PhilosophiePhilosophie

02 2020

Franz Josef Wetz :
Blumenberg, Hans

aus: Heft 2/2020, S. 34-41
 
Am 13. Juli 2020 würde Hans Blumenberg 100 Jahre alt. Der in Lübeck geborene Philosoph ist einer der originellsten und produktivsten Köpfe der Nachkriegszeit. Er lebte zuletzt als Münsteraner Emeritus völlig zurückgezogen das Leben eines philosophischen Eremiten, um in Ruhe schreiben zu können. Schreiben ist die anspruchsvollste Art, sich von der Welt fernzuhalten. Die Nationen, die der Altenberger Nesthocker am liebsten bereiste, waren seine Imaginationen. Im heutigen Wissenschaftsbetrieb versteht sich solch abgeschiedenes Leben keineswegs von selbst. Blumenberg ist in seinem letzten Lebensabschnitt ausschließlich über seine Publikationen an die Öffentlichkeit getreten. Darum hätte man bereits damals leicht auf den Gedanken kommen können, dass er schon nicht mehr lebe. Die Anzahl, der Umfang und die Themen seiner Bücher lassen eine große Leserschaft vermuten. Doch dieser Eindruck täuscht. Nicht zuletzt zeichneten regelmäßige Besprechungen in überregionalen Tageszeitungen Deutschlands und der Schweiz für diese Fehlannahme verantwortlich. In den Redaktionen der Feuilletons saßen damals begeisterte Verehrer Blumenbergs. Allerdings spiegelte seine Präsenz in den Zeitungen nicht seine Popularität wider.
 
Dies kann nicht weiter verwundern, wenn man sich Blumenbergs komplizierte Denk- und Schreibweise vergegenwärtigt, die bis heute zahlreiche Interessierte abschreckt. Obgleich Blumenberg als Autor packender und zupackender Bücher bekannt ist, der oft brillante und elegante Formulierungen wählt, bleibt die Fragestellung seiner Bücher oftmals unklar; deren Grundidee ist nur selten auf Anhieb zu erkennen und die Darstellung seiner mäandernden Gedanken für ungeübte Leser überaus anstrengend. Blumenberg verlangt seinen Lesern ein Höchstmaß an Problemsensibilität und Konzentration ab. In der Sprache der Musik gesprochen, bedient er sich gerade in den späteren Werken weniger der Form der Sonate als vielmehr der Form der Suite. Wiewohl Blumenberg spannende Zusammenhänge und Hintergründe aufdeckt, die bis dahin unbekannt und unverstanden blieben, und durch die Breite seiner Themen auf den Gebieten der Philosophie, Astronomie, Theologie, Literatur wie auch anderer Disziplinen fasziniert – seine Leserschaft blieb zu Lebzeiten überschaubar.
 
Seit Blumenbergs Tod am 28. März 1996 in Altenberge hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Inzwischen könnte man annehmen, dass er immer noch lebt. Denn nach seinem Hinscheiden erscheint jährlich mindestens ein Buch aus dem Nachlass. Mittlerweile hat Blumenberg eine große Prominenz in der gebildeten Öffentlichkeit erlangt. Zahlreiche Tagungen finden über seine Philosophie statt. Es erscheinen Tagungsbände, Handbücher und vor allem Dissertationen über seine Arbeiten. Nach einem ersten längeren WDR-Film über Blumenberg Zwischen Himmel und Höhle aus dem Jahre 1995, als der Münsteraner noch nicht so berühmt war, gibt es inzwischen einen zweiten Film Der unsichtbare Philosoph (2018), außerdem einen Roman Blumenberg mit teils biografisch korrekten, teils unsinnig-fiktiven Inhalten. Schließlich wurde 2018 die Hans Blumenberg-Gesellschaft gegründet, die sich der Förderung und Pflege seines Lebenswerks widmet. Kurzum: Blumenberg ist heute berühmter als jemals zuvor. Wie ist das möglich?
 
Würde Blumenberg sein überraschender Nachruhm gefallen? Diese Frage kann nicht mit einem eindeutigen Ja oder Nein beantwortet werden. Einerseits mied er die Öffentlichkeit, Sichtbarkeit mit Verwundbarkeit und damit Angreifbarkeit gleichsetzend. Er entzog sich dem Wissenschaftstourismus, der Kamera, den Fotografen, und zog es vor, in seiner Schreibhöhle zu bleiben, um die durch die Kriegsjahre verlorene Schreibzeit wettzumachen. Aber obwohl er sich von seinen Lesern abschottete, wollte er andererseits natürlich auch gelesen werden. Mit trockener Ironie fragt er, wann wohl ein Autor mit der Wirkung eines Buches zufrieden sein mag – nach 5000, 50‘000 oder 500‘000 verkauften Exemplaren? Was würde der Autor sagen, wenn die Hälfte der Menschheit seine Bücher erworben hätte? „Und bitte: Was macht die andere Hälfte?“ Nach Schelling ist selbst Gott eine gewisse Eitelkeit eigen, weshalb der Schöpfer die Welt zum eigenen Ruhme erschuf. Wie sollte da der Mensch von dieser Torheit gänzlich befreit sein?
 
Selbstverständlich wusste der Verfasser von Lebenszeit und Weltzeit, dass Ruhm und Nachruhm letztlich nichts wiegen. Eindrucksvoll legt Blumenberg dar, dass die Welt über die Grenzen der eigenen Lebenszeit hinweg unberührt fortexistiert und gleichgültig gegen unsere Wünsche und Interessen bleibt. Er hält es sogar für die empörendste Zumutung und bitterste aller Entdeckungen, dass die Welt alle Zeit hat und der Mensch nur eine kurze Lebensspanne auf der Erde weilt. Darum beschäftigt Philosophen im Greisenalter öfter die Frage, was sie wohl hinterlassen werden und ob ihr Leben auch noch später gewürdigt wird. Nicht selten versuchen sie im kollektiven Gedächtnis der Nachwelt einen guten Platz zu ergattern. Selbst vermeintlich bescheidene Naturen lassen sich hierbei ertappen, obwohl sie wie der römische Satiriker Juvenal längst durchschaut haben: „Was ist schon der größte Ruhm, wenn er nichts als Ruhm ist?“ Blumenberg, der sich intensiv mit der modernen Kosmologie befasste, wusste natürlich, dass irgendwann die Kette der Erinnerung abbricht, Ruhm und Nachruhm mit der Zeit vergehen und es ohnehin töricht ist, über Jahrhunderte im Gedächtnis der Menschheit bleiben zu wollen. Zu seiner Astronoetik gehört die elementare Erkenntnis, dass der Mensch räumlich marginal und zeitlich ephemer ist.
 
Astronoetik ist die hermeneutische, aber auch freie, fantasievolle Reflexion über Planeten, Sterne und das Universum im Ganzen. Hauptsächlich geht es in der Astronoetik um das Selbstverständnis des Menschen vor dem Hintergrund des gestirnten Himmels oder einzelner Planeten und Sonnen. Schöpferische Menschen lassen sich eher von innerer Leidenschaft als von äußerem Ehrgeiz leiten. So sehr dies auf Blumenberg zutrifft, ganz frei war auch er nicht von der Frage nach seiner Nachwirkung. Sicherlich hätte er Dante Alighieri zugestimmt: „Der Ruhm der Welt streift wie ein Hauch die Ohren, ein Hauch, der bald hierher, bald dorther weht, und mit der Richtung geht der Nam‘ verloren.“ Trotzdem hätte ihm seine heutige Prominenz auch gefallen. Nur wie konnte sie entstehen?
 
Es gibt doch andere große Philosophen seiner Generation mit ausgezeichneten Detailkenntnissen der abendländischen Kulturgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart, denen nicht die gleiche Bewunderung und Anerkennung nach ihrem Tod zuteil wurde. Man denke etwa an den Nestor der Tübinger Philosophie Walter Schulz oder an Karl Löwith, um nur zwei Namen zu nennen, die mit dem gleichen Verständnis für menschliche Deutungs- und Orientierungsfragen, den Wandel menschlicher Selbst- und Weltbilder, großartige Werke schufen. Warum erlebt ausgerechnet Blumenberg eine Renaissance?
 
Dieses Phänomen wirkt erst recht seltsam, wenn man bedenkt, dass seine Bücher aus dem Nachlass nicht verständlicher geworden sind als jene zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften. Im Gegenteil, einige Nachlassbände sind sogar überaus diffus. Freilich enthalten sie einige verborgene Schätze, aber so viel Neues und Überraschendes auch wieder nicht für den, der seine zu Lebzeiten publizierten Werke bereits sorgfältig studiert hat. Etliche Nachlassbände sind – horribile dictu – eher unergiebig. Sie präsentieren hauptsächlich Unfertiges, Ungefähres, Unausgereiftes, wie beispielsweise Quelle, Berge, Eisströme, um nur ein Beispiel zu nennen. Aber wie sollte es auch anders sein? Es sind doch Nachlasstexte, die (noch) nicht zur Publikation bestimmt waren.
 
Blumenbergs Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach ist immens. Er umfasst 200 Archivkästen mit handschriftlichem Material, davon 32 mit Zettelkästen, mehr als 30‘000 Karteikarten, Mappen, die knapp 10‘000 Typoskriptseiten enthalten mit mehr oder weniger fragmentarischen Kurzessays. Hinzu kommen zahlreiche Briefe, ausführliche Stellenkommentare und unabgeschlossene Buchmanuskripte. Möglicherweise hängt der späte Erfolg Blumenbergs mit diesem Nachlass zusammen, womöglich auch mit seiner Schreibweise wie mit seiner bislang weitgehend verborgenen und erst neuerdings bekannt gewordenen Lebensgeschichte und nicht zuletzt natürlich mit seinen Arbeitsfeldern. Der Fluch der Verständlichkeit von Büchern beim ersten Lesen liegt darin, nicht weiter behandelt werden zu müssen. Zwar liest man solche Bücher gerne, aber legt sie anschließend unkommentiert zur Seite. Der Segen der Unverständlichkeit von Werken beim ersten wie auch zweiten Lesen aufgrund ihrer komplexen Syntax und Semantik besteht darin, sich mit ihnen intensiver und länger befassen zu müssen, wenn man sie begreifen möchte. Zwar ärgern solche Bücher nicht selten ihre Leser, aber mitunter lassen sie diese nicht mehr los.
 
Blumenberg verfasste zahlreiche Schriftstücke der zweiten Art; insbesondere die Nachlassfragmente besitzen häufig diese Qualität. Damit liefern sie viel Stoff für Tagungen und Dissertationen, und natürlich steigt hierdurch sein Bekanntheitsgrad.
 
Hinzu kommt eine bewegende Lebensgeschichte. Verblüffend war seine soziale Abgeschiedenheit beim unermüdlichen Arbeiten: Am späten Nachmittag begann seine einsame Schreib- und Lesezeit, die mit der Zeitungslektüre in den frühen Morgenstunden endete. Erschüttert nimmt man die hässlichen Folgen seiner jüdischen Herkunft für Schule und Studium in der Zeit des Nationalsozialismus zur Kenntnis. Ergreifend ist die Tatsache, dass der tiefgläubige junge Blumenberg katholischer Priester werden wollte, sein ernsthaftes Ringen um den Glauben und dessen Verlust bei gleichbleibender Sympathie für die Kirche – sowie andere Facetten seiner Biografie.
Seine Dissertation, die mittelalterlichen Philosophen attestiert, in ähnlich fundamentaler Weise wie Heidegger nach dem Sein gefragt zu haben, hält die Möglichkeit einer theologischen Metaphysik noch offen. Bis zuletzt hörte der im Laufe seines Lebens gottlos gewordene Blumenberg alljährlich Bachs Matthäuspassion am Karfreitag. Natürlich verdankt sich der späte Erfolg Blumenbergs aber auch seiner Kulturphilosophie. Seine intensive Auseinandersetzung mit den großen Fragen jenseits aller Engführungen von Idealismus und Naturalismus, Hermeneutik und Postmoderne einerseits, Analytischer Philosophie und Wissenschaftstheorie andererseits macht ihn für viele Disziplinen anschlussfähig. Gerade sein breites Wissen auf den Gebieten der Naturwissenschaften, Philosophie, Theologie, Kunst, Technik und Literatur wie auch seine zur Theorie der Unbegrifflichkeit erweiterte Metaphorologie lassen Literaturwissenschaftler, Theologen, Wissenschaftstheoretiker und Geisteswissenschaftler aller Couleur aufhorchen. Blumenberg ließ sich nie durch Methodenreflexion von der Behandlung kleiner oder großer Sinn- und Orientierungsfragen abhalten. Im Mann ohne Eigenschaften spricht Robert Musil vom „Prinzip des unzureichenden Grundes“. Diese Formel greift Blumenberg (ausnahmsweise mal ohne Nennung der Quelle) auf. Sie steht bei ihm für argumentationsgestützte Plausibilität, die weder die Qualität definitiver Evidenzen noch die zwingender Beweise hat. Es gehört zur Eigenart des endlichen Menschen, sich in Sinn- und Orientierungsfragen hiermit begnügen zu müssen. Mit solchem hermeneutischen Instrumentarium gelingt es Blumenberg, in seinen kulturphilosophischen Reflexionen hintergründige Zusammenhänge offenzulegen, geschichtliche Sachverhalte zu verstehen und Wirklichkeiten präsent zu halten, die andernfalls unbemerkt und unverstanden blieben. Dabei erfahren seine Auslegungen ihre Rechtfertigung aus dem, was sie mehr oder weniger glaubhaft erschließen.
 
Neben seiner Metaphorologie ist in den letzten Jahren vor allem seine Phänomenologische Anthropologie in den Lichtkegel der Aufmerksamkeit gerückt. In diesem Zusammenhang setzte sich Blumenberg immer wieder mit Edmund Husserl auseinander. Hieraus sind zahlreiche halbfertige Texte entstanden, die nach und nach publiziert werden, obwohl sie sich selbst Husserl- und Blumenbergkennern nicht ohne weiteres erschließen. Zuweilen hat man den Eindruck, als hätte sich Blumenberg hier verrannt. In der Musik werden gelegentlich Kompositionen ausgegraben, die bis dahin nicht zufällig über Jahrhunderte oder mitunter nie gespielt wurden. Man hätte sie besser in der Versenkung lassen sollen. Die gleiche Einschätzung drängt sich auch hier ein ums andere Mal auf. Ziel von Blumenbergs Auseinandersetzung mit Husserl ist einerseits der Nachweis von Ungereimtheiten in dessen transzendentaler Phänomenologie, andererseits die Aufdeckung verborgener Bedingungen ihrer Möglichkeit, die anthropologischer Art seien. Im Grunde möchte er zeigen, dass Husserls transzendentale Phänomenologie auf dem Wege zu einer phänomenologischen Anthropologie war – eine Erkenntnis, die Husserl, dem Blumenberg eine Anthropologie-Phobie bescheinigt, über alle Maßen fürchtete. Aber der Fels, an dem Husserls transzendentaler Spaten bricht, ist nach Blumenberg der endliche Mensch, belastet mit einem sorgenvollen Leben, dessen Gelingen niemals sicher ist, das heißt: die Anthropologie.
 
Darin ersetzt Blumenberg die klassische Wesensfrage: „Was ist der Mensch?“ durch die bange Existenzfrage: „Wie ist der Mensch überhaupt möglich?“, überzeugt davon, dass er ein fast unmögliches, riskantes Lebewesen ist, das eine Menge dafür tun muss, um überleben und gut leben zu können. Zur Ausarbeitung seiner Phänomenologischen Anthropologie, in deren Mittelpunkt der Mensch als sichtbares und damit angreifbares Lebewesen steht, hätte es der quälenden Auseinandersetzung mit Husserl nicht bedurft. Überzeugender ist da schon Blumenbergs Anknüpfung an Arnold Gehlen, Ernst Cassirer und vor allem Hans Jonas‘ Organismus und Freiheit. Deren Beschreibungen des Menschen relativieren jedoch den Stellenwert von Blumenbergs Anthropologie erheblich. In diesem Zusammenhang bleibt es schwer nachzuvollziehen, warum er Helmuth Plessners Anthropologie der exzentrischen Positionalität oder Wilhelm Kamlahs Anthropologie des bedürftigen und bedrängten Menschen gänzlich ausspart. Denn hier hätte er bereits finden können, worauf es ihm ankam. Warum stattdessen der schwer verständliche Umweg über Husserl?
 
Der Mensch ist ein geringfügiges, endliches, unzulängliches Lebewesen mit speziellen Talenten, die er dringend zum Überleben und guten Leben benötigt. Denn der Mensch bewegt sich ursprünglich in einer namenlosen, feindseligen und erbarmungslos gleichgültigen Wirklichkeit, die Blumenberg bereits in seiner Habilitationsschrift das „Übermächtige“ nannte. Dieses ruft gleichermaßen Lebens- und Weltangst hervor. Wie schon Willhelm Dilthey und Nicolai Hartmann definiert Blumenberg hier die Wirklichkeit als unverfügbaren Widerstand von tyrannischer Mächtigkeit, als „Absolutismus“. Die eigentliche Herausforderung des Menschen liege darin, diesen „Absolutismus der Wirklichkeit“ durch „Leistungen der Distanz“ zu brechen.
 
Wie schon Vico, Hume, Bergson, Sigmund Freud und Oswald Spengler betont Blumenberg, der auch in diesem Punkt weniger originell ist, als es scheint, dass die Menschen mit Hilfe von Namensgebungen, Bildern, Geschichten, Mythen, Religionen, Metaphysik, später Wissenschaft und Technik, die bedrohliche Fremde in eine halbwegs vertraute Lebenswelt verwandelt hätten, in der es sich einigermaßen leben lasse.
 
Sinngeschichten wie Mythen waren für den Überlebenskampf der Menschen in der absolutistischen Wirklichkeit nach Blumenberg genauso wichtig wie die Erfindung von Jagdinstrumenten oder die Möglichkeit zum Rückzug in Schutzhöhlen. Als Befürworter der modernen Technik würdigt Blumenberg aber nicht nur deren Vorzüge als Entlastung von den Beschwerlichkeiten des Lebens, son-dern auch die durch sie gewonnene Lebenszeit für mehr Zeitvertreib durch beschleunigte Zeitabläufe in einem Dasein, das aufgrund seiner Kürze notorisch unter Zeitmangel leidet.
 
Während Blumenbergs latente Kontrahenten Adorno und Horkheimer einerseits, Heidegger andererseits in der abendländischen Kultur von den Anfängen bis in die Gegenwart einen unheilvollen Weltbemächtigungswillen am Werke sehen, macht der Münsteraner darin einen unvermeidbaren Weltbewältigungswillen ausfindig. Bedeutet also für erstere Kultur soviel wie Bemächtigen der Wirklichkeit durch Unterwerfen und Zurichten so für Blumenberg umgekehrt Bewältigen durch Abwehr und Distanzgewinnung.
 
Allerdings leugnet Blumenberg im Gegensatz zu Dilthey, Jakob Burckhardt und Heinz Heimsoeth, dass es einen Kanon großer und letzter Fragen gibt, die, in der Antike aufgebrochen, nie wieder verstummten. Stattdessen geht er wie Löwith und Spengler davon aus, dass ganz unterschiedliche Fragen die philosophische Schaubühne in den verschiedenen Epochen betreten, die sich aus den Antworten jeweils früherer Zeiten ergeben. Jedoch so bedeutsam seine Offenlegungen verborgener Sinnschichten tragender Bilder und Begriffe eines Zeitalters sind, genauso fragwürdig sind seine Enthüllungen kulturgeschichtlicher Voraussetzungen teilweise zugleich. Man denke bloß an die gewagte Interpretation der Neuzeit als zweite Überwindung der Gnosis oder an ihre Rechtfertigung als humane Selbstbehauptung gegen den spätmittelalterlichen Willkürgott, als ob Religion nicht bis ins späte 19. Jahrhundert und trotz aller Religionskritik noch darüber hinaus kulturell prägend gewesen wäre.
 
Genauso heikel ist die Behauptung, dass kreative Kunst und innovative Technik erst in der Neuzeit möglich wurden, weil im Spätmittelalter die geschaffene Welt als zufälliger Ausschnitt aus dem unendlichen Spielraum des für Gott Möglichen galt. Hierdurch habe sich ein Horizont mit zahllosen Gestaltungsmöglichkeiten geöffnet. Auf diese Weise sei genug Platz für die neuzeitliche Idee des schöpferischen Menschen entstanden, der in Technik und Kunst nun wirklich Neues hervorbringen konnte. Das Wirkliche erschöpfte nicht mehr das Mögliche. Dies sei in der Antike anders gewesen, weil dort der Kosmos der Inbegriff alles Möglichen war, weshalb die Wirklichkeit auch aus Mangel an Möglichkeit, nicht und anders sein zu können, als notwendig angesehen wurde. Einen für kreative Kunst und innovative Technik unverzichtbaren Spielraum des Möglichen gab es in der Antike nicht. Es konnte nur nachgeahmt werden, was schon existierte.
 
Allerdings ist mit Blumenbergs Ableitung der neuzeitlichen Kunst und Technik aus der spätmittelalterlichen Öffnung der Schere zwischen Wirklichem und Möglichem unvereinbar, dass beispielsweise nach Spinoza, Schelling, Nietzsche und Schopenhauer die Wirklichkeit der Möglichkeit durchaus entbehrt, nicht und anders zu sein, und somit notwendig ist. Hiernach hätten kreative Kunst und innovative Technik gar nicht entstehen dürfen. Blumenberg stieß schon deshalb nicht auf diese Ungereimtheit, weil er bei aller Belesenheit den Deutschen Idealisten und Nachidealisten eher wenig Beachtung schenkte. Mit alldem sei lediglich angedeutet, dass Blumenbergs Geschichtskonstruktionen, so aufschlussreich sie sein mögen, teilweise prekär sind.
 
Dagegen besitzt seine Grundidee eine starke Überzeugungskraft, mit deren Hilfe er die Kulturgeschichte interpretiert: Auf der einen Seite steht die sinnleere Wirklichkeit, die angsterregende, rücksichtslose, unzuverlässige Übermacht der realen Welt, die einem absolutistischen Souverän gleicht. Ihr stehen auf der anderen Seite die kulturellen Anstrengungen und Maßnahmen des gleichermaßen schwachen wie erfindungsreichen Menschen gegenüber, die ihn von dieser übermächtigen Willkürherrschaft entlasten sollen. Ratlosigkeit ist glücklicherweise keine menschliche Stärke. Blumenberg variiert diesen Grundgedanken mehrfach in seinen Büchern.
 
Wilhelm Dilthey schloss aus der Gesamtheit der Kultur auf die Bedeutung des Menschen: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte.“ Hieraus ergab sich für Blumenberg die „elementare Obligation, Menschliches nicht verloren zu geben“, wiewohl er genau wusste, dass am Ende nichts bleiben wird. „Sterblich ist alles, was je des Menschen Geist mit eitlem Fleiß geschaffen“, schreibt Francesco Petrarca.
 
Heute sind Literaturwissenschaftler, Theologen, Philosophen, Metaphorologen und ihre Doktoranden damit befasst, Blumenbergs Texte am Leben zu erhalten. Hierbei laufen sie angesichts der Fülle bereits vorhandener Sekundärliteratur inzwischen zunehmend Gefahr, längst Bekanntes sich immer wieder neu einfallen zu lassen. Für Leserfreunde populärer Literatur werfen Blumenbergs gelehrte Bücher vermutlich nur wenig ab, obwohl seine Werke zahlreiche Anekdoten, schöne Aphorismen und span-nende Erzählungen enthalten, was deren Zugang jedoch nicht unbedingt erleichtert. Allerdings verfasste er auch eine Menge leicht verständlicher Texte. Schon in der Zeit zwischen 1952 und 1955 schrieb er kurioserweise unter dem Pseudonym Alex Colly eine Reihe ernster und launiger Glossen und Essais für die Düsseldorfer und Bremer Nachrichten. Wohl um seinen Ruf des seriösen Wissenschaftlers nicht zu gefährden, entschied er sich damals zum Pseudonym und wählte witzigerweise hierfür den Namen seines Hundes Alex, der ein Collie war.
 
Blumenberg befasste sich kaum mit politischer Philosophie und Ethik. Er war in erster Linie an der symbolisch-kulturellen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit interessiert. Allerdings war für Arbeit am Mythos ursprünglich ein Kapitel über den nationalsozialistischen Gebrauch von Mythen vorgesehen. Jedoch entfernte er dieses Kapitel aus dem Manuskript. Eigenen Angaben zufolge hätte es ihm den Geschmack an dem Buch verdorben, in dem er sich lieber über Goethe als über Hitler ausließ. Die beiden Nachlassbände Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos, in dem es vor allem um das Verhältnis Goethes zu Napoleon geht, und Rigorismus der Wahrheit, wo Blumenberg, von Israel ausgehend, im Anschluss an Sigmund Freud und Hannah Arendt die Frage aufwirft, ob ein Volk einen politischen Mythos benötige, geben einen kleinen Einblick in sein politisches Denken. Der Briefwechsel mit Carl Schmitt enthält dagegen hauptsächlich Ergänzungen zu der von Blumenberg ausgelösten Säkularisierungsdebatte der 1960er Jahre.
 
Eine Besonderheit von Blumenbergs Kulturanthropologie liegt in der Rückführung aller Kultur auf die Auseinandersetzung des Menschen mit der übermächtigen „Welt da draußen“, nicht aber auf die Bearbeitung seiner unverfügbaren „Welt hier drinnen“. Blumenberg kennt fast nur die Bedrohung des sichtbaren Menschen durch die übermächtige Außenwelt, aber kaum die Selbstgefährdung des Einzelnen durch ausschweifende Begierden. Damit zusammenhängend fehlt weitgehend der menschliche Drang nach exzessiver Entgrenzung gewalttätiger oder sozial verträglicher Art. Gehlen handelt diesen Drang unter der Überschrift Antriebsüberschüsse ab, die seit jeher zu Selbstbeherrschung gemahnende Verhaltensregeln und Institutionen in Schach zu halten versuchen.
 
Dessen ungeachtet beeindruckt, ja begeistert Blumenberg durch die große Vielfalt seiner Werke und seiner scheinbar unerschöpflichen Wissensfülle auf zahlreichen Gebieten. Darum fällt es schwer, bei der Einschätzung seines Lebenswerks das rechte Maß zu treffen. Obwohl seine Leistungen jedes Mittelmaß übersteigen, gilt es bei deren Beurteilung aber Maß zu halten. Kein Mensch erträgt die ganze Wahrheit, oftmals nicht einmal die halbe, am wenigsten die über sich selbst. Deshalb müssen gewöhnlich Teile der Wirklichkeit abgedunkelt, zumindest weich gezeichnet werden, um das Leben aushalten zu können. Trotzdem bricht gelegentlich die Wahrheit schonungslos hervor, so dass sie nicht mehr verdrängt werden kann. In einer Zeit, in der Blumenberg ein übertrieben hohes Ansehen genießt, könnte eine solche maßvolle Wahrheit lauten: Hans Blumenberg ist zweifellos ein großer Philosoph, aber ein so großer Philosoph nun auch wieder nicht.
 
UNSER AUTOR:
 
Franz Josef Wetz ist Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.
Von ihm ist soeben erschienen: Hans Blumenberg zur Einführung, vollständig überarbeitete und stark erweiterte 5. Auflage, Junius: Hamburg 2020, 256 Seiten.