PhilosophiePhilosophie

01 2017

Keil, Geert: Wo sind die Philosophen, wenn man sie braucht? Über Philosophie und Öffentlichkeit

Aus: Heft 1/2017, S. 8-19
 
 
Nach einem vielzitierten Wort von Hegel ist die Philosophie „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“. Die Universitätsphilosophie an dieses Wort zu erinnern heißt, sie zu kritisieren. In der öffent­­lichen Wahrnehmung kommt sie der Aufga­be, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen, schon seit geraumer Zeit kaum noch nach. Wo sind die Philosophen, die sich mit drängenden Ge­genwartsfragen befassen und die Öffentlich­keit an ihren Einsichten teilhaben lassen? Die globalen Herausforderungen, Fehlentwicklun­gen und Krisenherde lassen sich kaum noch aufzählen, die Zeit scheint aus den Fugen. Zu allem Überfluss haben in der politischen Arena die terribles simplificateurs einen fast unheim­lichen Zulauf. In Gedanken zu erfassen gäbe es vieles, doch die akademische Philosophie zieht sich, so die Klage, in ein selbstgewähltes Ghetto zurück, nämlich auf die kleinteilige Bearbeitung von Problemen, die außer anderen Fachphilosophen niemanden interes­sieren.
 
Diese Klage ist zunächst ein gutes Zeichen. Sie zeigt, dass man von der Philosophie etwas erwartet, was man von der anorganischen Chemie, der Assyrologie oder der Minnesang­forschung nicht erwartet. Philosophen gelten als Spezialisten fürs Allgemeine. Sie befassen sich mit den Grundlagen des Alltagsverstan­des und der Wissenschaften. Sie durchdenken Probleme gründlich und geben sich nicht mit oberflächlichen Antworten zufrieden, sie prü­fen Argumente und suchen das Tragfähige vom schlecht Gedachten zu scheiden. Philo­sophie ist das Gegenteil von Bullshit in Harry Frankfurts Sinn, dem gedankenlosen Daher­gerede ohne Interesse daran, wie sich eine Sache wirklich verhält. Man könnte erwarten, dass dieses Tätigkeitsprofil die Philosophie prädestiniert, es mit der neuen Unübersicht­lichkeit aufzunehmen, in gesellschaftliche Debatten einzugreifen und Krisenphänomene klärend auf den Begriff zu bringen.
 
Die Frage, wo die Philosophen sind, wenn man sie braucht, ist noch die schmeichelhafte Variante. Die weniger schmeichelhafte ist, dass die Stimme der Philosophie nicht ver­misst wird, weil man ihr anders als Hegel gar nicht mehr zutraut, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen. Beide Reaktionen, die enttäuschte wie die gleichgültige, sind im publizistischen Diskurs über das Verhältnis von Philosophie und Öffentlichkeit verbreitet.
 
Die Wochenzeitung Die Zeit hat unter dem Titel „Wo seid Ihr, Professoren?“ das „Schwei­gen der Professoren zum aktuellen Weltge­schehen“ beklagt (1). Die Philosophen Robert Frodeman und Adam Briggle halten der aka­demischen Philosophie in ihrer jüngst erschie­-nenen Generalabrechnung mit der Profession ein „Versagen beim Erfüllen gesellschaft­licher Bedürfnisse“ vor. Universitätsphiloso­phen hätten sich bequem auf Lebenszeitstel­len eingerichtet, statt wie Sokrates dorthin zu gehen, wo es weh tut (2). Mir scheint die Kri­tik an politischer Lethargie oder Risikoscheu zu kurz zu greifen. Die üblichen wohlfeilen Aufrufe, „Farbe zu bekennen“, „den Elfen­beinturm zu verlassen“ und „seine Stimme zu erheben“, verkennen die Art der Herausforde­rung, die primär eine intellektuelle ist und we­­niger eine der mangelnden Mobilisierung. Ich möchte im Folgenden erstens einige Gründe dafür erörtern, philosophieinterne wie -exter­ne, dass die Stimme der Philosophie in der Öffentlichkeit tatsächlich schwächer gewor­den ist. Noch klärungsbedürftiger erscheint mir zweitens die in den Aufrufen zum Enga­gement übersprungene Frage, was Philo­so-phen überhaupt aus eigener Kompetenz zu ge-sell­schaftlichen Debatten beitragen kön­nen.
 
Die Rolle des öffentlichen Intellektuellen
 
Unstrittig ist, dass die Philosophie im 20. Jahr­hundert eine Reihe von politischen Intellektu­ellen hervorgebracht hat, die die Einmischung in öffentliche Angelegenheiten zu ihren Auf­gaben zählten. Russell, Sartre, Arendt, Fou­cault oder Habermas taugen aber nur bedingt als Kronzeugen für entsprechende Erwartun­gen, denn bei näherem Hinsehen war die Ver­bindung ihrer politischen Interventionen mit ihrer philosophischen Arbeit meistens lose. Bertrand Russells Tribunal, das die amerika­nische Kriegsführung in Vietnam untersuchte, hatte mit seiner Philosophie nicht das Ge­ringste zu tun. Hannah Arendts Buch zum Eichmann-Prozess und Habermasʼ Beitrag zum Historikerstreit waren Stellungnahmen engagierter Citoyens, die keine spezifisch phi­losophischen Argumente enthielten.
 
Die Beispiele zeigen, dass die beiden Rollen des engagierten Intellektuellen oft nur indi­rekt zusammenhängen. Außerhalb der Philo­sophie verhält es sich ebenso: Für Noam Chomskys politische Wirkung als rastloser Linksintellektueller ist es irrelevant, dass sein akademischer Ruhm auf der Entwicklung der generativen Transformationsgrammatik be­ruht. Politisch intervenierende Großschrift­steller wie Grass, Walser, Handke und Strauß haben sich die Zeitungsspalten, die ihnen freigeräumt wurden und werden, nicht durch besondere politische Urteilskraft verdient. In allen diesen Fällen erhält der Sprecher auf­grund anderweitig erworbener Reputation Auf­merksamkeit für Stellungnahmen, die jen­seits seiner Kernkompetenz liegen.
 
 
Der Fall Heidegger
 
Ein Lehrstuhl für Philosophie schützt auch nicht vor hochgradiger politischer Torheit. Das zeigt auf bestürzende Weise das Beispiel Martin Heideggers, der zunächst „die innere Wahrheit und Größe“ der nationalsozialisti­schen Bewegung pries und sich später von den Nazis abwandte, weil sie ihm philosophisch nicht radikal genug waren. Heideggers Res­sentiments gegen die Moderne erstreckten sich auf alle ihre Erscheinungsformen, er verach­tete die Technik und die Industrialisierung, das „kalkulierende Denken“, die Demokratie und den Kosmopolitismus. Die Vernichtungs­lager lehnte er aus demselben Grund ab wie die technisierte Landwirtschaft: weil es Fa­briken waren. „Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern“ (3). Heidegger hatte also an der Ermordung der europäischen Juden durchaus etwas auszusetzen, nämlich dass sie fabrikmäßig betrieben wurde. Hätte man die Opfer einzeln mit Knüppeln erschla­gen, fiele dieser Kritikgrund weg. Über die „entwurzelten“ Juden notierte Heidegger 1941: „Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigran­ten, ist überall unfassbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegeri­schen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern“ (4). Die schiere Zahl der infamen Verdrehungen, die Heideg­ger in einem einzigen Satz unterbringt, ver­schlägt einem die Sprache.
 
Auch wenn ich oben auf der Rollentrennung bestanden habe, genügt es in Heideggers Fall nicht, über den moralischen Bankrott und den politischen Analphabetismus des Philosophen den Mantel des betretenen Schweigens zu breiten. Heideggers Ressentiments und sein antizivilisatorisches philosophisches Denken hingen durchaus miteinander zusammen und verstärkten sich wechselseitig. Es ist aus heu­tiger Sicht auch nicht leicht zu rechtfertigen, dass die Universität Freiburg dem Einsichts- und Reulosen mit seiner Emeritierung die Rechte als Professor zurückgab und ihn wie­der hat lehren lassen. Das philosophische Gewicht von Heideggers Spätwerk wäre kein anderes, hätte er es als Privatgelehrter ver­fasst.
 
Nun ist Heidegger in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall, der aber gleichwohl eine allge­meine Frage grell beleuchtet: Warum sollten sich Philosophieprofessoren vor anderen Be­rufsgruppen durch eine besondere politische Urteilskraft auszeichnen?
 
Strukturwandel der öffentlichen Kommunika­tion
 
Heute sieht sich die Figur des politischen In­tellektuellen einem tiefgreifenden Struktur­wandel der Öffentlichkeit gegenüber. Jeder, der der Bedienung einer Tastatur kundig ist, kann mehr oder minder erhellend die Zeit­läufte kommentieren und die Netzöffentlich­keit daran teilhaben lassen. Die Mischung aus Kenntnisarmut, Gedankenschwäche und Mei­nungsfreude, die einem aus zahllosen Online-Foren und Kommentarspalten entgegenschlägt, mag das Demokratievertrauen auf eine harte Probe stellen. Aber Publikumsbeschimpfung hilft nicht, denn das Publikum hat die Zuhö­rerplätze verlassen, die Diskurshoheit der vordigitalen Meinungselite dürfte unwieder­bringlich dahin sein. Den akademischen Intel­lektuellen sollte dieser Verlust daran erin­nern, dass seine Interventionen nicht mehr und nicht weniger sind als dies: eine unter vielen Stimmen in der öffentlichen Sphäre, die zur politischen Meinungsbildung beitra­gen. Für die Klärung von Tatsachenfragen bleibt fachliche Expertise unersetzlich, aber sobald in öffentlichen Angelegenheiten die Frage aufgeworfen ist, wie wir leben wollen, kann niemand für seine Einlassungen beson­dere Autorität beanspruchen.
 
Der jüngste Strukturwandel der öffentlichen Kommunikation hat durchaus den Nachteil, dass auch kluge Krisendiagnosen leicht im medialen Rauschen untergehen. Andererseits sind selbst gebildete Akademiker nicht gegen die Versuchung gefeit, sich an den eher tief hängenden Erkenntnisfrüchten schadlos zu halten. Dass an allen Übeln der Welt wahl­weise der Kapitalismus, der Neoliberalismus, die Globalisierung, der Kolonialismus oder das Patriarchat schuld sei, wird nicht richtiger, wenn man um diese Weisheiten aufwendige Theoriegebäude herumbaut. Die Welt ist nicht nur gefühlt, sondern wirklich komplizierter geworden. Insbesondere Philosophen sollten mit gutem Beispiel vorangehen und der Ver­suchung widerstehen, die größtmögliche Zahl von Übeln mit der kleinstmöglichen Zahl von Schuldigen zu erklären. Die Neigung, stets die üblichen Verdächtigen aus früheren Ideolo­giekämpfen verantwortlich zu machen, ist bei Linksintellektuellen nicht weniger verbreitet als bei Rechtsintellektuellen.
 
Sozialkonstruktivismus und Identitätspolitik
 
Während betriebsblind gewordene Kapitalis­muskritik oft an politischen, empirischen und anthropologischen Fehlannahmen krankt, be­trifft ein anderer bedenklicher Trend die Phi­losophie in ihrem Kerngeschäft. Ich meine die in den Geistes- und Kulturwissenschaften mächtigen Strömungen, (a) jeden Unterschied zwischen Tatsachen und Interpretationen zu leugnen und (b) den moralischen Universalis­mus zu diskreditieren und durch Identitäts­politik zu ersetzen. Die „kulturwissenschaft­liche Linke“, wie Michael Hampe die Allianz von Sozialkonstruktivismus und Identitäts­politik etwas unscharf nennt, ist für politisch rauere Zeiten denkbar schlecht gerüstet. Sie muss nun gewärtigen, dass sie gegen die un­heimliche Erfolgssträhne der neuen rechts­populistischen Bewegungen „außer ihrer par­tikularen politischen Meinung nichts, aber auch gar nichts in der Hand hat“ (5). Am Aufstieg von Demagogen, die Tatsachen­verdrehung zum Politikmodell erhoben haben und die sich ihrerseits identitätspolitischer, nämlich nationalistischer „Argumente“ be­dienen, sind sicherlich nicht Kulturwissen­schaftler schuld. Aber diese müssen sich sehr wohl zurechnen lassen, mit ihren haltlosen Theorien die intellektuelle Widerstandskraft ihrer gebildeten urbanen Milieus geschwächt zu haben.
 
Es ist ein schwacher Trost, aber durchaus in­struktiv, dass die sozialkonstruktivistische wie auch die identitätspolitische Strömung in der akademischen Philosophie bislang weniger stark Fuß gefasst haben als in den geistes- und kulturwissenschaftlichen Nachbarfächern. Offenbar gibt es eine gewisse Impfwirkung durch in der philosophischen Ausbildung ver­ankertes Nachdenken über die begrifflichen, theoretischen und argumentativen Grund­lagen der betreffenden Thesen, die ja philo­sophischer Natur sind. Wer gründlich kanoni­sche Texte zur Erkenntnistheorie und zur Meta­ethik studiert und sich mit den einschlä­gigen philosophischen Argumenten aus­einandergesetzt hat, ist für Kurzschlüsse we­niger anfällig. Auch für die Sirenengesänge einer radikalen Vernunftkritik erwerben Phi­losophen im Studium eine gewisse Grundimmunisierung. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Diskussionserfahrung, dass das Untergraben der theoretischen Grundlagen jeglicher kontexttranszendierender Begrün­dungen den Preis hat, die eigenen normativen Maßstäbe nicht mehr ausweisen zu können. Und wer es im Seminarraum bis zu diesem Punkt gebracht hat, darf sich nicht wundern, wenn er auch im politischen Diskurs mit nichts außer den eigenen partikularen Interes­sen und Meinungen dasteht.
 
Theoretische Philosophie
 
Wo die Stimme der Philosophie in der Öf­fentlichkeit vermisst wird, ist nicht selten das Bedürfnis nach ethischer Orientierung ge­meint. Nun zählt aber der quantitativ größere Teil der akademischen Philosophie zur theo­retischen Philosophie, also zu denjenigen Disziplinen, in denen die Frage „Was sollen wir tun?“ keine Rolle spielt. Zum Geschäft der theoretischen Philosophie gehört es, Ar­gumente zu prüfen und Grundbegriffe zu un­tersuchen, die vom Alltagsverstand und in den Einzelwissenschaften verwendet, aber mit deren Methoden nicht geklärt werden können: Bedeutung, Bewusstsein, Erklärung, Freiheit, Gefühl, Geist, Handlung, Liebe, Na­tur, Naturgesetz, Notwendigkeit, Person, Raum, Vernunft, Verursachung, Wahrheit, Wissen, Zeit und einige andere. Der Weg von diesen begrifflichen Klärungen bis zur politi­schen oder auch nur lebensweltlichen Rele­vanz ist oft weit. In der praktischen Philoso­phie ist der Weg kürzer, dazu unten.
 
Ein Beispiel für den Aufklärungsgewinn, den auch die theoretische Philosophie manchmal jenseits ihrer Fachgrenzen abwirft, ist die jüngere Debatte über die Herausforderung der Willensfreiheit durch Erkenntnisse der Neuro- und Kognitionswissenschaften. Die weit über die Grenzen der Universität hinaus diskutierte Frage, ob die Hirnforschung die Willensfrei­heit widerlegt habe, ist eine trügerisch simple Ja-nein-Frage. Demgegenüber haben Philo­sophen sich daran gewöhnt, dass es kein Pro­blem gibt, so kompliziert es auch sein mag, das nicht, wenn man es auf die rechte Weise angeht, noch komplizierter würde. Insbeson­dere scheuen sie sich, direkte Ant­worten auf schlecht definierte Ja-nein-Fragen zu geben. In der Freiheitsdebatte überlagern einander begriffliche, metaphysische, empiri­sche, nor­mative und juristische Fragen. Die­ses Bündel zu entwirren ist eine komplexe Aufgabe, für die Philosophen im Durch­schnitt besser aus­gebildet sind als Debatten­teilnehmer aus an­deren Fächern.
 
Meine Diagnose wäre, dass die Wortführer der neurobiologisch inspirierten Freiheitskri­tik sich nicht genügend mit den begrifflichen und theoretischen Komplikationen des Frei­heitsproblems beschäftigt und diese Schwie­rigkeiten deshalb unterschätzt haben. Insbe­sondere haben sie zu wenig darüber nach­gedacht, wie sich die empirischen Fragen zu den nichtempirischen verhalten. In der Folge haben sie kurzschlüssige und zu weitreichende Behauptungen aufgestellt und aus diesen so­gar rechtspolitische Forderungen abgeleitet. Gerhard Roth hat im Jahre 2000 voraus­gesagt, dass sich „spätestens in zehn Jahren“ in der Gesellschaft „die Einsicht durchgesetzt“ haben werde, „dass es Freiheit etwa im Sinne einer subjektiven Schuldfähigkeit nicht gibt“ (6). Diesen Termin hat die Gesellschaft unge­rührt verstreichen lassen. Die guten Gründe dafür hätte Roth bei vielen philosophischen Teilnehmern der Debatte nachlesen können.
 
Wolfgang Prinz hat mit seiner suggestiven Frage „Freiheit oder Wissenschaft?“ unter­stellt, dass eine Richtungsentscheidung zu­gunsten eines wissenschaftlichen Weltbildes das Freiheitsproblem vorentscheide. Ein mi­nimaler Naturalismus, demzufolge alles in der Welt mit rechten Dingen zugeht, keine Naturgesetze verletzt werden können und keine Eingriffe immaterieller Seelensubstan­zen in die Körperwelt möglich sind, müsste doch genügen, um den Belehrbaren unter den Philosophen die Willensfreiheit auszureden. Dieser minimale Naturalismus genügt aber nicht. In einer Wissenschaftskultur ist er Geschäftsgrundlage auch der Philosophie des Geistes, aber die Probleme fangen erst jen­seits dieses Bekenntnisses zur Wissenschaft an. Die Problemkomplexe der Willensfreiheit und des Geist/Körper-Problems sind viel­schichtig und tückisch. Denkfehler, Ver­wechslungen, Kurzschlüsse und Kategorien­fehler lauern an jeder Ecke. Ist man dem einen Fallstrick entgangen, droht der nächste, und allen zugleich zu entgehen erfordert enorme Umsicht. Kurz: Es handelt sich um typische philosophische Probleme.
 
Über die Kritik an Begriffsverwirrungen und Fehlschlüssen ärgern sich Kognitions- und Neurowissenschaftler, weil sie den Eindruck haben, ihnen würden Anfängerfehler oder mangelnde intellektuelle Fähigkeiten vorge­worfen. Nichts könnte falscher sein. Viele philosophische Probleme bestehen aus Fall­stricken, und es bedarf keiner besonderen Torheit, einem davon zum Opfer zu fallen, wohl aber außerordentlicher Umsicht, alle zugleich zu vermeiden. Wittgenstein verwen­dete für den Fallencharakter philosophischer Probleme die Metapher des Fliegenglases: Es ist leicht, hineinzugeraten, aber fast unmög­lich, ohne Hilfe wieder herauszufinden. Diese Schwierigkeit besteht für Philosophen wie für Nichtphilosophen. Man muss kein schlechter Wissenschaftler und kein schlechter Philo­soph sein, um gelegentlich im Fliegenglas zu landen.
 
In populärwissenschaftlichen Darstellungen und im Feuilleton sind vollmundige und pla­kative Behauptungen über das Verhältnis von Gehirn und Geist, über den Einfluss der Gene, über die Illusion der Willensfreiheit oder über den Tod des autonomen Subjekts an der Tagesordnung. Diese Schlagworte ge­winnen nicht nur deshalb so große mediale Aufmerksamkeit, weil die Medien vollmun­dige und plakative Thesen lieben. Es ist wirk­lich schwer, ohne einschlägiges Training zu erkennen, worin jeweils die Fehler und Kurz­schlüsse bestehen. Es ist eine Daueraufgabe für die Philosophie, in der Öffentlichkeit den gebotenen Respekt vor der Schwierigkeit phi­losophischer Probleme anzumahnen.
 
Gerhard Roth hat in Reaktion auf wohlver­diente Kritik verschnupft behauptet, einige Philosophen sprächen „Denk- und Sprach­verbote“ aus und seien der Meinung, „Hirn­forscher dürften sich grundsätzlich nicht zu Problemen der Willensfreiheit äußern“ (7). Das ist, mit Verlaub, Unfug. Niemandem wird der Mund verboten, nur müssen auch Hirnforscher damit rechnen, dass ihre Einlas­sungen am erreichten Diskussionsstand ge­messen werden (8).
 
Professionalisierung und Spezialisierung
 
Teile meiner Darstellung mögen einem „ana­lytischen“ Philosophieverständnis verpflich­tet sein. Allerdings hat die holzschnittartige Gegenüberstellung von analytischer und kon­tinentaler Philosophie in der Zunft sowohl an Bedeutung als auch an Trennschärfe verloren. Es gibt auch eine konkurrierende Diagnose, nach der „die Analytiker“ andere Strömungen durch entsprechende Stellenbesetzungen zu­nehmend an den Rand drängen und eine aka­demische Monokultur befördern. Das wenige, was an dieser Diagnose richtig ist, ist mit „analytisch vs. kontinental“ fehlbezeichnet. Unstrittig ist, dass die universitäre Philoso­phie in den vergangenen Jahrzehnten einen großen Professionalisierungs- und Speziali­sierungsschub erfahren hat. Das Fach ist handwerklicher und methodenbewusster ge­worden, Probleme werden enger zugeschnitten und oft arbeitsteilig behandelt. Diese Spezia­li­sierung, über die Humboldt vermutlich be­fremdet wäre, bis man ihm die guten Gründe dafür erklärte, dürfte der stärkste philosophie­interne Grund dafür sein, dass Universitäts­philosophen der nachgewachsenen Genera­tion sich seltener öffentlich einmi­schen: Sie fühlen sich nicht mehr so selbst­gewiss für das große Ganze zuständig wie noch viele ihrer akademischen Lehrer.
 
Verwissenschaftlichung und Spezialisierung mögen die Philosophie etwas später erfasst haben als andere universitäre Fächer, aber für die philosophische Forschung dürfte diese Entwicklung unausweichlich sein. Forschung soll neue Erkenntnisse erbringen, was in der Philosophie wie anderswo mit einer Ausdiffe­renzierung von Forschungsfeldern einher­geht. Entsprechend verkleinern sich die Ge­biete, in denen ein Einzelner sich so gut aus­kennen kann, dass er etwas zum Erkenntnis­fortschritt beitragen kann.
 
Ich stelle nicht in Abrede, dass diese Ent­wicklung in der Philosophie mit höheren Kosten verbunden ist als in anderen Fächern. Ein Grund dafür ist, dass es in der Philoso­phie Grenzen der sinnvollen Arbeitsteilung gibt. Man mag sich ein Forscherleben lang mit der Semantik kontrafaktischer Konditio­nalsätze oder mit dem Gettierproblem be­schäftigen, aber am Ende beziehen diese Pro­jekte ihren philosophischen Gehalt aus der Einbettung in größere Fragen, die schon Pla­ton, Hume und Kant umgetrieben haben: Was ist Wissen? Was ist Kausalität? Ist die Welt alles, was der Fall ist? Können wir auch be­gründet darüber urteilen, was der Fall sein muss, könnte oder hätte sein können?
 
Wen diese und noch größere philosophische Fragen umtreiben, der wird die Spezialisie­rung und die Kleinteiligkeit aktueller philo­sophischer Forschung mit einer gewissen Me­lancholie betrachten. Ob die Entwicklungen auch Korrekturmaßnahmen erfordern, hängt wesentlich davon ab, ob man sie als Ergebnis philosophieexterner Zwänge ansieht, etwa eines institutionellen Drucks, andere Fachkul­turen zu imitieren. Letzteres wird oft behaup­tet, aber plausibler scheint, dass es sich bei der Ausdifferenzierung von Themen und For­schungsfragen um eine immanente Tendenz aller Forschung handelt. Es ist wohlfeil, die beschriebenen Entwicklungen als Verarmung der Philosophie zu kritisieren, doch was wäre die Alternative, und wer sollte sie ins Werk setzen? Wissenschaft ist methodisch kontrol­lierte, ergebnisoffene, kooperative Erkennt­nissuche. Die Philosophie macht davon keine Ausnahme und die Gesellschaft darf erwar­ten, dass ihre Mittel für diejenige Forschung verwandt werden, die nach den Standards des jeweiligen Fachs als seriös gilt.
 
Und dies nicht etwa, weil fachliche Seriosität Selbstzweck wäre: Das Arbeiten nach profes­sionellen Standards korreliert zwar nicht von allein mit außerfachlicher Relevanz, aber um­gekehrt gibt es eine starke Korrelation zwi­schen Unseriosität und Irrelevanz: Es kommt in der Philosophie gerade deshalb entschei­dend auf die sorgfältige Klärung von Begrif­fen und Argumenten an, weil Philoso­phen über oberflächliche und kurzschlüssige Ant­worten hinausgelangen möchten. Wenn es dazu keiner Fertigkeiten und Kenntnisse be­dürfte, die nur in einer anspruchsvollen Aus­bildung erworben und im akademischen Be­trieb kultiviert werden, wären die eingesetz­ten öffentlichen Mittel fehlinvestiert.
 
Schreiben Philosophen nur für Fachkollegen?
 
Was ist nun von dem eingangs erwähnten Eindruck zu halten, professionelle Philoso­phen wälzten Probleme, die außer ihnen nie­mand hat? Richtig dürfte sein, dass philoso­phische Fachbücher und Aufsätze vornehm­lich von anderen Fachphilosophen gelesen werden. Odo Marquard hat das einmal beklagt und den Vergleich angestellt, Socken­fabrikanten würden Socken nur für andere Sockenfabri­kanten herstellen. Das wäre in der Tat merk­würdig, aber der Vergleich hinkt auf beiden Beinen. Erstens werden auch Auf­sätze von Geologen und Chemikern fast nur von Geo­logen und Chemikern gelesen, der beklagte Umstand ist also nicht philosophie­spezifisch. Wichtiger ist der zweite Punkt: Der begrenzte Rezipientenkreis besagt nichts über eine be­grenzte Relevanz der verhan­delten Probleme. Auch wenn philosophische Abhandlungen oft nur für Fachkollegen und für die Leidens­fähigen unter den interessier­ten Laien verdau­lich sind, können die darin behandelten Pro­bleme von allgemeinem In­teresse sein.
 
Oft genug sind sie es auch. Hier wäre ein Vermittlungsvorschlag: Fachphilosophen den­­ken professionell, gründlich und metho­disch re­flektiert über Fragen nach, über die Nichtphi­losophen nur gelegentlich und flüch­tig nach­denken, eben in ihren philosophi­schen Mo­menten: „Kann meine Katze den­ken?“, „Lässt sich über Ge­schmack strei­ten?“, „Wie kann Gott, wenn es ihn gibt, so viel unver­schuldetes Leid zulas­sen?“ Das sind Beispie­le für Fragen, die die meisten Menschen irgendwann einmal be­schäftigen. Insofern ist der Philosophiebedarf nicht we­niger weit ver­breitet als der Bedarf nach Socken. (Ausnah­men gibt es immer: Wer gern an der Füßen friert, braucht keine Socken. Wer sich solche Fragen lieber vom Leibe hält, braucht keine Philosophie.) Der Fachphilosoph ist nun der, den solche Fragen nachhaltig be­schäftigen, der ihre Vorausset­zungen prüft, sie in Teil­probleme zerlegt, nach belastbaren Argumen­ten sucht, sich mit Antworten ande­rer Philo­sophen auseinander­setzt und nicht locker lässt, bevor die Sache geklärt ist, so­weit sie überhaupt geklärt wer­den kann.
 
Praktische und politische Philosophie
 
Was nun die praktische Philosophie betrifft, so ist der Eindruck, ihre universitären Vertre­ter steuerten keine gesellschaftlich relevanten Beiträge bei, durchaus falsch. Die Ethik und die politische Philosophie bieten der Gesell­schaft mit klugen Argumenten ausgetragene Debatten etwa darüber, ob es gerechte Kriege gibt, ob man Tiere essen darf, wie weit unse­re Hilfspflichten gegenüber Armen reichen, wie mit Interessen zukünftiger Generationen umzugehen ist, welche moralischen Grenzen es für biotechnisches Enhancement geben sollte oder ob man Hirntoten Organe entneh­men darf. Medizinethische Fragen sind ein gutes Beispiel, denn es ist nicht zuletzt das Verdienst der akademischen Philosophie, dass diese in deutschen Qualitätsmedien auf höherem Niveau diskutiert werden als in den meisten anderen Ländern.
 
Ein weiteres Beispiel ist die aktuelle Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen. Keine zwei Wochen nach der Entscheidung der Bundeskanzlerin im Herbst 2015, aus huma­nitären Gründen die Grenzen zu öffnen, hat die Gesellschaft für Analytische Philosophie einen Essaypreis zu der Frage „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ ausgeschrieben. Der Wettbewerb fand große Resonanz, eine internationale Jury wählte unter mehr als 100 Beiträgen die besten aus, die dann in einem erschwinglichen Buch ver­öffentlicht wurden (9). Die Preisträger und das Buch wurden auf öffentlichen Veranstal­tungen in Köln und Berlin vorgestellt. Seither hat es weitere Veranstaltungen und philoso­phische Beiträge gegeben, die das außeruni­versitär zuvor weitgehend unbekannte For­schungsfeld der Migrationsethik öffentlich sichtbarer gemacht haben.
 
Mit Blick auf dieses Beispiel möchte ich die Frage, wo die Philosophen sind, wenn man sie braucht, so beantworten: Sie tun das, was sie am besten können, wofür sie bezahlt wer­den und was in aufgeheizten Debatten am meisten vonnöten ist, nämlich gründlich nachdenken. Wenn sie mit dem Nachdenken fertig sind, gehen sie mit differenziert argu­mentierenden Beiträgen in die Öffentlichkeit. Sie wenden sich an diejenigen, die des ideo­logischen und polemisch vergifteten Streits überdrüssig sind, aber auch des üblichen Interventionsmodus der Großintellektuellen, die wortgewaltig ihre Meinung zum Besten geben. Wir haben nämlich keinen Mangel an Meinungen zur Flüchtlingskrise, auch keinen Mangel an öffentlich vorgetragenen, ob nun assoziativ und metaphernselig wie bei Sloter­dijk, deutschnational raunend wie bei Botho Strauß oder kraus ideologisch wie bei Slavoj Žižek. Wir haben vielmehr einen Mangel an Argumenten und differenzierten Abwägun­gen, die eine aktuelle Problemlage auf er­reichte Debattenstände der normativen Ethik beziehen und die versuchen, aus geteilten oder konsensfähigen moralischen Prinzipien gehaltvolle Folgerungen abzuleiten.
 
Medientauglichkeit und philosophische Serio­sität
 
Fachphilosophen, die sich solchen Heraus­forderungen stellen und die ihre Überlegun­gen in den öffentlichen Diskurs einspeisen, gibt es in Deutschland nicht in großer Zahl. Einfacher ist es, auf die Fachaufsätze und Bücher zu verweisen, die man geschrieben habe, die schließlich ein jeder lesen könne und die den Vorteil haben, dass sie nicht die Kompliziertheitszensur der Publikumsmedien passieren mussten. Es gibt ja neben der Mi­grationsethik eine Reihe von weiteren For­schungsfeldern, auf denen Philosophen au­ßer­­akademisch Relevantes publiziert haben, nur eben unterhalb des journalisti­schen Radars.
 
Einige akademische Philosophen haben die Wissenschaftsvermittlung in die eigene Hand genommen. Es gibt mittlerweile von Fachphi­losophen verfasste populäre Bücher, die es vereinzelt sogar in Bestsellerlisten schaffen. Die Qualitätsstreuung dieser Bücher ist sehr groß, exzellente stehen neben solchen, die Anlass zum Fremdschämen bieten.
 
Für Popularphilosophie gibt es weitere Publi­kationskanäle, von denen ich nur die journa­listisch professionell gemachten Philoso­phie­magazine Hohe Luft und Philosophie Maga­zin nennen möchte. Sie müssen ihr Geld am Markt verdienen, was sich in der The­men­wahl und -aufmachung widerspiegelt. Für den mehr an Anregung und Orien­tierung als an der Lösung philosophischer Probleme interessierten Leser haben die Magazine den Vorzug, dass die Redaktionen nicht jeden ein­zelnen Artikel peinlich darauf prüfen müs­sen, ob er sein Thema auf philosophische Weise behan­delt.
 
Dass die Chefredakteure der Magazine sich gern am Lamento über die angebliche Irrele­vanz und Selbstmarginalisierung der Univer­sitätsphilosophie beteiligen, ist erkennbar pro domo gesprochen. Um das eigene Angebot möglichst überzeugend als das Füllen einer schmerzlichen Lücke zu bewerben, muss man deren Größe dramatisieren. Übrigens akqui­rieren die Magazine auch Texte akademischer Philosophen, vorzugsweise solcher mit zug­kräftigen Namen. Es wäre kleinlich, daran zu erinnern, dass diese ihr Renommee an Uni­versitäten erworben haben, von deren Lei­stung die Magazine auf diese Weise profitie­ren.
 
„The Paradox of Public Philosophy“
 
Was die Erwartung betrifft, die Philosophie möge politisches Handeln anleiten, so steht sie in einer gewissen Spannung zu dem, was philosophische Forschung seriöserweise lei­sten kann. Der Rechtsphilosoph Brian Leiter hat diese Spannung als „the paradox of public philosophy“ beschrieben: „On the one hand, philosophy has no ‚results‘ it can report to the public that would guide its conduct; on the other hand, the public, including the sup­posedly ‚elite‘ sectors of the public, is quite clearly indifferent to the sorts of distinctions to which philosophers draw attention“ (10). Das Treffen von Unterscheidungen und das Klären von Begriffen und Argumenten sind nicht unmittelbar handlungsanleitend, selbst das Formulieren moralischer Prinzipien ist es nicht. Insoweit die Gesellschaft von der Phi­losophie tatsächlich Handlungsanleitung er­warten sollte, ist das von Leiter beschriebe­ne Auseinanderklaffen zwischen Angebot und Nachfrage unvermeidlich.
 
Nun ist der Orientierungsbedarf nicht bei allen Themen gleich groß. So kann sich die Äch­tung von Folter, Sklaverei oder Kindesmiss­brauch auf weithin geteilte moralische Über­zeugungen stützen, jedenfalls heute und in unserer Gesellschaft. Wo die Philosophie um Rat gefragt wird, geht es in der Regel um schwierigere Fälle: um moralische Dilemma­ta, Normen­konflikte oder völlig neue Pro­blem­lagen, die die Alltagsmoral überfordern. Auch der Rückgriff auf philosophische Klas­siker hilft hier wenig, denn zu Neuro-En­hancement, Präimplantationsdiagnostik, auto­no­men Sy­stemen oder Privatheit im Internet findet sich bei Aristoteles und Kant nichts. Selbst wo gut begründete moralische Prinzipien verfügbar sind, ist die Aufgabe, aus ihnen gehaltvolle Folgerungen für komplexe und neue Prob­lemlagen abzuleiten, alles andere als trivial. Die normative Ethik ist zwar mit solchen Konkretisierungen befasst, aber beim Schließen der Lücke zwischen moralischen Prinzipien und politischen Entscheidungen hat die Philosophie nicht das letzte Wort. Das Entscheiden von hard cases unter Berück­sichtigung philosophischer Einsichten hat nicht selbst wieder die Form philosophischer Einsichten.
 
In der politischen Sphäre muss auch ent­schieden werden, wenn die zu berücksichti­genden Güter und Interessen inkommensura­bel sind. Wenn Philosophen hier von der Me­thode des „Überlegungsgleichgewichts“ spre­chen, ist das eher ein Euphemismus dafür, dass die Ausübung von Urteilskraft sich der Operationalisierung entzieht. Im Falle einst­weilen unauflöslicher Interessenkonflikte bleibt die Entscheidung schlicht dem demo­kratischen Mehrheitsvotum überlassen.
 
Philosophische Expertise und demokratische Willensbildung
 
Auch das Beispiel der Flüchtlingsethik lädt zu einer demokratietheoretischen Überlegung ein, die ich abschließend anstellen möchte. Die Teilnehmer des erwähnten Essaywett­bewerbs waren aufgefordert, bei der Beant­wortung der Frage, welche und wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen sollen, insbeson­dere dazu Stellung zu nehmen, „welche mora­lischen Verpflichtungen wir gegenüber Flücht­lingen haben“. Dem politischen Souve­rän, der am Ende zu entscheiden hat, kommt es aber nicht nur darauf an, was er moralischer­weise soll, sondern darauf, was er alles in allem für richtig hält. Ob moralische Über­legungen dabei alle anderen trumpfen sollten, ist eine offene Frage.
 
Etliche Teilnehmer der flüchtlingsethischen Debatte halten ein Ausmaß an Hilfspflichten für begründbar, das, in Regierungshandeln umgesetzt, den sicheren politischen Selbst­mord bedeuten würde. Derartigen strategi­schen Überlegungen wird von moralphiloso­phischer Seite entgegengehalten, dass man „Fragen der politischen Strategie nicht mit Fragen der Gerechtigkeit verwechseln [soll­te]. Ein Unrecht bleibt ein Unrecht, auch wenn politische Mehrheiten für seine Überwindung zurzeit nicht in Aussicht stehen“ (11). Dem zweiten Satz ist zwar zuzustimmen, doch ob strategische Überlegungen grundsätzlich kein moralisches Gewicht haben, ist zumindest aus der Perspektive einer konsequentialisti­schen Ethik alles andere als klar. Wer etwa durch in der politischen Arena vorgetragene Maximal­forderungen voraussehbar dazu bei­trägt, dass Kräfte mit einer gegenläufigen po­litischen Agenda ans Ruder kommen und noch größere moralische Übel herbeiführen, kann seine Hände nicht in Unschuld waschen. Warum sollten entsprechende Überlegungen nicht selbst moralisches Gewicht besitzen?
 
Philosophen sollten es auch zu ihren Aufga­ben zählen, darüber nachzudenken, wie sich der moralphilosophische und der politische Diskurs über die Flüchtlingsfrage zueinander verhalten. In demokratietheoretischer Perspek­tive sind moralphilosophische Überlegungen nicht Beiträge zur Wahrheitsfindung, sondern zu Meinungsbildungsprozessen, in die sie ge­nauso eingehen wie Talkshowauftritte von Politikern. Jeder wirbt für die eigene Auffas­sung um Zustimmung, am Ende werden Stim­men gezählt und nicht gewogen. Und auch wenn eine unterlegene Partei die besse­ren Argumente und alles Recht der Welt hat, die Mehrheitsentscheidung zu kritisieren, muss sie sich in Erinnerung rufen, dass unse­re Staatsform aus guten Gründen und entge­gen Platons Rat keine Expertokratie ist. Von Platon trennt uns nicht zuletzt der Fallibilis­mus: Da auch Philosophenkönige irren kön­nen, wäre selbst im von ihnen regierten Ideal­staat nicht garantiert, dass stets die besten Argumente den Ausschlag geben.
 
Wenn ich einen Ausblick auf „the next big thing“ riskieren darf, also darauf, welchen dringend benötigten Beitrag die Gesellschaft in naher Zukunft von der Philosophie erwar­ten darf, würde ich auf erhellende Analysen zum Phänomen der Argument- und Fakten­resistenz in der politischen Kommunikation setzen. Diese Herausforderung ist unge­wohnt, weil erstmals seit langer Zeit wieder in Frage gestellt wird, was man in deliberati­ven De­mokratien als gemeinsamen Boden an­sah. Bloßes Appellieren an mehr Vernunft und Aufklärung wird gegen den Erfolg fakten­resistenter Demagogie nichts ausrichten. In jedem Fall sollte uns Philosophen etwas Bes­seres einfallen, als das dreiste öffentliche Lügen durch die vernebelnde Phrase vom „postfaktischen Zeitalter“ zu adeln.
 
Bei dieser Gelegenheit sollten wir auch vor der eigenen Tür kehren und uns publizistisch sichtbar von Theoriemoden distanzieren, die das Feuilleton mit der Philosophie assoziiert, wiewohl sie dort kaum Anklang finden. Es wäre ein schöner Dienst an der Allgemein­heit, einmal gut verständlich die begrifflichen Verwirrungen aufzudecken, die Slogans wie „Wirklichkeit ist eine Konstruktion“, „Tatsa­chen sind interpretationsabhängig“ und „Es gibt keine objektive Wahrheit“ zugrunde lie­gen. Die erforderlichen Unterscheidungen und Werkzeuge liegen in der theoretischen Philo­sophie bereit, aber es wäre von Kulturwissen­schaftlern und Journalisten, die sich mit Erkenntnistheorie nur oberflächlich und mit Wahrheitstheorie und Metaphysik überhaupt nicht beschäftigt haben, sehr viel verlangt, ohne professionelle Hilfe die jeweiligen Feh­ler zu erkennen und zu berichtigen. Viele von ihnen, die im Studium mit postmoderner Theorie traktiert worden sind, wären vermut­lich dankbar, Tatsachenverdrehungen und Lügen wieder solche nennen zu dürfen, ohne befürchten zu müssen, als erkenntnistheore­tisch naiv oder als vormodern dogmatisch zu gelten.
 
UNSER AUTOR:
 
Geert Keil ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Text ist die stark erweiterte Fassung eines Artikels, der am 16. Oktober 2016 im Berliner Tages­spiegel erschienen ist.
 
Zitatbelege
 
(1) DIE ZEIT, www.zeit.de/serie/wo-seid-ihr-professoren, und www.zeit.de/2015/39/ hoch­schule-intellektuelle-professoren-schweigen
 
(2) Robert Frodeman and Adam Briggle, Socrates Tenured: The Institutions of 21st-Century Philosophy, Lanham, MD 2016.
 
(3) Martin Heidegger, „Das Ge-stell“ (1949), GA Bd. 79, S. 27.
 
(4) Martin Heidegger, „Überlegungen XV“, GA Bd. 96, S. 262.
 
(5) Michael Hampe, „Katerstimmung bei den pubertären Theoretikern“, DIE ZEIT Nr. 52/ 2016, 15. Dez. 2016.
 
(6) Gerhard Roth, „Es geht ans Eingemachte“, Spektrum der Wissenschaft, Oktober 2000, S. 75.
 
(7) Gerhard Roth, „Worüber dürfen Hirnfor­scher reden − und in welcher Weise?“, in: Chr. Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Wil­lensfreiheit, Frankfurt/M. 2004, S. 74.
 
(8) Passagen des vorangehenden Abschnittes sind meinem Buch Willensfreiheit, Berlin/ Boston 2013, S. 214-5 entnommen.
 
(9) Achim Stephan und Thomas Grundmann (Hrsg.), Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?, Stuttgart 2016.
 
(10) Brian Leiter, leiterreports.typepad. com/ blog/2016/07/the-paradoxes-of-public-philo­sophy.html; vgl. ders., „The Paradoxes of Public Philosophy“, Indian Journal of Legal Theory 1 (2016), 51-64.
 
(11) Andreas Cassee, Globale Bewegungsfrei­heit, Berlin 2016, S. 280.