auch die Geisteswissenschaften, ferner große Berei­che der Kul­tur, nicht zuletzt das Schul‑ und Hochschulwesen. Auch die liberale Demo­kratie ge­hört in die zweite Dimension, da von ihr ein Globalisierungsdruck ausgeht: Men­schenrechtsverletzungen werden zwar noch nicht weltweit geahndet, sie stoßen aber zumindest auf weltweiten Protest. Hier wächst eine gemeinsame Öffentlich­keit, eine Weltöffentlichkeit heran, die sich an das kritische Weltgedächtnis an­schließen kann. Verstärkt wird die Weltöffentlichkeit durch den Ausbau des internationalen Rechts und die wachsende Zahl global zuständiger Re-gierungs‑ und Nichtregierungsor­ganisa-tionen. Über deren Neulinge, bei­spielsweise die Weltbank oder Amnesty International, sind freilich die älteren Or­ganisatio­nen nicht zu verges­sen: internationale Sport­verbände und vor allem die weit älte­ren Kirchen.

Auch die globale Kooperationsgemeinschaft darf man nicht mit "eitel Liebe und Freund­schaft" verwechseln. Im Gegenteil herrscht in all diesen Bereichen der Wettbewerb vor. Dieser stachelt nicht bloß jene Kräfte an, von denen wir einen kollektiven Reichtum erwarten: Anstrengung, Wagnis und Kreati­vität. Der Wett­bewerb hat auch Folgelasten. Mit ihnen, den teils wirtschaftsinternen Folgen wie etwa der Arbeitslosigkeit, teils wirtschaftsexternen Folgen wie der Umwelt­bela­stung, betreten wir die dritte Dimen­sion der Globalisierung, die Schick­salsgemein­schaft im engeren Sinn: die Ge­meinschaft von Not und Leid. Hierzu zählen die großen Flüchtlings‑ und Wander­bewe­gungen mit ihrem bald religiösen, bald poli­tischen, bald wirtschaftlichem Hinter­grun­d. Dazu gehö­ren Bürgerkriege, die vieler­orts (Spät‑)Fol­gen der Kolonialisierung und Entkoloniali­sie­rung sind, aber auch die eruptive Antwort auf Korruption und Miß­wirtschaft. Dazu ge-hören Na­turkatastrophen, Hunger, Armut und wirtschaftliche, aber auch kulturelle und po­litische Unter­drückung.

Alle drei Dimensionen ‑ so der erste Ge­sichtspunkt ‑ melden einen globalen Hand­lungsbedarf an. Und dieser relativiert das von Platon und Aristoteles bis Hobbes und Hegel vorherrschende Paradigma der politi­schen Philosophie: den Einzelstaat.

Zwei Relativierungen

Auch in der erweiterten Diagnose eignet sich die Globalisierung nicht zum einzi­gen Signum unserer Epoche. Es gibt nämlich ebenso den Kontrapunkt: das Selbst­bewußt­sein gewisser Regionen und die Bildung von Gebietskörperschaften, die Fragmentie­rung mancher Mega‑Stadt in gesonderte eth-nische und kulturelle Gruppen, und in jun­gen Demokratien die Stärkung des Na­tional­gefühls. Ohnehin gibt es die Vielfalt der Sprachen, Sitten und Religionen. Auch wenn sich die Menschheit zu einer globalen Schicksalsgemeinschaft entwickelt, spielt sich das Schicksal in vieler Hinsicht regio­nal, kommunal und ganz individuell ab. Und schon deshalb ist die Rede von dem einen Weltdorf simplifizierend, aber auch die vielgeschworene Gefahr einer unver­meid­baren Standardisierung unseres Lebens überwindbar.

Eine genauere Diagnose erkennt eine zwei­te, nach der sachlichen eine geschichtli­che Relativierung an: Weit vor der Neuzeit ent-wickeln sich internationale Han­delswege wie die Seidenstraße. In hellenistischer Zeit entsteht ‑ in Annäherung ‑ ein Welthan­dels-gebiet mit Weltmarktpreisen und sogar Welthandelszentren wie Alexandria und dem mesopotamischen Seleukia. Außerdem breiten sich gewisse Religionen aus, die deshalb ‑ etwa Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam ‑ Weltreligionen heißen. Und innerhalb von ihnen entstehen zu den heili­gen Stätten internationale Pilger­wege, so nach Jerusalem, Mekka und San­tiago de Compostella. Neben den religiösen Pilger­wegen gibt es auch "epische Pilgerwe­ge": Die Fabeln und Schwänke, die wir in Boc­caccios Decamerone lesen, sind inter­natio­nales Treibgut aus Orient und Okzi­dent. Manches läßt sich über Persien bis nach Indien zurückverfolgen; und vieles taucht später in der Novellenkunst fast aller euro­päischen Länder wieder auf. Und vor allem "globalisieren sich" die Gestalten der natür­lichen Vernunft: Philosophie, Wissen­schaft, Medizin und Technik.

Einem zweiten Globalisierungsschub, dem der frühen und "mittleren" Neuzeit, dem Zeitalter der Entdeckungen und des an­schließenden Kolonialismus sowie der Epo­che der Aufklärung, gehen Erfindungen vor-aus, etwa des Kompasses und des Fern­rohrs, des Schießpulvers und in anderer Weise der Buchdruckerkunst.

Für die dritte, heutige Globalisierung gilt ähnliches. Eine Rolle spielen sowohl fried­liche Erfindungen (Funktechnik, elektroni­sche Medien...) als auch militäri­sche (erst der Langstreckenbomber, dann die Interkon­tinentalrakete). Hinzu kommen politische Entscheidungen sowohl über die Liberalisie­rung der Güter- ­und Finanzmärkte als auch über internationale Organisationen wie etwa die Ver­einten Nationen oder die Weltbank. In der doppelten, sowohl sachlichen als auch geschichtlichen Relativierung liegt unser zweites Profil der Globalisierung; und damit treten wir einmal mehr ihrer Über­bewer­tung entgegen.

Zwei Prisen Skepsis

Die erste Prise besteht in der Einsicht, daß die heutige Globalisierung gar nicht so "heutig" ist. Das Moment, das als besonders eindrucksvoll gilt, die Internationali­sierung der Finanz‑ und Devisenmärkte, erscheint nämlich dem Historiker als eine Reprise.

Die Moderne frönt zwar gern der Illusion, jede Generation überflügele die vorangehen­den. In der Zeit der klassischen Goldwäh­rung, also in den Jahren von 1887 bis 1914, bewegt sich aber zwischen den entwickelten Ländern der glo­bale Handel in etwa auf dem heutigen Niveau. Insofern kehren wir heute nur zum Status quo jener Epoche zu-rück, die durch den Ersten Weltkrieg, die Krisen der dreißiger Jahre und den Zweiten Welt­krieg unterbrochen war. Ob die Infor­matio­nen über Tiefseekabel oder elektro­nisch übermittelt werden, ist zwar nicht be­langlos, der Unterschied für den globalen Handel aber auch nicht so gewaltig. Und für die Friedenspolitik kann man ihn ‑ fast ‑ verges­sen. Nehmen wir als Bei­spiel den Friedens­schluß, der vor 350 Jahren einen der größten Schrecken für Deutschland, den Dreißigjäh­rigen Krieg, beendete: Weil die damalige Post nach Madrid einen Monat brauchte, mußte man zwar auf die neuen Instruktionen Spaniens insgesamt etwa ein Vierteljahr warten, was dazu beitrug, daß der Friede erst nach vierjährigen Verhand­lungen zu­stande kam. Aber weder Flugzeu­ge noch die elektronische Nachrichtenüber­mittlung haben die Friedensaufgaben im Vorderen Orient oder im ehemaligen Jugo­slawien beschleuni­gen können.

Die zweite Prise Skepsis folgt aus der Ein­sicht, daß selbst heute die wirtschaftli­che Globalisierung nur im abgeschwächten Sinn stattfindet. Quantitativ gesehen spielt sich der globale Handel vor allem zwischen der Europäischen Gemein­schaft, Japan und den USA ab. Und bei diesen drei Einheiten ent-fällt auf den Ex­port kein übermäßig hoher Anteil. Vermutlich ist in anderen Bereichen der Aus­tausch größer; einmal mehr sind die Globalisierungen von Wis­senschaft und Kultur denen der Wirtschaft mindestens ebenbürtig.

Zwei Visionen

Wie antwortet die Menschheit auf die Her­ausforderung der Globalisierung am besten? Für ihr Zusammenleben kennt sie generell zwei Grundmuster. Beide ent­halten eine visionäre Kraft; wer will, spricht von einer Utopie. Auf der einen Seite lösen gemeinsa­me Regeln und öffentliche Gewalten die private Willkür und pri­vate Gewalt ab. Daß statt der Gewalt Recht und Gerechtigkeit herrsche, und zwar stets und überall, daß zu diesem Zweck öffentliche Gewalten einge­richtet und diese demokratisch organisiert werden, halten wir sogar für moralisch ge-boten. Nennen wir es das universale Rechts‑ und Staatsgebot und das ebenso universale Demokratiegebot.

Namentlich die liberale Demokratie gibt dem freien Spiel der Kräfte Raum und erwartet von diesem Spiel, in Wahrheit einem harten Wettbewerb, den großen Reichtum: an Gütern und Dienstleistungen, darüber hinaus an Wissenschaft, Me­dizin und Technik, an Musik, Literatur und Kunst. Zur Vision von Frieden und Gerech­tigkeit tritt also die Vision eines vieldimen­sionalen Wohlstands hinzu, auf daß sich ein uralter Traum der Menschheit verwirkliche. In Übereinstim­mung mit dem Propheten­wort "Ihre Schwer­ter schmieden sie zu Pflug­scharen um und ihre Speere zu Win­zermes­sern" (Jesaja 2,4) soll die physische Gewalt in ökonomische und kulturelle Kraft um­gewandelt werden, und wo Friede herrscht, soll zusätzlich ein nicht bloß mate­rieller Wohlstand einkehren.

Unsere Frage: Soll, was innerhalb eines Gemeinwesens gilt, nicht auch im globa­len Maßstab zutreffen? Soll es nicht erstens eine Friedens‑ und Rechtsordnung geben, in der zweitens, mittels wirtschaftlichen, wis­senschaftlichen und kulturellen Wett­be-werbs, die Gesellschaften und vor allem die Individuen aufblühen? Denn keine Ge­sell­schaft ist ein Selbstzweck; letztlich zählt nur der einzelne, freilich nicht der verein­zelte Mensch.

Eine Rechts‑ und Staatsphilosophie erkennt die zweite Vision durchaus an, tritt aber ihrer Verabsolutierung entgegen, einer zwei­ten Art von Ökonomismus: der Verdrän­gung der Politik durch den Markt. Gelegent­lich hört man zwar die An­sicht, die Politik werde gar nicht verdrängt, sondern "nur" andernorts gemacht: nicht mehr von demo­kratisch gewählten Amtsinhabern, sondern von den weltweit tätigen Unternehmen bzw. Unternehmern. Mancherorts herrscht sogar ein "öko­nomischer Fatalismus" vor, der da sagt: Die Wirtschaft entscheide über beide, Mittel und Ziele. Mit ihren Mitteln setze sie nämlich Ziele, auf die die Politik nur noch reagieren könne, so daß die Politik, statt noch zu gestalten, auf Anpassung verpflich­tet sei. In Wahrheit liegt kein anonymes Schicksal vor; die Globalisie­rung hat Na­men, etwa die genannten Abkommen über die Liberalisie­rung des Weltmarktes. Und wie der in­nerstaatliche Markt Rahmenbedin-gungen unter­wor­fen wurde, so schließt einen analogen Rah­men der globale Markt nicht a priori aus. Es ist die Politik selbst, freilich kaum eine nationale, wohl aber die interna­tionale Po­litik, die sich den Kräften des Marktes unterwirft oder aber sie, etwa durch eine Wettbewerbsordnung und durch soziale und ökologische Mindestkrite­rien, in einen fai­ren Rahmen zwingt.

Vieles darf und muß die Weltgesellschaft sich selbst überlassen: der Kreativität von Individuen und Gruppen, dem freien Wett­bewerb und der zufälligen Evoluti­on. Für manches ist aber ihre Gestaltungsmacht gefragt. Daher die Frage: Wenn zwischen Individuen und Gruppen statt der Gewalt das Recht und die Gerechtig­keit herrschen und beide demokratisch "organisiert" wer­den sollen, muß dann nicht dasselbe staaten­über­greifend und zwischen den Staaten gel-ten? Braucht es nicht eine auf Recht und Gerechtig­keit verpflichtete Weltrechtsord­nung und für sie eine de­mokratische Or­ganisation? Be­steht also die Antwort der Politik auf das Zeital­ter der Globalisierung in einer Erwei­terung der Einzeldemokratie zur Weltdemo­kra­tie, man kann auch sagen: zur Weltre­publik? Gemäß den drei Globali­sierungs­bündeln dürfte sie sogar für drei Dimensio­nen ge­fragt sein: (1) gegen die globale Gewaltge­meinschaft, (2) für den Rahmen der globa­len Kooperations­gemein­schaft und vielleicht (3) für die Gemein­schaft von Not und Leid.

Fünf Einwände

Diese Antwort auf das Zeitalter der Globali­sierung erscheint uns jedenfalls als zwin­gend. Für die politische Wirklichkeit bringt sie freilich einen so radikalen Bruch, daß sich Einwände aufdrängen. Wir heben fünf heraus. Den Einspruch Nr. 1 erhebt nie­mand geringerer als Kant. Eine Weltrepu­blik ‑ sagt er ‑ ist ein Ungetüm, das sich wegen seiner Größe und Unübersichtlichkeit gar nicht regieren läßt. Kann dieser Ein­wand über­zeugen.

Für Liechtensteiner ‑ 28'500 Einwohner ‑ ist die Schweiz mit sechseinhalb Mil­lionen riesig und die USA mit 250 Millionen ein Ungetüm, zu schweigen von Indien ‑ 850 Millionen ‑ und China: 1,1 Milliarden. Wenn ein Gemeinwesen wie die Vereinigten Staaten, fast zehntausendmal so groß wie Liechtenstein und im­mer noch fast vierzig­mal so groß wie die Schweiz, sich gleich­wohl regieren läßt, kann der erste Einspruch ein gewisses Recht haben. Ein schlagendes Gegenargu­ment, eines, das dem Gedanken der Weltrepublik den Todesstoß versetzt, ist es aber nicht. Statt eines absoluten Vetos finden wir nur ein relatives und zugleich konstruktives Veto: Die Weltrepublik bleibt erlaubt, sogar geboten ‑ vorausge­setzt, sie verhindert sowohl die Unre­gierbarkeit als auch deren Überkompensati­on, eine zu hohe Bürokratisierung oder gar einen Über­wa­chungsstaat.

Begnügen wir uns hier mit einem konstruk­tiven Gesichtspunkt: Eine Weltrepublik muß nicht dem Muster der Vereinten Nationen folgen und Großstaaten wie Indien und China direkt mit Zwergstaaten wie Liech­tenstein zusammenführen. Warum sollen sich nicht erst politische Einheiten von kontinentaler oder subkontinentaler Größe dazwischenschieben? Nach dem Muster der Europäischen Union könnten sie die meisten Probleme im "eigenen Haus" behandeln und nur wenige Restpro­bleme der globalen Ord-nung überlassen. Nennen wir es den Grund­satz: großre­gionale Zwischeneinhei­ten.

Nach Einspruch Nr. 2 setzt eine Weltrepu­blik die große zivilisatorische Errungen­schaft der Menschheit, die Menschenrechte und die Bür­gerrechte, aufs Spiel. Denn bis­her sei es nur dem Einzelstaat gelungen, diese Rechte zu gewährleisten. An diesem Einspruch ist nicht bloß die normative Vor­aussetzung, die Verpflichtung auf die Men-schen- ­und Bür­ger­rechte, sondern auch die empirische Aussage richtig, aber nur zu ei­nem Drittel wahr. Zweifellos werden im Westen die Men­schen‑ und Bürgerrechte vornehmlich von den Staaten geschützt. (In Europa kommt allerdings die Euro­päische Men­schen­rechtskonvention hinzu.) Und alle Bürger­schaften, die diesen Schutz nur von inter­nationalen Organisationen erhalten, ergeht es beschämend schlecht. Das zweite Drittel der Wahrheit besagt aber, daß die westlichen Staaten die Rechte zunächst ein-mal gefähr­den: Frankreich verfolgt die Hu-genotten, die USA werden mangels briti-scher Religionsto­leranz gegründet; und der-selbe Staat erlaubt die Sklaverei weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts. Das letzte Drittel der Wahr­heit: Wo die Men­schen‑ und Bürgerrechte schon geschützt werden, teils innerstaatlich, teils durch großregionale Menschen­rechtskonventionen nach dem europäischen Vorbild, dort kann sich eine Weltrepublik zurückhalten. Bei massi­ven Menschen­rechtsverletzungen kann dies aber nur dann geboten sein, wenn das Eingreifen, die sogenannte humanitäre Inter­vention, noch mehr Unheil stiftet; grund­sätz­lich berechtigt ist die Zurückhaltung aber nicht.

Prinzip Subsidiarität

Dem zweiten Einspruch ergeht es also nicht anders als dem ersten. Er hat nicht die Kraft eines absoluten, wohl aber eines konstruk­ti-ven Vetos: Für die primäre Rechtssiche­rung bleiben die Einzelstaaten verantwort­lich. Allein sie haben den Rang von Primär­staa­ten, während die Weltrepublik nur ein Se­kundärstaat, im Fall großregionaler Zwi­schenstufen sogar lediglich ein Tertiärstaat ist. Nennen wir es den Grundsatz der welt­staatlichen Subsidiarität; er hat zwei Seiten.­ Zum einen ist die Weltrepublik nicht von oben zu dekretieren, sondern demokratisch: von den Bürgern und den Einzelstaaten her aufzubauen. Sie ist kein Weltzentralstaat, son­dern ein Weltbundesstaat: eine föderale Weltrepublik. Zum anderen verbleiben ihr nur Restaufgaben. Die föderale ist zugleich eine komplementäre, die Einzelstaaten nicht ablösende, sondern sie ergänzende Weltre­publik. Die Fragen des Zivil‑ und des Straf­rechts, die des Arbeits‑ und des Sozial­rechts, das Recht der Sprachen, der Religio­nen und der Kultur ‑ diese und weitere Staatsauf­gaben verbleiben in der Zustän­digkeit der Primärstaaten. Wir müssen frei­lich ein­schränken: zunächst. Denn wegen der viel­fältigen Globalisierung müs­sen die Primär­staaten mit ihres­gleichen zusammen­arbeiten. Und man­che Zuständig­keit geben sie besser nach oben ab, etwa die Koordina­tion der grenz­überschreitenden Verbrechens­bekämp­fung und die Festlegung von Rah­menbedin­gungen des Weltmarktes.

Nicht bloß subsidiär, sondern originär zu­ständig ist die Weltrepublik dagegen für den zwischenstaatlichen Frieden und als dessen Vorbedingung: für Abrüstung, und als deren Anfang: für die Nichtverbreitung von ABC­­Waffen.

Zum Prinzip Subsidiarität kommt die Auf­forderung zu Vorsicht und Umsicht hin­zu: Das Maß an liberaler Demokratie, das ein­zelne Staaten und Großregionen schon er-reicht haben, dürfen sie nicht aufs Spiel setzen. Außer Subsidiarität ist daher ein schrittweises Vorgehen geboten, auf daß man neue Möglichkeiten er­proben, Erfah­rungen sammeln und vor allem auch eine so wichtige Vorbedingung wie eine globale po-litische Öffentlichkeit entwickeln kann. Bekanntlich tut sich schon Europa mit die­ser Institution schwer, und noch mehr Schwie­rigkeiten wirft sie bei einem Welt­staat auf. Für eine funktionierende Weltöf­fentlichkeit reicht es nicht aus, daß wir uns über ferne Rechtsverletzungen empö­ren. Wir müssen auch, was schon bei der euro­päi­schen Gesetzgebung zu wenig ge­schieht, jene in­nerstaatlich üblichen Debat­ten führen, die die parlamentarischen Debat­ten und Entscheidungen teils vorbereiten, teils be­gleiten, teils nachträglich kommen­tieren und gegebenenfalls Novellierungen in Gang bringen. Hier besteht sogar ein Junk­tim: Solange es keine einigermaßen funktio­nie­rende Weltöffentlichkeit gibt, ist die Errich­tung selbst einer komplementären und föde­ralen Weltrepublik unver­nünftig. Im Hand­streich oder gar blind darf eine globale Rechtsordnung nicht ent­stehen.

Für die Übergangszeit, eine provisorische Weltrechtsordnung, sind außer dem Völker­recht die internationalen Organisationen gefragt. In ihnen erhält nämlich die inter­nationale Kooperation Struktur und Dauer, was eine Weltordnung mit rudimentären Ansätzen von Staatlichkeit schafft.

Die realistische Denkschule der Politikwis­senschaft sieht in internationalen Insti­tutio­nen nur Instrumente staatlicher Diplomatie: Einzelstaaten kämpfen mit‑ und gegeneinan­der um Einfluß und Ressourcen. In Wahr­heit sind sie aber nicht bloß eine Arena des Machtkampfes, sondern auch ein Forum für zwischenstaatliche Politik. Darüber hinaus haben internationale Organisationen eine Thematisie­rungsmacht und können manchen Staat auch gegen Widerstreben zur Teil­nahme an Verhandlun­gen bewegen. In glücklichen Fällen werden sie sogar zur Schiedsinstanz: Staaten bedie­nen sich ihrer, wenn ihnen die "Kosten", Konflikte militä­risch zu lösen, als zu hoch erscheinen. In dieselbe Richtung, zu einem Vor­griff auf eine Weltrepublik, weist ihre Bedeutung als überstaatliche Koordinati­onsstelle: Sie hel­fen Mitgliedstaaten, ihre Interessen zu ar­ti-kulieren und ‑ in Grenzen ‑ durchzuset­zen.

Über die formale Hauptaufgabe öffentlicher Gewalt, über Unparteilichkeit, verfü­gen internationale Organisationen aber nur in gewissem Maß. Was Großmächte mit ihrer Macht versuchen, versuchen kleinere Staa­ten mit Hilfe ihrer Überzahl: eine Instru­men­talisierung der internationalen Or­ganisa-tionen zugunsten der eige­nen Interes­sen. Schon aus diesem Grund können die inter­nationalen Institutionen: Organisationen und Regelwerke, einer Weltrepublik vorar­beiten, sie aber nicht auf Dauer ersetzen

Sind Demokratien friedfertig?

Nach dem Einspruch Nr. 3 gibt es für den Schutz der Menschenrechte ein einfa­cheres Mittel, die Demokratisierung aller Staaten. Gemäß der These "globaler Friede durch globale Demokratisierung" könne sich die Weltfriedenspolitik mit einer Weltdemo­kratisierungspolitik begnügen, und die Welt­republik werde über­flüssig. In der Tat schützt die liberale Demokratie die Men­schenrechte schon in­nerstaatlich. Und "na­türlich" sprechen für die Demokratie weit mehr Gründe. Wie schon die Europäische Menschenrechtskommission den einzelstaat­lichen Rechts­schutz prüft, so empfiehlt es sich aber, selbst gegenüber großregionalen Prüfin­stanzen noch eine globale Menschen­rechtskommission einzurichten. (Die Ver-einigten Staaten beispielsweise kämen mit ihrer Todesstrafe sogar in Friedenszeiten nicht durch.) Vor allem bleiben Staaten selbst zu schützen: in ihrer territorialen Integri­tät und ihrer politischen Selbstbestim­mung.

Zur einschlägigen Gefahr, dem Angriffs­krieg, hat die heutige Politikwissenschaft die berühmte These Kants aufgegriffen, zu einem Angriffskrieg böten liberale Demo­kratien ‑ Kant sagt: Repu­bliken ‑ wenig Neigung. Kant unterstellt den Bürgern nicht etwa eine genuine Friedfertigkeit, er beruft sich auf ihr aufgeklärtes Selb­stinter­es­se. In der Demokratie sei "die Beistim­mung der Staatsbürger ... erfor­dert". Und diese wer­den, "da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst be­schließen müß­ten, (als da sind: selbst zu fechten, die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben, die Verwüstung, die er hinter sich läßt, küm­merlich zu verbessern ...)" kaum "ein so schlimmes" Spiel anfangen.

Trotzdem mahnt uns die Geschichte zur Skepsis: Die junge französische Republik überzieht Europa mit Krieg und verfolgt da-bei durchaus imperiale Interessen. Die noch ältere Republik, die Vereinigten Staa­ten von Nordamerika, breiten sich nach Westen mit wenig Rücksicht auf die Urein­wohner aus, überdies annektieren sie Texas und verlei­ben sich nach einem Krieg mit Mexi­ko sowohl Arizona, Utah und Nevada als auch Kalifornien und Neu‑­Mexiko ein. Ebenso läßt sich Großbritan­nien durch die Entwick­lung in Richtung einer Republik an seinen Weltmachtsplänen, an der Auswei­tung des Commonwealth, nicht hindern. Poli­tikwis­senschaftler haben des­halb die These ab­schwächen müssen; nicht grund­sätzlich seien Demokratien frie­densge­neigt, sondern einerseits nur Demo­kratien, die strenge Zusatzbedingungen erfüllen, und anderer­seits bestehe die Frie­densnei­gung nur gegen andere Demokratien.

Selbst dagegen tauchen Bedenken auf. Auf der einen Seite fehlen zwar in den frühen Demokratien so wichtige Elemente wie die Gleichstellung der Arbeiter­schaft und der Frau und ein höheres Bildungsniveau der gesamten Bevölkerung, außerdem parlamen­tarische Beschlüsse über den Kriegseintritt und, vorgreifend, öffentliche Debatten. Der Kriegseintritt erfreute sich aber oft einer derart breiten Unterstützung im Volk, daß "demokratischere Demokratien" sich damals kaum anders entschieden hätten. Auf der anderen Seite muß das aufgeklärte Selbstin­ter­esse gar nicht immer gegen den Krieg sprechen. Bei Kriegen, die in der Ferne stattfinden, spüren die Bürger weniger Drangsale, und noch einmal weniger beim Krieg gegen einen deutlich schwächeren Feind. Ferner können Kriege von innenpoli­tischen Schwierigkeiten ablenken, außer­dem gibt es Massenpsychosen. Wei­terhin läßt sich an ‑ fremden ‑ Kriegen gut ver­dienen. Nicht zuletzt könnte sich die Frie­densbereit­schaft abschwächen, sobald die meisten Staaten zu Demokratien geworden sind. Bei handelspolitischen und ökologi­schen Fragen zeichnet sich schon heute ein Konfliktpo­tential ab, das sich bei gravierenden Wirt­schafts‑ und Sozialproblemen ausweiten dürfte. Im übri­gen gibt es eine Fülle von Rechtsproblemen unterhalb der Kriegs­schwelle.

Infolgedessen bleibt das universelle Rechts‑ und Staatsgebot aktuell, erneut als konstruk­tives Veto: Der Rechts‑ und Friedensschutz, den schon eine weltweite Demokratisierung zustandebringt, bleibt ihr überlassen. Wie schon die Individuen, so haben aber auch die Staaten einen Anspruch, daß allfällige Konflikte nicht durch Macht entschieden werden, sondern durch Recht, so daß es einer weltwei­ten Rechtsordnung, und am Ende einer Weltrepublik bedarf.

Gemäß dem vierten Einspruch kann es eine Weltrechtsordnung nur geben, wenn zuvor existiert, was tatsächlich aber fehlt: ein allen Menschen gemeinsames Rechtsempfin­den, ein Weltrechtsbewußtsein. Daß es schon im Westen an Ge­meinsamkeit mangelt, wissen wir alle. Begnügen wir uns mit einem win­zigen Beispiel: Wer von den US‑amerikani­schen Schadensersatzsummen liest: von vie­len Millionen Dollar in Fällen, bei denen deutsche Gerichte bestenfalls einige zehn­tau­send DM zusprechen, der fragt sich, ob wir nicht auf verschiedenen Rechtssternen leben. Schärfere Unterschiede zeigen sich in der Einstellung zur Todesstra­fe, ferner in den Leibesstrafen einiger is­lamischer Staa­ten oder im Um­gang mit Dissidenten in China, Kuba und Nordkorea. Andererseits gibt es we­sentliche Gemein­samkeiten: Die Gebote der Gleichheit und der Unparteilich­keit sind in der Rechtsan­wendung ebenso global anerkannt wie Ver­fahrensregeln von der Art "audiatur et altera pars" (man höre auch die andere Seite) oder die Un­schulds­vermutung. Ferner erkennen so gut wie alle Rechtsord­nungen dieselben Grund‑Rechts­güter als schützenswert an: Leib und Leben, Eigen­tum und Ehre. Und die Menschen­rechtsverträge der Vereinten Nationen bele­gen noch weit mehr Gemein­samkeiten. Es fehlt "nur", aber auch immer­hin an der Bereit­schaft, sie unparteilich und wirksam durch­zusetzen. Das konstruktive Veto fällt des­halb hier einfach, fast banal aus: Das Welt­rechtsbewußtsein braucht zwar noch Zeit, um sich zu entfalten; die schon be­stehenden Gemeinsamkeiten sind aber be­merkens­wert. Immerhin haben sie schon Weltgerichte möglich gemacht: den Inter­natio­nalen Ge­richtshof, das Internationale Seegericht und neuerdings, freilich noch nicht ratifiziert, den Weltstrafgerichtshof.

Recht auf Differenz

Nach unserem fünften und letzten Einspruch droht im Zeitalter der Globalisierung eine Nivellierung, gegen die es einen kräftigen Kontrapunkt braucht: eine Stärkung der Be-sonderheiten, auf daß der soziale und kultu­relle Reichtum der Welt und vor allem auch die daran gebundene Identität der einzelnen Menschen ge­wahrt bleiben. Es sind die neu-erdings so prominenten Kom­munitari­sten, die für "gute Zäune" plädieren, also für nationale Abschottung statt globaler Einheit. Für Philosophen wie Alasdair Mac­Intyre und Michael Walzer beispielsweise besteht die höchste soziale Einheit, in der mora­lisch‑politische Begriffe wie Gerechtig­keit und Solidarität noch Sinn und Bedeu­tung haben, im Einzelstaat. In der Tat leben viele Einzelstaaten aus einer gemeinsamen Ge­schichte. Sie haben ihre bestimmte Tradi­tion, Kultur und Sprache oder eine wohlde­finierte Mehrsprachigkeit; auch folgen sie gemeinsamen Werten, so daß eine Auflö­sung der Staaten den Reichtum der Mensch­heit einschränkt. Darüber hinaus wird die Identität derjenigen Instanz gefährdet, auf die es in allem letztlich ankommt: die des einzelnen, aber nicht ver­einzelten Men­schen. Denn trotz aller Individualität, oft sogar zu genau diesem Zweck gehören Indi-viduen derartigen "Gemeinschaften" an. Ferner stärken diese Gemeinschaften eine der wich­tigsten Quel­len menschlicher Hilfs­bereit­schaft, die Soli­darität. Und vor allem haben die Gemein­wesen das Recht, ihrer eigenen Vor­stellung von Gemeinwohl zu folgen ‑ vorausgesetzt, daß sie sich mit den Bedin­gungen liberaler Demokratie verträgt.

Für dieses Recht auf einzelstaatliche Beson­derheit ‑ nennen wir es das Recht auf Dif­ferenz ‑ spricht schon die Unterbestimmtheit von universalistischen Rechtsprinzipien, die die Menschenrechte zunächst nur als Regeln zweiter Stufe ausweisen. Erst deren "An­wendung" auf Sachbereiche und Situations­typen führt zu den gewöhnlichen, das kon­krete Handeln leitenden Regeln. Weder die Sachbe­reiche noch die Situationstypen las­sen aber nur eine einzige Deutung zu; hier ha­ben Geschichte, Kultur und Tradition ihr Recht.

Man stelle sich in einem Gedankenex­peri-ment einen idealen Gesetzgeber vor, einen idealen Solon oder, was die Diskurs­theorien vorziehen, ein ideales Parla­ment und beauf­trage ihn oder es, die für alle Kulturen glei­chermaßen gültigen Ge­setze aufzustellen. Im Gegensatz zum empirischen Gesetzgeber verfügt der ideale über alle relevanten Kenntnisse; er ist allwissend. Ungetrübt von partikularen In­teressen und Leidenschaften orientiert er sich in nor­mativer Hinsicht ausschließ­lich an Gerech­tigkeitsprinzipien, namentlich den Men­schenrechten, der ideale Solon ist allgerecht. Ein derartiger "Super­gesetzgeber" kann zwar den Rahmen für ge-rechte Gesetze festlegen; eine vom Stand­punkt der Gerech­tigkeit einzig richtige Lö-sung findet er jedoch kaum. Denn noch weniger, als man aus Kriterien wie Sitzbe­quemlichkeit und Halt­barkeit einen kon­kreten Stuhl entwerfen kann, läßt sich aus Gerechtigkeitsprinzipien eine wohlbestimm­te Rechtsnorm gewinnen. Zur Fülle der er-for­derlichen Zusatzelemente gehören kultu­relle Besonderheiten wie die Geschich­te und Tradition, einschließlich unterschied­licher Vorlieben und Ak­zent­setzungen, sogar blos-ser Konventionen; nicht zuletzt kommt es auf wirtschaft­liche und andere Randbedin­gun­gen an.

Dank seiner Allwissenheit weiß der ideale Solon um die Besonderheiten, und dank sei-ner Allgerechtigkeit will er den Beson­der­heiten Gerechtigkeit widerfah­ren lassen, er erkennt sie also gleichermaßen an. Das Er-gebnis sieht nur auf den ersten Blick para­dox aus: daß sich die interkulturell begründ­baren Gerechtigkeit­sprinzipien einer kul­turellen Offenheit und die univer­salisti­schen Prinzipien einer partikularen Gestalt er­freuen. Hier, bei einem kulturenof­fenen Universalis­mus, finden beide, sowohl der ideale Solon als auch das ideale Par­lament, ihre Grenze ‑ und wegen der Gren­ze ist eine par­tizipatorische Demokratie gefragt. In der Mathematik dürfte es anders sein; ein idea­ler Pythagoras hat die Ein­schrän­kungen des idealen Solon nicht. Wenn der demokra­ti­sche Diskurs mehr sucht als die Rekon­struktion immerwahrer Menschenrechte, wenn er sich der ge­schichtli­chen Konkretion und politischen Entscheidung stellt, dann öffnet er sich einem Recht auf Differenz. Hier besteht sogar ein Junktim: Je mehr Rechte wir der parti­zipatorischen Demo­kratie zusprechen wollen, als desto größer müssen wir die Unterbestimmtheit der uni­versalistischen Prinzipien und als desto größer das Recht auf Differenz ansetzen. Andernfalls degene­riert die Demokratie zum Voll­zugsorgan eines idealen Gesetzgebers.

Nehmen wir als Beispiel die Religionsfrei­heit. Als menschenrechtliches Prinzip ge­bietet sie eine religiöse Toleranz, die kei­nem Gemeinwesen erlaubt, die Aus­übung einer Religion, auch die der "Freigeisterei" und des Atheismus, oder auch den Austritt aus einer Religionsgemeinschaft zu verbie­ten. (Eine Religion, die die Apostasie zum Ver­brechen, sogar zum Kapitalverbrechen er­klärt, verletzt massiv die Menschenrech­te.) Über dieses Minimum, das Individual­recht einer negativen Religionsfreiheit, hinaus dürfte noch ein Minimum an positi­ver und korporations­rechtlicher Religions­freiheit geboten sein, nämlich das Recht, sich reli­giös zu ent­falten und zu diesem Zweck eine Religionsgemeinschaft zu bil­den. Dieses zwei­teilige Gebot, als Artikel 18 schon Teil der Allgemeinen Erklärung der Menschen­rechte, läßt aber noch eine Fülle von Fein­bestimmungen offen. Die Re-ligionsfrei­heit schließt beispielsweise nicht aus, daß sich ein Gemeinwesen als christ­lich, islamisch, jüdisch oder schintoi­stisch versteht; eine streng religionslose oder atheistische Aus­gestaltung der Rechts‑ und Verfas­sungsordnung ist nicht men­schen­rechtlich geboten. Infolgedessen sind unter­schiedliche Gestal­ten vertretbar, etwa der Laizismus Frank­reichs, der die trotz Tole­ranzedikten auf­flammenden Hugenot­ten­Verfolgungen durch die strenge Tren­nung von Kirche und Staat überwindet ‑ und in Elsaß‑Lothringen davon abweicht. Als Zu­fluchtsort verfolg­ter Reli­gionsge­meinschaf­ten gegründet, pflegt die USA dagegen die Praxis "wohlwollender Neutra­lität".

Deutschland wiederum erlaubt ähnlich wie Öster­reich und Teile der Schweiz eine insti­tutionelle Verbindung von Kirche und Staat, aber nachdrücklich nicht im inneren Verfas­sungsrechtskreis bzw. im politischen Kern­bereich. Vom reformatori­schen Landes­kir­chentum bestimmt, haben die skandinavi­schen Länder und in anderer Weise Groß­britannien einen staatskirchli­chen Charakter. Israel wiederum gewähr­leistet den Christen, Drusen und Musli­men volle Religionsfrei­heit, überdies für das Personenstands‑, Ehe‑ und Familien­recht eine eigene Gerichtsbar­keit und räumt trotz­dem dem Judentum weitgehende Privilegien ein; beispielsweise werden die Kultuskosten zu einem Drittel vom Staat, zu zwei Dritteln von den Kom­munen getragen. Und in einem multikultu­rellen Staat wie Malaysia führen drei grund­verschiedene Rechtsformen ‑ ein "autoch­thones" Gewohn­heitsrecht, die isla­mische Scharia und das britische Common Law - eine komplizierte Koexistenz.

Zusätzlich zur Feinbestimmung tritt die Aufgabe der Rechteabwägung, die erneut, wegen entsprechender Unterbestimmtheit, von den Gemeinwesen unterschiedlich vor­genommen werden dürfen. Aktuell sind bei-spielsweise die Abwägungen der Presse­frei-heit: Darf man in ihrem Namen gravie­rende Rechtsverletzungen wie etwa schwere Sach­beschädigung, Entführung, vielleicht sogar (Völker‑)Mord für das Fernsehen filmen, statt im Rahmen des Möglichen dagegen einzuschreiten? Oder: Darf man bei soge­nannten öffentlichen Personen den anson­sten gebotenen Persönlichkeitssschntz min­dern, vielleicht sogar verletzen? Eine Güter­abwägung braucht es auch bei der Frage, welche Beweismittel bei einem Straf­verfah­ren zu­lässig sein sollen. Hier ist etwa der menschenrechtlich gebotene Schutz der Pri­vatsphäre gegen die ebenfalls menschen­rechtlich gebotene Verbrechensbekämp­fung abzuwägen. Und innerhalb der knapp­heits-bezogenen, positiven Freiheits­rechte ist etwa zu überlegen, wieviel der Ressourcen das Bildungswesen, wieviel das Gesund­heits­wesen erhalten soll. Und vielleicht ist auch die Sozialstaatlichkeit gegen den An­reiz zu Selbstverantwortung und Eigeninitia­tive ab-zuwägen.

Offensichtlich haben derartige Unterbe­stimmtheiten der universalistischen Prinzi­pien eine große Tragweite. Sie geben näm­lich den Staaten das Recht auf Diffe­renz, also eine universalistische Befugnis auf Partikularität, in etwa vergleichbar mit dem Recht auf Individualität, das den Menschen nicht trotz, sondern wegen der universali­stischen Moral zukommt. Wegen dieses Rechts auf Differenz darf es keine Weltre­publik geben, die dem Einzelstaat der Kom­munitaristen plan entge­gengesetzt ist. Nach der Ansicht von staatstheoretischen Globa­listen wie Charles Beitz ist die politische Weltordnung in Form einer staatlich homo­genen Weltre­publik einzurichten. Eventuelle Untergliederungen erfolgen staatstheoretisch se­kundär als Delegation von oben nach un-ten, während die Einzelstaaten selber als Ausdruck von Partikularität ihr Recht ver­lieren. Dem widerspricht aber das Recht auf Differenz.

Ziehen wir Bilanz: In der subsidiären und föderalen Weltrepublik sind wir Weltbürger, aber nicht im exklusiven, sondern komple­mentären Verständnis. Der exklusive Begriff entspricht jenem Kosmopolitismus, der sich nach Hegels Philosophie des Rechts (§ 209 Anm.) "dazu fixiert, dem konkreten Staats­leben gegenüberzustehen". Häufig mit einem Gefühl moralischer Überlegenheit sagt er, ich bin nicht Deutscher, Franzose, Schweizer, sondern lediglich Weltbürger. Hier tritt der Weltstaat an die Stelle der Einzelstaaten, und das Weltbürgerrecht ersetzt das "nationale" Bürgerrecht; beim globalistischen Weltstaat ist man Weltbür­ger statt Staatsbürger. Die föderale Welt- republik entzieht sich dagegen der einfachen Alternative "national oder global" bzw. "einzelstaatlich oder kosmopolitisch". Das Weltbürgerrecht löst das nationale Bürger- recht nicht ab, sondern tritt hinzu. In ge­wisser Hinsicht liegt eine globale Variante von de Gaulle vor: eine Welt der "Vater­länder" und politischen Großregionen, aller­dings mit einer mehrfachen Bürgerschaft. Ob man primär Deutscher, Franzose oder Schweizer ist, und Europabürger erst sekun­där, werden die Demokratien Europas in den nächsten Jahren noch entscheiden. Primär ist man jedenfalls eines beiden, Staats- oder Europabürger oder in gestufter Weise beides zusammen, und sekundär ist man Weltbürger: Bürger der föderalen Weltrepublik.

UNSER AUTOR:

 

Otfried Höffe ist Professor für Philosophie an der Unversität Tübingen. Von ihm er­scheint Anfang Oktober das Buch "De­mo­kratie im Zeitalter der Globalisierung" (C.H. Beck).