PhilosophiePhilosophie

01 2020

Friedemann Buddensiek, Jens Halfwassen, Manuel Knoll und Jörn Müller:
Wo steht das Fach 'Antike Philosophie' heute?

aus: Heft 1/2020, S. 24-33

 

Sehen Sie eine Veränderung des Stellenwertes der antiken Philosophie innerhalb der Gegenwartsphilosophie in den letzten Jahren/Jahrzehnten?

Jens Halfwassen: Es sind drei Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten, die das Interesse der antiken Philosophie für die Gegenwartsphilosophie erheblich gesteigert haben. Zu nennen ist zuerst und vor allem die Wiederkehr der Metaphysik. Die antike Philosophie ist nicht nur der geschichtliche Ursprung der Metaphysik, sie ist auch von Anfang an metaphysisch verfasst, jedenfalls, wenn man Metaphysik mit Aristoteles als Prinzipientheorie versteht. Die Philosophie beginnt mit der Frage der frühen Vorsokratiker nach dem Ursprung von allem. Im Verlauf ihrer langen Geschichte vom 6. vorchristlichen bis zum 6. nachchristlichen Jahrhundert (von Thales bis Damaskios) hat die antike Philosophie auch so gut wie alle Möglichkeiten metaphysischen Denkens bereits paradigmatisch durchgespielt. Die Bandbreite reicht dabei vom Platonismus bis zum Materialismus. Dabei lassen sich in der Antike vier Grundformen oder Grundtypen von Metaphysik unterscheiden, die das metaphysische Denken auch in den nachantiken Epochen bestimmt haben.

Das sind erstens der Typus der Ursprungsmetaphysik, also die Frage nach dem Ursprung der Wirklichkeit im ganzen bei den Vorsokratikern. Der zweite Metaphysiktypus ist die Ontologie, für die die Frage nach dem Sein und den Formen des Seienden grundlegend ist. Sie wurde von den Eleaten in Gestalt einer strikt monistischen Ontologie ausgebildet und alternativ dazu von Aristoteles in der Gestalt einer pluralistischen Ontologie, die verschiedene Stufen und Arten oder Kategorien des Seienden unterscheidet, mit der Substanz als Grundform des Seins und dem (göttlichen) Geist als höchster Substanz. Der dritte Grundtypus ist die Metaphysik des Einen oder Henologie, die auf Platon zurückgeht; für sie ist das Eine der überseiende Grund des Seins, der nicht nur die Einheit des Seins begründet, sondern vor allem auch die Einheit von Denken und Sein und damit die seinsaufschließende Kraft des Denkens garantiert. Der vierte Grundtypus ist die Geistmetaphysik, die nach Ansätzen bei Platon und Aristoteles vor allem von Plotin und Proklos voll ausgebildet wurde und dabei wesentliche Einsichten der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel vorwegnimmt. Hier gilt der Geist (Nous) als die grundlegende und eigentliche Wirklichkeit. Anders als für Hegel ist der Geist für die Neuplatoniker aber nicht selbst das Absolute, sondern er gründet in einem Transzendenzbezug zum absoluten Einen „jenseits des Seins", wie Platon sagte.

Die zweite Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die das Interesse an der antiken Philosophie deutlich verstärkt hat, betrifft die Ethik. Das antike Modell einer Strebensethik erweist sich nämlich immer mehr als eine attraktive Alternative zu Kants auf dem Kategorischen Imperativ aufbauender Pflichtethik – hier wären unter anderen etwa Martha Nussbaum, Robert Spaemann, Otfried Höffe oder Hans Krämer zu nennen. Ferner gewinnt das spätantike Konzept der Philosophie als Lebenskunst und Selbstsorge, das uns besonders Pierre Hadot nahegebracht hat, in einer Gesellschaft an Attraktivität, in der Religion und Theologie ihre lebensorientierende Kraft immer mehr einbüßen.

Die dritte Entwicklung kommt aus der modernen Physik, speziell der Quantenphysik. Die Unbestimmtheit der Quantenphänomene und die konstitutive Rolle des Beobachters, also des Subjekts, entziehen dem materialistischen Naturalismus das Fundament und erfordern einen Begriff von Materie, die nicht mehr einfach mit Körperlichkeit oder Stofflichkeit identifiziert werden darf, sondern als ein aller konkreten Körperlichkeit vorausliegendes ontologisches Prinzip von Unbestimmtheit und Bestimmbarkeit gedacht werden muss. Platons Konzept der Chora und Aristoteles' Begriff der völlig unbestimmten prote hyle sind hier von höchster Aktualität.

Manuel Knoll: Das ist nicht so einfach zu bestimmen. März 2019 veröffentlichte Aero Data Lab eine Auswertung aller Stellenanzeigen im Bereich Philosophie, die auf philjobs.org gepostet wurden. Während die Anzahl der Stellen, die in den letzten fünf Jahren im Bereich der antiken Philosophie angeboten wurden, leicht rückläufig war, nahmen die Angebote in den Fächern politische Philosophie, Wissenschaftsphilosophie und insbesondere Ethik stark zu. Diese Trends zeigen, dass sich die antike Philosophie zwar weitgehend behaupten kann, aber nicht zu den „Modefächern" zählt.

 

Andererseits wurde 2010 an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München die Munich School for Ancient Philosophie (MUSAΦ) gegründet. Sie führt Philologen und Philosophen zusammen und bietet ein Promotionsstudium, für das sie teilweise Stipendien bereitstellen kann. Die Munich School for Ancient Philosophie wird gemeinsam von Peter Adamson, Christof Rapp und Oliver Primavesi geleitet. Sie verfügt über viele Stellen für den Mittelbau, wodurch sie in der Lage ist, eine Vielzahl von Seminaren zu einem breiten Spektrum an Themen anzubieten.

Friedemann Buddensiek: Für die letzten Jahrzehnte ist festzustellen, dass Fragen und Texte der antiken Philosophie nun sehr viel häufiger auch in eigenem Recht behandelt werden. Häufiger als zuvor geht es jetzt um die Frage, weshalb der betreffende antike Philosoph im Kontext seiner Zeit ein bestimmtes Problem auf eine bestimmte Weise gefasst hat und welche Lösungsoptionen er aus welchen Gründen gesehen und gewählt hat. Diese Bemühungen um Fragen und Texte der antiken Philosophie in eigenem Recht haben uns in vielen Fällen zu einem besseren Verständnis geführt – was diese Texte wiederum zu einem ernster zu nehmenden Gesprächspartner für zeitgenössische Überlegungen gemacht hat. Dies – zusammen mit einer Vertiefung der Kooperationen insbesondere zwischen Philosophie und Klassischer Philologie – hat dazu geführt, dass die Philosophie der Antike tatsächlich als eine Art Teilfach angesehen werden kann. Ein repräsentatives Beispiel für die Bemühungen um die antike Philosophie als solche war im deutschsprachigen Bereich etwa die Gründung der Gesellschaft für antike Philosophie in München im Jahr 2001, deren Zweck unter anderem die Förderung der Erforschung der antiken Philosophie im deutschsprachigen Raum ist.

Jörn Müller: Im Bereich der praktischen Philosophie hat die Antike in den letzten Jahrzehnten zunehmend Gehör als eine systematisch ernst zu nehmende Stimme gefunden: Unbestreitbar ist v. a. der Einfluss, den die Erforschung der antiken Ethik auf die normativen Diskussionen in der Gegenwart ausgeübt hat; exemplarisch zu nennen sind etwa das Revival eines politisch gewendeten Eudaimonismus (z. B. bei Martha Nussbaum), die Wiederbelebung dichter moralischer Begriffe (Bernard Williams) oder die Rückkehr des ethischen Naturalismus (bei Philippa Foot u. a.). Die philosophische Rehabilitation der akteurzentrierten Tugendethik als eines eigenständigen Paradigmas, das auf Augenhöhe mit primär akt- oder prinzipienorientierten Ansätzen der Neuzeit und Gegenwart zu diskutieren vermag, erscheint insgesamt erfolgreich betrieben worden zu sein.

Auch in der theoretischen Philosophie kann man v. a. bei analytischen PhilosophInnen ein verstärktes Interesse an antiken Positionen und Diskussionskontexten ausmachen, die sich z.B. an der (neu-)platonischen ‚philosophy of mind', der aristotelischen Substanzontologie, der stoischen Emotionslehre oder der hellenistischen und spätantiken Determinismusdiskussion festmachen. Allerdings liegt ein häufiges Problem gegenwärtiger Rezeptionen in der Tendenz, antike Texte primär als Steinbrüche zu benutzen, aus denen man in dekontextualisierender Weise einzelne Theoriequader (oder sogar insuläre Textpassagen) vermeintlich passgenau für die gegenwärtigen Interessen entnimmt, ohne der Komplexität der dahinter stehenden Annahmen angemessen Rechnung zu tragen. Dadurch wird das philosophische Potenzial der antiken Ansätze aber oft enggeführt – und dies ist v. a. im Blick darauf bedenklich, dass die Antike ja auch ein mögliches Korrektiv für Betriebsblindheiten in der Gegenwartsdiskussion zu bilden vermag.

Welches sind die Forschungen bzw. Debatten im Fach, die es wert sind, auch von Philosoph(inn)en außerhalb der antiken Philosophie rezipiert zu werden?

Manuel Knoll: Das Interesse zeitgenössischer Philosophen an den antiken Denkern ist weiterhin groß. So gab es Versuche, Aristoteles' Ontologie mit sprachanalytischen Mitteln zu erneuern. Im 20. Jahrhundert haben die Tugendethik und die politische Philosophie des Aristoteles eine beachtliche Renaissance erfahren. Politikwissenschaftler und Philosophen wie Hannah Arendt, Alasdair MacIntyre, Dolf Sternberger, Leo Strauss und Eric Voegelin griffen auf seine praktische Philosophie zurück. Das trifft auch auf Martha Nussbaum zu, deren Arbeiten nicht bloß von Aristoteles, sondern auch von den Stoikern inspiriert sind. Ich denke, dass die antiken Denker insbesondere viele interessante Antworten auf Fragen nach dem guten und glücklichen Leben sowie nach einer stabilen und guten politischen Ordnung gegeben haben. Viele dieser Antworten sind heute noch aktuell. Für alle Philosophen und Philosophinnen, die auf diesen Gebieten arbeiten, lohnt es sich, die entsprechenden Forschungen bzw. Debatten der Spezialisten für antike Philosophie zu rezipieren.

Jens Halfwassen: Einiges ist ja eben schon genannt worden. Insbesondere drei Forschungsfelder scheinen mir zentral zu sein. Nämlich erstens die Platon-Deutung der Tübinger Schule, die zu einer völligen Neudeutung von Platons Verhältnis zu seinen vorsokratischen Vorläufern, besonders Parmenides, aber auch zu Aristoteles und zu den Neuplatonikern geführt hat und uns die Kontinuität der antiken Philosophie wesentlich besser verstehen lässt, vor allem auch den Zusammenhang des Neuplatonismus mit Platon, der etwas provokativ formuliert eigentlich der erste Neuplatoniker war. Zweitens die Erforschung der neuplatonischen Theorien des Geistes, des Denkens und des Selbstbewusstseins, die in den letzten Jahrzehnten gewaltige Fortschritte gemacht hat. Dabei wurde deutlich, dass sich die Entdeckung der Subjektivität, die sich die Moderne bis dahin als ihr Specificum selbst zuschreiben wollte, schon im Neuplatonismus abgespielt hat, und zwar auf einem philosophischen Niveau, das dem Deutschen Idealismus ebenbürtig ist. Drittens die Debatte um die christliche Rezeption des Platonismus, die spätestens mit dem Johannesevangelium einsetzt und ihren Höhepunkt in der Theologie des 4. bis 6. Jahrhunderts erreicht. Der Vorgang der Platonisierung des Christentums ist als Modell einer philosophischen Interpretation und Durchdringung einer monotheistischen Offenbarungsreligion, die deren immanentes Vernunftpotential zum Vorschein gebracht hat, für uns heute höchst lehrreich.

Friedemann Buddensiek: Vorauszuschicken ist, dass jede Diskussion zur antiken Philosophie das Interesse auch derjenigen Philosophinnen und Philosophen verdient, die nicht speziell zur antiken Philosophie arbeiten. Zur Frage selbst sei hier stichpunktartig nur eine kleine, etwas Aristoteles-lastige Auswahl an rezeptionswürdigen Debatten genannt: Im Bereich der Epistemologie etwa: die Diskussion zur Definition von Wissen (s. z. B. den Theätet) oder zum Gegenstand von Wissen (s. z.B. Politeia V-VII, Zweite Analytiken); s. ferner die Diskussion zum Verständnis der Grundlagen und Folgen der verschiedenen Arten von Skeptizismus; die Diskussion zur Natur ethischen Wissens (Partikularismus vs. Generalismus). – Im Bereich der praktischen Philosophie etwa: die Diskussion zum Verständnis von eudaimonia und zu ihrem Zusammenhang mit Formen des Gut-Seins ("Tugend"); zur Rolle des Wissens für das richtige Handeln (s. die Diskussion zum ethischen Intellektualismus bei Platon); zu den handlungsrelevanten innermenschlichen Faktoren (moral psychology) und den Bedingungen der Zurechenbarkeit von Handlungen (von Platon bis zur späteren antiken Philosophie), zur Erklärung des Handelns unter fehlender Macht über sich selbst (akrasia); zu Bedingungen der Selbst-Kenntnis (u.a. auch in der späteren Antike). – Im Bereich von Ethik und Metaphysik etwa: die Diskussion zum Verständnis von Determiniertheit (von Handlungen und von Zukunft) (s. De Interpretatione, s. Stoa und Epikur) und zum Verhältnis von Determiniertheit und Verantwortlichkeit (Kompatibilismus); zur Verantwortung für den eigenen Charakter; zum Verständnis und zur Rolle des Begriffs der Natur im Bereich der Ethik (s. etwa die Diskussion zur Rolle des Begriffs des ergon). – Im Bereich der Metaphysik speziell etwa: die Diskussion dazu, was es für etwas heißt, eine Sache einer bestimmten Art zu sein (Essentialismus); zu Universalien und abstrakten Gegenständen; zum Verhältnis von Form und Materie.

Jörn Müller: Die Fragestellung insinuiert (möglicherweise unabsichtlich) eine geringere Relevanz derjenigen historischen Debatten, die nicht unmittelbar anschlussfähig an die Gegenwartsphilosophie sind – und provoziert damit die Gegenfrage, welche Forschungen oder Diskussionen der gegenwärtigen Philosophie es denn überhaupt ihrerseits ‚wert' sind, von uns PhilosophiehistorikerInnen beachtet zu werden.

Ungeachtet dessen ist eine äußerst grundlegende Erkenntnis eine (Wieder-)Entdeckung wert, nämlich dass die Philosophie von ihren eigenen Ursprüngen in der Antike her konsequent als Lebensform oder als Lebenskunst zu begreifen ist (vgl. hierzu pars pro toto die Arbeiten von Pierre Hadot und Heinrich Niehues-Pröbsting). Die zunehmende Anpassung der Philosophie als ‚akademischer Betrieb' an wissenschaftliche Standards und Praxen, die ihr von außen – insbesondere von den Naturwissenschaften – nahegelegt (wenn nicht gar oktroyiert) werden, impliziert oft eine bloße Vermessung ihres Werts nach mehr oder minder ephemeren Beiträgen zur gegenwärtigen Forschungslandschaft.

Philosophieren heißt aber nicht zuletzt, sich reflektiert im Leben zu orientieren, auf individueller wie auch auf gesellschaftlicher Ebene. Antike Denker und Schulen offerieren hier (in Anlehnung an Nietzsches Charakterisierung der vorsokratischen Philosophen formuliert) grundlegende „Möglichkeiten des Lebens", deren Gültigkeit nicht von der Halbwertszeit einzelner wissenschaftlicher Erkenntnisse abhängt – und die gerade deshalb eine Beschäftigung mit ihnen auch für heutige PhilosophInnen lohnen: Denn hier findet man einen reichhaltigeren Blick auf die menschliche Praxis in ihrer lebensweltlichen Fundierung als in vielen gegenwärtigen Strömungen.

Wo sehen Sie noch Forschungslücken im Bereich der antiken Philosophie?

Jörn Müller: Weiterhin philosophisch deutlich unterbewertet – und deshalb auch zu wenig von PhilosophInnen wahrgenommen bzw. erforscht – ist die mit Cicero einsetzende römische Philosophie, die aufgrund größtenteils antiquierter Vorurteile vielen immer noch als bloßer Ableger bzw. Epigone der früheren griechischen Debatten (oder als philosophisch unterkomplexe Ratgeber- bzw. Weisheitsliteratur) gilt. Zu Cicero gibt es zwar Unmengen an Literatur aus klassisch-philologischer und (kultur-)historischer Sicht, aber doch zu wenig philosophisch Orientiertes bzw. Fundiertes (wie etwa die jüngere Monographie von Raphael Woolf).

Ein guter Gradmesser für die Wahrnehmung von Gesprächslücken innerhalb der Fachkommunität sind m. E. die neuen Arbeitskreise, die sich innerhalb der Gesellschaft für antike Philosophie (GANPH) in den letzten Jahren konstituiert haben: „Philosophie in Rom"; „Philosophische Anthropologie in der Antike"; „Philosophie und Religion"; „Philosophische Literatur – Literarische Philosophie". Hier geht der Trend insgesamt zu einer stärkeren interdisziplinären Erschließung der Texte in Kooperation mit (klassischer) Philologie, Religionswissenschaft oder Kulturgeschichte.

Friedemann Buddensiek: Sofern Forschungslücken dort bestehen, wo wir den betreffenden Gegenstand oder das einschlägige Problem noch nicht verstanden haben oder noch kein Einverständnis über die entsprechende Interpretation erreicht haben, dürfte ein größerer Bereich der Probleme der antiken Philosophie noch zu den Forschungslücken gehören (s. o. die Auflistung zu Frage 2). Neben Forschungen etwa zu den oben genannten Bereichen gehört zu den klassischen Aufgaben der Forschung zur antiken Philosophie die Erarbeitung neuer und die Verbesserung bestehender Textausgaben, ferner die Übersetzung, schließlich auch die umfassende Kommentierung, die den jeweiligen Text als Ganzen in den Blick nimmt. Wir besitzen etwa keine wirklich brauchbare kritische Textausgabe zur Nikomachischen Ethik, keinen aktuellen Kommentar und keine brauchbare deutsche Übersetzung zur Physik, keinen umfassenden, auch philosophischen Kommentar zu Platons Politeia.

Jens Halfwassen: Die beiden größten Forschungslücken betreffen einerseits die altorientalischen Hintergründe und Einflüsse der vorsokratischen Philosophie – trotz der Forschungen etwa von Uvo Hölscher und Walter Burkert liegt hier immer noch Vieles im Dunkeln. Andererseits sind die großen und höchst lehrreichen neuplatonischen Kommentarwerke zu Platon und Aristoteles lange noch nicht umfassend erforscht; im Deutschen fehlen hier vor allem auch Übersetzungen, etwa von Proklos und Damaskios. Die Kommentare zumal von Damaskios und Simplikios dürften auch aufschlussreich sein für mögliche orientalische Hintergründe der vorsokratischen Philosophie.

Manuel Knoll: Das ist sehr schwer zu beantworten, weil das Fach ja über 1000 Jahre umfasst. Meine eigenen Studien zur antiken Philosophie konzentrieren sich auf die praktische und insbesondere die politische Philosophie von Platon und Aristoteles. Dazu gibt es zwar bereits eine große Menge an Arbeiten. Dennoch ergeben sich immer wieder neue Forschungsperspektiven, die an zeitgenössischen Problemen und Fragen ausgerichtet sind. Allgemein lässt sich sagen, dass im Bereich der antiken Philosophie heute kaum mehr neue Quellen auftauchen. Ausnahmen bilden etwa der 1962 entdeckte Papyrus von Derweni oder die rund 80 Hexameter aus Empedokles' Über die Natur, die Alain Martin 1990 auf einem Papyrus in der Straßburger Nationalbibliothek entdeckte. Solche Funde müssen dann natürlich erforscht werden und können neue Erkenntnisse und Interpretationen ermöglichen.

Sehen Sie eine Veränderung des Interesses der Studierenden am Fach?

Jörn Müller: Die Zahl derjenigen, die mit dem Ziel einer Fokussierung auf antike Philosophie ihr Studium aufnimmt, ist tendenziell eher rückläufig. Aber Texte der antiken Philosophie (z. B. platonische Dialoge) sind von ihren literarischen Formen und von ihrem Problemansatz her hervorragend geeignet, um Studierende da ‚abzuholen', wo sie zu Beginn ihres Studiums stehen. Deshalb sind Studierende auch dann für die Beschäftigung mit der antiken Philosophie zu gewinnen (und manchmal sogar langfristig dafür zu begeistern), wenn sie ohne eine vorher stark ausgeprägte Interessen- oder Erwartungshaltung unsere Veranstaltungen besuchen.

Manuel Knoll: Das fällt mir schwer zu beantworten. Bevor ich Ende 2010 auf meine erste Professur in Istanbul berufen wurde, hatte ich am Department für Philosophie der Universität München (LMU) einen B.A.-Lektürekurs Antike Texte der Philosophie und ein Proseminar Die Naturphilosophie und die Ethik Epikurs und der Stoiker abgehalten. Die Kurse waren gut besucht und das Interesse der Studenten und Studentinnen erschien mir groß. An meiner jetzigen Universität in Istanbul veranstalte ich regelmäßig Einführungskurse in das Denken von Platon und Aristoteles. Auch diese Kurse sind sehr gut besucht, und viele Studenten aus anderen Departments, vor allem aus der Psychologie und der Politikwissenschaft, belegen sie als general electives. Platon und Aristoteles sind auch bei unseren Studenten der Islamic Studies sehr gefragt, weil sie für ein Verständnis der islamischen oder arabischen Philosophie zentral sind.

Friedemann Buddensiek: Eine allgemeine Aussage zur Entwicklung des Interesses an antiker Philosophie lässt sich mangels entsprechender Daten nicht treffen. Die verfügbaren Beobachtungen zeigen aber kontinuierlich ein sehr starkes Interesse bei Studierenden auf allen Ebenen des Studiums: Werbung für Lehrveranstaltungen ist nicht nötig, die antiken Texte – mit den in ihnen behandelten Problemen – sind von sich aus offenkundig attraktiv genug.

Jens Halfwassen: Insbesondere ausländische Studenten kommen nach Deutschland, um hier antike und klassische deutsche Philosophie zu studieren. Die besondere Nähe und Affinität deutscher Klassiker wie Hegel und Schelling zur antiken Philosophie verstärkt das Interesse an dieser. Dabei hat nach meiner Wahrnehmung besonders das Interesse am Neuplatonismus zugenommen.

Wie gehen Sie damit um, dass immer weniger der Studierenden Kenntnisse des Altgriechischen haben?

Friedemann Buddensiek: In Lehrveranstaltungen im Fach Philosophie können wir schon seit sehr langer Zeit keine Kenntnisse der alten Sprachen mehr voraussetzen. Hier bleibt nur, mit deutschen oder wo nötig englischen Übersetzungen zu arbeiten und dabei auf die Probleme, die sich aus der Arbeit mit Übersetzungen ergeben, systematisch hinzuweisen. Entsprechendes gilt für Abschlussarbeiten. Zugleich müssen wir Studierende frühzeitig zum Erwerb von Sprachkenntnissen ermuntern, die ihnen den Zugang zum Inhalt der Texte deutlich erleichtern und die schließlich für Dissertationen auf jeden Fall auf sehr gutem Niveau vorhanden sein müssen.

Jens Halfwassen: Das ist ein wirkliches Problem, weil eine seriöse wissenschaftliche Beschäftigung mit antiken Texten ohne solide Kenntnis der Originalsprachen schlicht unmöglich ist. Wir müssen unsere Studenten eben dazu motivieren, Griechisch zu lernen, was übrigens auch die Differenziertheit und begriffliche Schärfe des Denkens befördert.

Jörn Müller: Auch wenn durch das weitgehende Einbrechen der humanistischen Bildung in den Gymnasien altsprachliche Lücken (übrigens auch zunehmend im Lateinischen) mittlerweile die Regel sind und so zwangsläufig in den Lehrveranstaltungen auf der Basis von Übersetzungen gearbeitet wird, gilt weiterhin: Man muss bei den Studierenden konsequent das Bewusstsein dafür schaffen, dass jede Übersetzung bereits eine gewichtige Interpretationsleistung ist, die man als LeserIn nachvollziehen und ggf. auch kritisieren können sollte. Übersetzungen präjudizieren und vereindeutigen oft komplexere Sachfragen des Originaltextes, an die man ganz ohne Kenntnis der Quellensprache nicht wirklich herankommt.

Drei gestufte Maßnahmen, die ich selbst praktiziere, sind die folgenden: (1) Grundsätzlich mit zweisprachigen Ausgaben arbeiten, bei denen man punktuell in das Original springt, um auf Übersetzungsambiguitäten oder -alternativen hinzuweisen. Bei Tafelbildern o. ä. kann man mit transkribierten Begriffen arbeiten, damit zumindest die Termini vertraut werden (auch die Erstellung eines begleitenden Glossars ist hier hilfreich). (2) Den interessierten Studierenden Selbstlernkurse zum Thema „Griechisch für das Philosophiestudium" (z. B. von Alfred Dunshirn) empfehlen. (3) Regelmäßig Seminare gemeinsam mit der klassischen Philologie anbieten, damit die Studierenden der Philosophie sehen, was ein altsprachlicher Text bei adäquater philologischer Durchleuchtung noch alles an interpretativen Optionen bereithält. Das motiviert letztlich doch zumindest einige PhilosophInnen zu einem universitären Sprachkurs und übt zugleich eine Zugkraft auf die teilnehmenden PhilologInnen aus, Philosophie als Ergänzungsfach zu studieren.

Manuel Knoll: Zum Glück gibt es eine Vielzahl an guten Übersetzungen ins Deutsche, Englische, Französische, Spanische und Italienische. So ist es möglich, mangelnde Sprachkenntnisse dadurch auszugleichen, dass man diese parallel liest. Eine Kenntnis der wichtigsten Termini der Originalsprachen ist natürlich unumgänglich. In der Türkei, wo ich seit über acht Jahren lehre, ist die Situation dagegen sehr schwierig. Die Studenten bringen keinerlei Kenntnisse des Altgriechischen mit und viele Texte sind gar nicht oder schlecht übersetzt. In der Regel arbeite ich mit Übersetzungen ins Englische und versuche den Studenten zumindest die Bedeutung der zentralen griechischen Termini zu vermitteln.

Was sind die Herausforderungen, die auf Ihr Fach zukommen?

Friedemann Buddensiek: Die künftigen Herausforderungen unterscheiden sich vermutlich kaum von den gegenwärtigen Herausforderungen. Zu den Herausforderungen, die das Teilfach mit dem Fach Philosophie als Ganzem teilt, gehört in der Lehre – angesichts ihrer Zerstückelung durch die Modularisierung und angesichts vielfältiger studienexterner Ablenkungen – die Vermittlung umfassender und eingehender Kenntnis der Primärtexte und die Ermöglichung der intensiven Auseinandersetzung mit ihnen. Zu den speziellen Herausforderungen gehört in der Lehre – angesichts der zeitlichen Herausforderungen durch das modularisierte Studium – insbesondere die Ermöglichung des Erwerbs der alten Sprachen. Fachlich gilt es, die Diskussion zum Verhältnis zwischen Philosophiegeschichte und systematischer Philosophie lebendig zu halten. Wissenschaftspolitisch gilt es, Versuchen des Stellenabbaus entgegenzuwirken und Stellen zu schaffen, wenn auch keinesfalls auf Kosten anderer Bereiche der Philosophie (in neun Bundesländern gibt es keine Professuren mit einer Denomination oder Teil-Denomination in der Philosophie der Antike). Einsatz für Stellen wird auch für Bereiche der unmittelbar benachbarten Disziplinen erforderlich sein – so etwa für die Philosophie des Mittelalters, die Arabische Philosophie oder für Professuren der Klassischen Philologie. Zu den Herausforderungen gehört schließlich der Erhalt von Deutsch als Wissenschaftssprache.

Manuel Knoll: Eine dieser Herausforderungen, den Rückgang der Sprachkenntnisse, haben Sie ja gerade angesprochen. Am 1. April 2014 berichtete Die Welt, dass in Deutschland tendenziell immer weniger Schüler ein humanistisches Gymnasium besuchen. Eine weitere Herausforderung geht von einem Philosophieverständnis aus, dass die Forschungen zur Geschichte der Philosophie als zweitrangig und nicht wirklich hilfreich zur Lösung gegenwärtiger philosophischer Probleme und Fragen ansieht. Ich halte eine derartige Auffassung, die keineswegs von allen Kollegen geteilt wird, für verfehlt. Eine dritte Herausforderung betrifft die Philosophie und die Geisteswissenschaften im Allgemeinen. Diese erhalten in vielen Ländern, etwa in Großbritannien, Japan, den Vereinigten Staaten und jüngst in Brasilien keine staatliche Förderung mehr. Die Motive dafür sind weitgehend identisch. In Zeiten globaler ökonomischer Konkurrenz müsse Wissen vor allem nützlich und „praktisch" verwertbar sein. Ein derart verkürztes Verständnis von Bildung, Wissen und Wissenschaft ist völlig unangemessen und stellt heute eine enorme Herausforderung dar. Geisteswissenschaftler und Humanisten sollten kooperieren und Strategien entwickeln um derartigen Gefahren entgegentreten zu können. Zum Glück ist die Lage der Geisteswissenschaften und der Philosophie im deutschsprachigen Raum im internationalen Vergleich immer noch verhältnismäßig gut. Wir sollten dieses Privileg nützen um eine drohende weitere Verschlechterung der Situation zu verhindern. Dazu ist Bewusstseinsbildung durch gute Argumente gefragt. Aber schließlich stellt die Bildung und Verbreitung überzeugender Argumente ein „Kerngeschäft" der Philosophie dar.

Jörn Müller: Institutionell sieht sich das Fach Antike Philosophie denselben Problemen ausgesetzt wie nahezu alle anderen philosophischen Epochenforschungen: Der Trend zur Umwidmung von ursprünglich historischen Professuren bzw. Lehrstühlen zu Gunsten einer zunehmend geschichtsvergessenen philosophischen Monokultur ist zumindest im deutschsprachigen Raum unübersehbar. Wie ist dem zu begegnen? M. E. gerade nicht durch Anpassung an gegenwärtige philosophische Strömungen à tout prix, sondern durch die Bewahrung der methodischen und inhaltlichen Pluralität, welche die antike Philosophieszene auszeichnet. Der zuweilen etwas verkrampft wirkende ‚Anschluss' an die analytische Philosophie ist hier kein Allheilmittel, sondern trägt die Gefahr eines schleichenden Identitäts- und Substanzverlusts der historischen Forschung in sich.

Ein Letztes: Der Trend zur immer kleinteiligeren Forschung, der mit der Spezialisierung der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft einhergeht, hat auch die Beschäftigung mit der antiken Philosophie nicht unberührt gelassen. Diese nahezu unvermeidliche Tendenz sollte aber nicht in die Art von detailverliebter ‚Adressbuchwissenschaft' münden, wie sie mittlerweile für die traditionellen historischen Wissenschaften weitgehend charakteristisch ist. Die Neuentwicklung großmaschigerer Narrative, die auf fortgeschrittener Spezialforschung aufbauen, aber eben nicht in ihr steckenbleiben, ist weiterhin ein gewichtiges Desiderat: Solche mutigen ‚Würfe' bringen nicht nur neuen Wind in die philosophiehistorische Forschung selbst, sondern verschaffen ihr auch über die engeren Fachgrenzen hinaus Gehör.

Jens Halfwassen: Die größte Herausforderung sehe ich in der religiösen Entwicklung. Durch die ungeregelte Zuwanderung gehen wir einer Gesellschaft entgegen, um deren Gestaltung Christentum und Islam miteinander ringen werden, zwei Offenbarungsreligionen, die zwar beide monotheistisch sind, ansonsten aber inhaltlich weitgehend unvereinbar, beide exklusiv und missionarisch, mit Tendenzen zu Fundamentalismus und Fideismus. Uns droht ein neues konfessionelles Zeitalter und damit ein Verlust der Aufklärung und ihrer Errungenschaften eines säkularen Staates und einer säkularen Rechtsordnung. Was wir brauchen, ist darum ein philosophischer Begriff von Gott, der monotheistisch ist, sich aber nicht auf Offenbarung und subjektiven Glaubensvollzug stützt, sondern auf Vernunft und Einsicht und es sich zutraut, mythologisches und anthropomorphes Reden von Gott, wie es auch für Bibel und Koran typisch ist, im Namen eines Vernunft-Monotheismus zu korrigieren. Das Modell dafür ist die antike Metaphysik. Sie wurde auch sowohl vom Christentum als auch vom Islam rezipiert und hat den Gottesbegriff beider Religionen beeinflusst; allerdings wurde ihre islamische Rezeption mit der Verurteilung von Averroes künstlich und gewaltsam abgebrochen, obwohl sie in der islamischen Mystik verdeckt weiterging. Weil die philosophische Theologie der Antike bei Platon und den Neuplatonikern in einer negativen Theologie kulminiert, die vom Absoluten nur sagt, was es nicht ist, aber nicht, was es ist, kennzeichnet sie alle affirmativ-dogmatischen Aussagen über Gott als metaphysisch vorläufig und uneigentlich, mit Platon gesagt, bleiben sie im „Vorhof des Einen", das letztlich nicht diskursiv, sondern nur mystisch erreicht werden kann. Diese negative Theologie hat eine pazifizierende Kraft, weil sie verschiedene religiöse Wege zu Gott zulassen kann, nicht aus Verlegenheit, weil man sich nicht auf einen einzigen einigen kann, sondern aus Respekt vor der Verborgenheit der Gottheit, die eine Pluralität der Annäherungsformen verlangt. Der antike Platonismus stellt außerdem die begrifflichen Ressourcen dafür bereit, mythologische Rede- und Denkweisen durch symbolisch-allegorische Deutung zu entschlüsseln und eben nicht wörtlich zum Nennwert zu nehmen, was die christliche Theologie schon in der Spätantike übernommen hat. Dies ist ein wirksames Gegengift gegen Fundamentalismus und Fideismus und befreit uns von der Weltbefangenheit des Mythos, dem „Absolutismus der Wirklichkeit", der uns unfrei macht.

Die Stellungnahmen sind unabhängig voneinander per Email von der Redaktion erhoben worden; die Autoren hatten keine Kenntnis von den Texten der anderen und nehmen keinen Bezug aufeinander.

UNSERE AUTOREN:

Friedemann Buddensiek ist Professor für Antike Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Jens Halfwassen (+ 15. 2. 20) war Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg.

Manuel Knoll ist Professor für Philosophie an der Istanbul Şehir University.

Jörn Müller ist Professor für antike und mittelalterliche Philosophie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.