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FORSCHUNG

Hegel: Hegel als Erkenntnistheoretiker entdeckt

HEGEL

Hegel als Erkenntnistheoretiker neu entdeckt

In den USA ist im Ausgang von Sellars von Terry Pinkard und Robert Brandom eine pragmatistische Lesart Hegels entwickelt worden. Sie ist in Deutschland insbesondere in Münster von Michael Quante und Christoph Halbig produktiv, wenn auch kritisch aufgenommen worden (sie setzen sich gegen jede Abschwächung von Hegels ontologischen Ansprüchen zur Wehr). Die Beiträge einer Tagung, auf der sich Vertreter (und Kritiker) der pragmatistischen Lesart (natürlich in Münster) getroffen haben, liegen nun in Buchform vor:

Halbig, Christoph/Quante, Michael/Siep, Ludwig (Hrsg.): Hegels Erbe. 434 S., kt., 2004, stw 1699, Suhrkamp, Frankfurt.

Die pragmatistische Lesart Hegels verspricht, wie Dean Moyar in seinem Beitrag Die Verwirklichung meiner Autorität schreibt, alle offensichtlich metaphysischen Sachverhalte auf Probleme oder Abstraktionen von konkreten Prozessen des „Aushandelns und Verwaltens“ bestimmter Normen zu reduzieren. Die „Münsteraner Hegel-Interpretation“ akzeptiere Hegels Vertrauen auf die Methode des Selbstbewusstseins, lese aber Hegels Gebrauch des Selbstbewusstseins als Behauptung über die „Grundstruktur der Wirklichkeit“ in einem starken ontologischen Sinne. Und während die Amerikaner Pinkard und Brandom die Phänomenologie des Geistes als primären Text heranziehen, konzentrieren sich die Münsteraner auf die Enzyklopädie als die reife Frucht von Hegels systematischem Denken.

Die pragmatistische Interpretation entdeckt Hegel als Epistemologen, als den man ihn, wie Hans Friedrich Fulda in seinem Beitrag Hegels Logik der Idee und ihre epistemologische Bedeutung schreibt, seit den Tagen des jüngeren Fichte am wenigsten gesehen hatte. Fulda zufolge stecken in einer solchen Aneignung eine Menge von Illusionen, Zufall, Willkür, Einseitigkeit und Gewaltsamkeit, aber durchaus auch ingeniöse Einsicht. Mit Halbig teilt er aber die Einsicht, dass von allen Hegelschen Beiträgen zur Epistemologie der in der Logik enthaltene „Kern“ vorrangig ist. Nur an der Rolle, die das Erkennen in dieser Fundamentalphilosophie und thematisch in der Lehre von der Idee spielt, kann man die Bedeutung ermessen, welche die Aufklärung über Erkenntnis für Hegel insgesamt hatte; und erst von hier aus kann man die Ergebnisse dieser Aufklärung richtig einschätzen. Für Fulda fällt Hegel mit seinem ganz neuartigen Konzept der Fundamentalphilosophie nicht hinter die kantische Erkenntniskritik zurück, sondern radikalisiert ihr Geschäft. Insbesondere die so genannte subjektive Logik Hegels, deren letzter Teil die Lehre von der Idee ausmacht, verdankt sich einer gründlichen Auseinandersetzung mit Kants Programm einer Transzendentalphilosophie. Sie liefert gewichtige Gründe dafür, dass dieses nicht eine wahrhaft erste Philosophie ergeben kann und durch eine Logik Hegelschen Typus ersetzt werden sollte. Gegen die Hegel-Interpretation Halbigs wendet Fulda ein, es gebe nicht die Erkenntnistheorie Hegels (die theoretische), sondern mindestens drei in ihren Prinzipien wohl zu unterscheidende Erkenntnisarten, deren Vereinbarkeit sich unter der Idee des Erkennens nicht erweisen lässt.

Für Fulda ist Hegels ganze Logik der Idee eine Epistemologie in nuce. Sie setzt keine Ontologie voraus, sondern schafft für eine Ontologie erst Raum. Was für epistemologische Konsequenzen ergeben sich aus Hegels Logik der Idee? Diese organisiert die ganze Philosophie des Realen und mit ihr die ganze Hegelsche Philosophie. Deswegen, so wendet Fulda gegen Halbig und die von Sellars inspirierte amerikanische Hegel-Interpretation ein, sei es problematisch, Hegels Erkenntnistheorie aus seinem Werk herauszulösen.

Für Halbig lassen sich, wie er in seinem Beitrag Das „Erkennen als solches“ Überlegungen zur Grundstruktur von Hegels Epistemologie ausführt, zentrale epistemologische Kategorien nur aus metaphysischen Prämissen verstehen. So ist Hegels Theorie propositionaler Wahrheiten in seinen metaphysischen Wahrheitsbegriff eingebettet. Halbig sieht in Hegels logischen Bestimmungen des Erkennens einen antirepräsentationalistischen, antiskeptischen direkten Realismus verbunden mit einer Identitätstheorie propositionaler Wahrheit. Dies ist ihm zufolge eine für die Gegenwart attraktive Position, da sie das Dilemma zwischen einem idealistischen und relativistischen Konstruktivismus einerseits und einem szientistischen indirekten Realismus andererseits überwinden könnte.

Hegel hat seine Position immer als Idealismus bezeichnet; und insgesamt gesehen haben ihn seine Leser beim Wort genommen. Da als Gegenposition des Idealismus normalerweise der Realismus angenommen wird, ist es, worauf Terry Pinkard ein seinem Beitrag Innen, Außen und Lebensformen hinweist, besonders auffallend, dass Hegel sebst in einer berühmten Passage seiner Wissenschaft der Logik schreibt, dass jede „Philosophie wesentlich Idealismus“ ist oder „denselben wenigstens zu ihrem Prinzip“ hat „und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt ist…Der Gegensatz von idealistischer und realistischer Bedeutung ist daher ohne Bedeutung“. Für Pinkard läuft diese Aussage darauf hinaus, dass, da alles Idealismus ist, auch alles Realismus ist. Dies passt zu der verbreiteten – und von Pinkard abgelehnten - Interpretation, der zufolge Hegels Philosophie eine Version holistischer monistischer Metaphysik sei. Für Pinkard ist Hegels Philosophie vielmehr eine Antwort auf die große Frage des Skeptizismus: Wie können wir wissen, dass ein interner mentaler Zustand – eine Überzeugung, Repräsentation, Vorstellung – zu einem objektiven Zustand in der Welt passt? Hegels Lösung hat mit einer Vergrößerung des Subjekts zu tun, so dass dieses sozusagen die gesamte Objektivität in sich aufnimmt. Von hier aus geht Hegel zu der Vorstellung über, dass die Subjektivität nicht bloß eine menschliche Subjektivität sein kann, sondern etwas Größeres sein muss.

Allerdings besteht bei einer solchen Neubewertung der Verdacht, dass sie weniger auf eine Beurteilung Hegels hinausläuft als auf eine Angleichung seines Denkens an einen zeitgenössischen Ansatz. Aber wenn Hegel tatsächlich metaphysischer Monist ist, was könnte dann der „höchste und letzte Standpunkt“ sein, in dem „das Endliche“ nicht als „ein wahrhaft Seiendes“ gilt? Pinkard verweist hier auf Michael Forster, der in Hegel eine Art Wittgensteinschen Therapeuten sieht, der versucht, den modernen Menschen in den Stand zu versetzen, echtes Glück zu erlangen. Das wird gemäß Forsters Hegel-Interpretation dadurch vereitelt, dass die modernen Menschen verschiedenen Dualismen anhängen, die es ihnen unmöglich machen, ihre basalen Wünsche nach Solidarität mit der Gemeinschaft, nach Wissen der Wahrheit
und nach radikaler Freiheit zu erfüllen. Pinkard sieht Hegels Idealismus darin, dass er Kant folgend die Behauptung billigt, dass wir mit Gründen handeln und immer schon dem Vorrang der Vernunft verpflichtet sind. Wir handeln aber nicht nur aufgrund bloß formaler oder struktureller Vernunftregeln, sondern in Bezug auf gehaltvollere, „materiale Vernunftprinzipien, wie sie in den Praktiken unserer Lebensform verkörpert sind“.

Michael Quante nimmt in seinem Beitrag Spekulative Philosophie als Therapie das Thema auf. Das Bedürfnis, Hegel als Therapeuten zu lesen, liegt darin, von den immensen Begründungsansprüchen loszukommen, ohne Hegels philosophische Einsichten in Bausch und Bogen verwerfen zu müssen. Quante zufolge scheitert Hegel. Er nimmt die generelle Herausforderung des Skeptikers ernst und bemüht sich, ein epistemisches Fundament zu entwickeln, welches dessen impliziten Ansprüchen genügt. Auf der Ebene der Gesamtkomposition des Systems bleibt er aber dem cartesischen Internalismus verpflichtet. Es gelingt ihm in seinem System nicht, ein plausibles und alternativloses Modell von Subjekten vorzulegen, die in der Lage sind, Wissensansprüche zu erheben. Die Frage ist dann: Welche Aspekte seines Denkens sind vom Zusammenbruch seines Systems nicht betroffen? Quantes Antwort: Es sind die therapeutischen Aspekte.