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POSITIONEN

Markus Willaschek:
Rohs, Peter

Zeit und Subjektivität
Peter Rohs’ Philosophie kritisch dargestellt von Marcus Willaschek

Wie nur wenige Philosophen der Gegenwart hat Peter Rohs, der am 11. Januar 2006 seinen 70. Geburtstag feierte, in seinem Werk den gesamten Bereich der Philosophie durchmessen. Die Themen seiner sieben Monographien und fast einhundert Aufsätze reichen von der Philosophie des Geistes bis zur Ästhetik, von der Moralphilosophie bis zur Zeitlogik. Historisch erstreckt sich sein Spektrum von den Vorsokratikern bis in die Gegenwart, wobei seine besondere Sympathie Platon und Kant und den an sie anknüpfenden Traditionen gilt. Im Mittelpunkt des Rohsschen Denkens steht jedoch das systematische Projekt einer „feldtheoretischen Transzendentalphilosophie“: „feldtheoretisch“, weil die physische Realität als ein ganzheitliches raumzeitliches „Feld“ betrachtet wird, das gegenüber seinen Teilen (den einzelnen Dingen und Ereignissen) ontologisch primär ist; „Transzendentalphilosophie“, weil jede Form von Objektivität (sei es die von Begriffen, von sprachlichen Bedeutungen oder wissenschaftlicher Erkenntnis) auf Leistungen eines Subjekts zurückgeführt wird, das selbst kein Teil des raumzeitlichen Feldes ist.

Die systematische Grundidee

Bereits in seinem ersten Kant-Buch, der Transzendentalen Ästhetik von 1973, entwickelte Rohs, damals noch in expliziter Anknüpfung an Heidegger, die systematische Grundidee, auf der dieses Projekt beruht. Sie besagt, dass die Zeit der Schlüssel zu einem angemessenen Verständnis von Subjektivität ist: ein Subjekt zu sein bedeutet wesentlich, eine Vergangenheit, Gegenwart und eine Zukunft zu haben. Diese Grundidee der Rohs'schen Philosophie will ich im folgenden aus Rohs’ neueren Arbeiten, insbesondere aus seinem Hauptwerk Feld-Zeit-Ich von 1996, gleichsam herausisolieren und prüfen, wie plausibel diese für sich genommen ist – also weitgehend unabhängig von ihrer zentralen Rolle in Rohs’ feldtheoretischer Transzendentalphilosophie.

Das Rohs-Prinzip

In einem Aufsatz über das Leib-Seele-Problem von 1992 listet Rohs drei Prinzipien auf, die für seine Philosophie von grundlegender Bedeutung sind. Das „Platon-Prinzip“ besagt, „dass es Nichtsinnliches gibt“ – dass die Wirklichkeit also Aspekte oder Bestandteile umfasst, die sich der sinnlichen Wahrnehmung und empirischen Untersuchung entziehen. Dem „Kant-Prinzip“ zufolge gehört zu denkenden Wesen notwendigerweise eine Komponente ursprünglicher intertemporaler Identität – wie Kant es nennt, ein „stehendes und bleibendes Selbst“. Nur ein solches im Zeitablauf identisches Selbst kann nämlich verständlich machen, was meine stets wechselnden Gedanken und Vorstellungen zu meinen Gedanken und Vorstellungen macht. Da, wie bereits Platon wusste, alle sinnlich wahrnehmbaren Dinge dem Wandel unterliegen und insofern im Zeitablauf niemals strikt dieselben bleiben, muss es sich beim stehenden und bleibenden Selbst um etwas Nichtsinnliches im Sinne des Platon-Prinzips handeln. Das „Fichte-Prinzip“ schließ lich deutet das Mentale, einschließlich des stehenden und bleibenden Selbst, als eine spezifische Art von Prozessen. Mentale Vorkommnisse entziehen sich demnach der aristotelischen Unterscheidung von Substanz und Akzidenz: sie sind weder Dinge noch Eigenschaften, sondern sich selbst tragende Aktivitäten, die zwar, wie Rohs es nennt, eine materielle „Projektion“ haben, also zum Beispiel in Hirnprozessen realisiert sein können, deren spezifisch mentale Realität aber allein in ihrem Vollzug besteht.

Diesen drei Prinzipien fügt Rohs nun ein viertes hinzu, dem er in nachvollziehbarer Bescheidenheit keinen Namen gibt und das ich als „Rohs-Prinzip“ bezeichnen möchte: „Die strukturelle Basis [mentaler] Prozesse ist das zeitliche Werden“. Dies ist die Grundeinsicht, auf der die Philosophie von Peter Rohs beruht: Das Mentale, insbesondere seine spezifische Subjektivität und Bewusstheit, aber auch seine intersubjektive Kommunizierbarkeit, beruhen auf einem besonderen Aspekt der Zeit, nämlich ihrer Prozesshaftigkeit, die Rohs als zeitliches Werden bezeichnet. Dieselbe Idee bringt Rohs vier Jahre später, in seinem Buch Feld – Zeit – Ich, auf die prägnante Formel von der „Nunczentrizität“, also der Jetztzentriertheit von Subjektivität. Was hat es damit auf sich?

A- und B-Bestimmungen der Zeit

Im Anschluss an McTaggart und Heidegger unterscheidet Rohs zwischen zwei grundlegenden, nicht aufeinander reduzierbaren Aspekten der Zeit. Einerseits gibt es Zeitbestimmungen, die sich mit Hilfe zeitlicher Relationen wie „früher als“ oder „gleichzeitig mit“ ausdrücken lassen. Dies sind die sogenannten B-Relationen. Sie erlauben es, jedes Ereignis mit jedem anderen in eine zeitliche Ordnung zu stellen, denn für jedes Paar von Ereignissen E1 und E2 gilt, dass E1 entweder früher oder später oder gleichzeitig mit E2 stattfindet. Dass ein Ereignis früher, später oder gleichzeitig mit einem anderen stattfindet, ist selbst jedoch kein Ereignis, das früher oder später stattfindet als andere Ereignisse. Falls die Frage, wann E1 früher ist als E2, überhaupt sinnvoll ist, dann kann die Antwort nur lauten: immer (im selben Sinn von „immer“, indem es „immer“ der Fall ist, dass 2 plus 2 vier ergibt).

Die B-Relationen charakterisieren daher einen seltsam statischen Aspekt der Zeit. Dies wird besonders deutlich, wenn wir uns die zeitlichen B-Relationen als Teil einer vier-dimensionalen Raumzeit vorstellen, die Rohs als „das Feld“ bezeichnet: Neben den drei räumlichen Dimensionen ist die physikalische Wirklichkeit demnach durch eine nach „früher“ und „später“ geordnete zeitliche Dimension charakterisiert. Jedes konkrete Ereignis lässt sich dann als Punkt oder Punktmenge in einem vierdimensionalen Koordinatensystem darstellen, in dem jeder Punkt durch drei Raum- und eine Zeitkoordinate eindeutig bestimmt ist. Ein Fußballbundesligaspiel zum Beispiel ist eindeutig dadurch charakterisiert, dass es an dem und dem Tag von 15.30 Uhr bis 17.15 in dem und dem Stadion stattfindet. Das Statische dieses Bildes der Realität zeigt sich nun darin, dass alle Zeitpunkte prinzipiell gleichberechtigt sind: So, wie Raumpunkte, die vom Ursprung des Koordinatensystems weiter entfernt sind, nicht weniger real sind als solche in der Nähe des Ursprungs, sind auch spätere Zeitpunkte nicht weniger real als frühere und umgekehrt. Zwar ist es zweifellos richtig zu sagen, dass der Anstoß früher stattfindet als der Schlusspfiff, doch ist der Schlusspfiff deshalb nicht weniger Bestandteil des Fußballspiels als der Anstoß. Was in diesem Bild der Wirklichkeit fehlt, ist jener dynamische Aspekt der Zeit, der ein Fußballspiels erst spannend macht: dass nämlich der Schlusspfiff (und mit ihm das gesamte Spiel) zum Zeitpunkt des Anstoßes noch in der Zukunft liegt.

Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als heiße das lediglich, dass der Schlusspfiff eben später ist als der Anstoß. Doch das ist nicht der Fall. Das Spätersein des Schlusspfiffs findet selbst nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt statt, sondern ist „immer“ der Fall. Dagegen liegt der Abpfiff keineswegs immer in der Zukunft, sondern nur solange, bis er gegenwärtig ist. Diese Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lässt sich in einem statischen Koordinatensystem nicht abbilden, denn mit jedem Augenblick ist ein anderer Zeitpunkt gegenwärtig. Relativ zu diesem liegen alle früheren Zeitpunkte in der Vergangenheit, alle späteren in der Zukunft. Zukünftig, gegenwärtig und dann vergangen zu sein, bezeichnet man mit McTaggart als „A-Bestim mungen“ der Zeit; ihr Wechsel, dass ein Ereignis also zunächst zukünftig, dann gegenwärtig und schließlich für immer vergangen ist, ist das, was man anschaulich, aber etwas irreführend, das „Verfließen der Zeit“ nennt. Peter Rohs spricht statt dessen vom „zeitlichen Werden“. Mit guten Gründen ist Rohs der Meinung, dass A- und B-Bestim mungen der Zeit nicht aufeinander reduzierbar sind: beide sind gleichermaßen grundlegend für das Gesamtphänomen Zeit. Rohs spricht daher von einem „temporalen Dualismus“. Dabei ist bemerkenswert, dass eine naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt allem Anschein nach allein mit B-Be stimmungen auskommt. Von Physikern ist die Realität der A-Bestimmungen daher häufig bestritten worden. Zwar gibt es auch bei physikalischen, chemischen und biologischen Phänomenen eine ausgezeichnete Richtung der Zeit, da es irreversible Prozesse gibt, doch kommt deren Erklärung ohne A-Bestimmungen aus.

Bis hierher haben wir es mit einer rein zeitphilosophischen Unterscheidung zu tun, deren Bedeutung man für sehr begrenzt halten könnte. Tatsächlich lassen sich jedoch auf diesen internen Dualismus der Zeit Rohs zufolge zahlreiche andere kontrovers diskutierte Dualismen zurückführen, so die von Körper und Geist, Subjektivität und Objektivität, von Abstraktem und Konkretem, von Allgemeinem und Besonderem, von psychischen Vorstellungen und wahrheitsfähigen Propositionen, von Naturkausalität und Freiheit, von Erklären und Verstehen, von Dingen und Tatsachen sowie von Dingen an sich und Erscheinungen. Im Kern geht es bei all diesen scheinbar unzusammenhängenden Unterscheidungen stets um den Unterschied zwischen etwas, dessen zeitliche Strukturen allein durch B-Bestimmungen gegeben sind, und etwas, dessen Verständnis den Rekurs auf das zeitliche Werden erfordert.

Das bereits genannte Rohs-Prinzip kann nun folgendermaßen formuliert werden: Das zeitliche Werden ist konstitutiv für Subjektivität.
Es verfügt über eine Reihe von Merkmalen, die es für die Erklärung von Subjektivität besonders relevant werden lassen: Erstens handelt es sich um einen Prozess sui generis, der sich von Vorgängen in der Zeit fundamental unterscheidet; zweitens nehmen wir diesen Prozess nicht mit einem oder mehreren unserer Sinne wahr; es handelt sich also um einen nichtsinnlichen Vorgang; drittens ist er gleichwohl etwas Reales, das unzweifelhaft zur Wirklichkeit hinzugehört; und viertens schließlich ist das zeitliche Werden insofern etwas Objektives oder zumindest Intersubjektives, als die Gegenwart für alle Subjekte dieselbe ist.

Das zeitliche Werden als Prozess sui generis

Das zeitliche Werden ist Rohs zufolge also erstens ein Prozess sui generis, der von anderen Prozessen prinzipiell unterschieden ist. Betrachten wir zunächst einen einfachen physikalischen Vorgang wie den, dass die Sonne einen Stein erwärmt: Erst ist der Stein kalt, später ist er warm. Die Veränderung besteht also darin, dass zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten Unterschiedliches der Fall ist. Das ist ein Vorgang in der Zeit. Das zeitliche Werden hingegen besteht darin, dass mit Blick auf denselben Zeitpunkt Unterschiedliches der Fall ist: Der Zeitpunkt, zu dem der Stein warm ist, liegt erst in der Zukunft, dann ist er gegenwärtig und schließ lich vergangen. Hier verändert sich nichts an der Temperatur des Steins oder an sonst irgendeiner seiner Eigenschaften; was sich verändert, ist allein die zeitliche Position relativ zur Gegenwart, die insofern von ganz anderer Art ist als innerzeitliche Eigenschaften und Relationen. Dieser Unterschied wird auch daran deutlich, dass innerzeitliche Prozesse eine Geschwindigkeit haben, das zeitliche Werden hingegen nicht. Der Stein kann sich innerhalb einer Minute erwärmen oder innerhalb eine Stunde, aber eine Stunde kann nicht schnell oder langsam vergehen. Natürlich kann mir die Zeit lang werden, bis die Stunde vorüber ist, während in anderen Situationen die Zeit wie im Fluge vergeht. Aber dabei handelt es sich um ein rein subjektives Phänomen, so wie einem dieselbe Wegstrecke einmal lang und ein andermal kurz erscheinen kann. Tatsächlich dauert es immer gleich lang, bis eine Stunde vorüber ist, nämlich sechzig Minuten. Was könnte es da heißen, dass die Stunde langsam oder schnell vergeht? Vielleicht dieses: Die Gegenwart wandert gleichsam an den Minuten der Stunde bzw. an den in dieser Stunde stattfindenden Ereignissen manchmal schneller und manchmal langsamer entlang. Doch das ergibt keinen Sinn: Wir bräuchten dann nämlich eine zweite Zeit mit Zeitpunkten zweiter Ordnung, relativ zu denen man fragen kann, wie lange es dauert, bis eine Stunde vergangen ist, ohne dass die Antwort trivialerweise lautet: sechzig Minuten. Da es eine solche zweite Zeit nicht gibt, hat das zeitliche Werden auch keine Geschwindigkeit. Es ist in der Tat ein Prozess sui generis.

Zeitliches Werden als nichtsinnlicher Vorgang

Zweitens handelt es sich beim zeitlichen Werden um einen „nichtsinnlichen“ Vorgang, das heißt um einen Vorgang, den wir nicht durch unsere Sinne wahrnehmen. Rohs begründet dies vor allem damit, dass es sich beim zeitlichen Werden um einen nicht-materiellen Prozess handelt und es daher kein Substrat gibt, das uns affizieren kann. Dagegen könnte man einwenden, dass man auch andere immaterielle und substratfreie Prozesse wie zum Beispiel Lichtwellen wahrnehmen kann – warum also nicht das zeitliche Werden? Eine mögliche Antwort könnte lauten, dass Wahrnehmung eine kausale Einwirkung des wahrgenommen Gegenstandes oder Vorgangs auf unsere Sinnesorgane erfordert. Allerdings ist umstritten, ob es sich dabei um eine begriffliche Wahrheit handelt. Es wäre zumindest denkbar, dass wir das zeitliche Werden wahrnehmen, auch wenn es keinen kausalen Einfluss auf uns ausüben kann.
Doch selbst wenn Wahrnehmung einen kausalen Zusammenhang erfordern sollte, bleibt die weitere Frage, ob es nicht möglich ist, dass auch das zeitliche Werden einen unserer Sinne affiziert. Dass wir nicht über ein eigenes Sinnesorgan zur Zeitwahrnehmung verfügen, schließt eine spezifisch zeitliche Wahrnehmung nicht aus, denn auch andere Sinne, wie die „Propriozeption“ genannte direkte Wahrnehmung der relativen Position der eigenen Körperteile, beruhen nicht auf der Affektion eines eigenen Sinnesorgans.
Ein schlagendes Argument gegen eine Sinnesaffektion durch das zeitliche Werden würde sich ergeben, wenn wir annehmen dürften, dass nur raumzeitlich datierbare Ereignisse in Kausalrelationen stehen können; da das zeitliche Werden, wie wir gesehen haben, kein datierbares Ereignis ist, könnte es uns auch nicht sinnlich affizieren. Doch Rohs selbst gesteht zu, dass es auch nicht-ereignisförmige Kausalität gibt, nämlich „Kausalität aus Freiheit“, so dass ihm dieses Argument nicht offen steht. Warum sollte die Wahrnehmung des zeitlichen Werdens nicht ebenfalls auf einer nicht-ereignisförmigen Kausalität beruhen?

Darauf könnte Rohs erwidern, dass nicht jede Kausalrelation, wohl aber die Affektion eines Sinnesorgans in einer kausalen Abfolge datierbarer Ereignisse bestehen muss; andernfalls wäre sinnliche Wahrnehmung kein natürlicher Vorgang. Doch auch dieses Argument kann nicht überzeugen, denn wenn das zeitliche Werden tatsächlich ein nicht-natürlicher Prozess sui generis ist, kann man auch nicht erwarten, dass seine Wahrnehmung ein rein natürlicher Vorgang ist.

Es scheint mir daher nicht ausgeschlossen zu sein, dass unser Wissen vom Vergehen der Zeit, entgegen Rohs’ Annahme, auf sinnlicher Wahrnehmung beruht. Doch Rohs’ eigentliches Anliegen ist dadurch nicht betroffen: Falls das zeitliche Werden sinnlich wahrnehmbar sein sollte, dann auf eine grundlegend andere Weise als natürliche Vorgänge es sind, nämlich entweder ohne uns kausal zu affizieren oder indem es uns auf eine nicht naturkausale Weise affiziert. Es scheint mir auf eine rein terminologische Frage hinauszulaufen, ob man derartige Vorgänge noch als sinnliche Wahrnehmung, als nicht-sinnliche Wahrnehmung oder als etwas anderes als Wahrnehmung bezeichnen will. In jedem Fall ist unser epistemischer Zugang zum zeitlichen Werden von grundlegend anderer Art als der zu natürlichen, innerzeitlichen Vorgängen.

„Nichtsinnlich ist“, so Rohs, „was nicht Teil des raumzeitlichen Feldes ist und daher nicht sinnlich wahrgenommen werden kann“ (Rohs 1996, 11). Während der zweite Teil dieses Satzes vielleicht nicht ganz so zwingend ist, wie Rohs annimmt, gibt der erste Teil für sich genommen schon ein trennscharfes Kriterium für Nichtsinnlichkeit, nämlich im vierdimensionalen Koordinatensystem der physischen Realität prinzipiell nicht lokalisierbar zu sein. In diesem Sinn hat Rohs zweifellos Recht: Das zeitliche Werden ist ein nichtsinnlicher Vorgang.

Zeitliches Werden als reales Phänomen

Damit komme ich zum dritten Punkt, wonach das zeitliche Werden trotz seiner physikalischen Irrealität dennoch ein reales Phänomen ist. Rohs richtet sich hier gegen die These, dass es sich beim zeitlichen Werden, weil physikalisch nicht nachweisbar, um eine bloße Illusion handelt. Die Falschheit dieser These hält Rohs jedoch für offensichtlich. So begründet er das bereits erwähnte Platon-Prinzip, wonach es Nichtsinnliches gibt, unter anderem mit dem knappen Hinweis, es gebe „im zeitlichen Werden einen evidenten und unwidersprechlichen Fall von Nichtsinnlichkeit“ (1998, 157).

Die Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist in der Tat so zentral für unser Selbst- und Weltverständnis, dass ihre Irrealität nur schwer vorstellbar ist. Aber ist sie evident und unwidersprechlich? Immerhin war es kein geringerer als Albert Einstein, der sie, wie Rohs erwähnt (1998, 39), für eine hartnäckige Illusion hielt. Ist die Euklidizität des Raumes nicht ebenso evident wie das Verfließen der Zeit und trotzdem eine Illusion? Dagegen kann man allerdings einwenden, dass die Unterschiede zwischen einem euklidischen und dem tatsächlichen, nicht-euklidischen Raum im mesokosmischen Bereich menschlicher Lebenserfahrung völlig unerheblich sind, während der Unterschied zwischen der statischen Zeit der Physik und dem zeitlichen Werden für unser gesamtes Leben zentral ist. Insbesondere beruht menschliches Handeln auf der Differenz zwischen einer abgeschlossenen und unbeeinflussbaren Vergangenheit und einer offenen und gestaltbaren Zukunft, zwischen denen die Gegenwart als derjenige Zeitpunkt liegt, an dem wir handeln müssen. In einem neueren Aufsatz hat Rohs diesen Gedanken in die für ihn ungewöhnlich heideggernahe Formulierung gekleidet: „die Zukunft ist das, dem unsere Sorge gilt“. Und weiter: „Handeln ist Vorsorge und deswegen notwendig ausgerichtet auf die Zukunft“. Für handelnde Wesen ist das zeitliche Werden daher tatsächlich evident und unwidersprechlich.

Welche argumentative Rolle spielt die Rohs'sche Feststellung, dass es ohne zeitliches Werden kein Handeln geben kann? Ich sehe sie als Teil einer spezifisch pragmatistischen Argumentationsform, die Hilary Putnam als Unverzichtbarkeitsargumente bezeichnet hat. Sie weisen darauf hin, dass eine bezweifelte These für eine bestimmte wohletablierte Praxis unverzichtbar ist. So wäre es abwegig, an der Realität menschlichen Handelns nur deshalb zu zweifeln, weil das zeitliche Werden physikalisch nicht nachweisbar ist. Vernünftig ist vielmehr das umgekehrte Vorgehen: die Realität des zeitlichen Werdens zu akzeptieren, weil es für menschliches Handeln unverzichtbar ist. Diese gegenüber transzendentalen Argumenten abgeschwächte Argumentationsform stimmt genau mit Rohs’ holistischer Konzeption philosophischer Begründung überein, die ebenfalls nicht nach unhintergehbaren Fixpunkten sucht, sondern ein vernünftiges Abwägen von Gründen und Gegengründen erfordert.

Ein gravierender Einwand gegen die Realität des zeitlichen Werdens bleibt jedoch noch bestehen. Das sogenannte McTaggart-Paradox scheint nämlich zu zeigen, dass die Annahme seiner Realität in einen Widerspruch führt: Dasselbe Ereignis hätte demnach nämlich unvereinbare Eigenschaften (zukünftig, gegenwärtig und vergangen zu sein). Hier hilft es nicht zu erwidern, dass sich daraus kein Widerspruch ergebe, weil diese Eigenschaften schließlich keinem Ereignis gleichzeitig zukommen. Diese Antwort setzt nämlich voraus, dass es Zeitpunkte zweiter Ordnung gibt (Zeitpunkte, zu denen ein Zeitpunkt zukünftig, gegenwärtig und vergangen ist), die wiederum zukünftig, gegenwärtig und vergangen sein würden, so dass sich ein infiniter Regress ergäbe. Rohs bestreitet daher, dass die A-Bestimmungen einem Zeitpunkt in „tempusneutraler“ Weise zukommen können: In dem Satz „Zwei plus zwei ist vier“ bedeutet das „ist“ nicht „ist jetzt“, sondern es hat einen tempusneutralen Sinn. McTaggart setzt voraus, dass auch das „ist“ in dem Satz „Ereignis E1 ist gegenwärtig“ tempusneutral ist, denn nur dann ergibt sich ein Widerspruch zu „Ereignis E1 ist vergangen“. Indem Rohs diese Voraussetzung bestreitet, entgeht er McTaggarts Paradox. Allerdings gesteht Rohs zu, dass das zeitliche Werden nicht in demselben Sinn real ist wie das raumzeitliche Feld, denn anders als die Existenz der physischen Realität ist die des zeitlichen Werdens an die Existenz von Subjekten gebunden. Im Anschluss an Kant versteht Rohs das zeitliche Werden als eine „Anschauungsform“: als die Weise, wie uns menschlichen Erkenntnissubjekten die raumzeitliche Wirklichkeit gegeben ist. Es handelt sich also nicht um einen subjekt-unabhängigen Aspekt der Wirklichkeit. Gleichwohl ist das zeitliche Werden keine Illusion, sondern ein intersubjektiv zugängliches und insofern reales Phänomen.

Die Intersubjektivität des zeitlichen Werdens

Damit komme ich zum vierten Punkt, wonach das zeitliche Werden kein psychischer Vorgang, nichts Privates, sondern etwas Intersubjektives ist: „Es gibt nicht mein zeitliches Werden und dein zeitliches Werden, sondern nur das zeitliche Werden überhaupt und insgesamt, an dem alle Subjekte einheitlich teilhaben“ (1996, 13). Diese These ist für Rohs’ Projekt von großer Wichtigkeit, da „jede für Subjekte mögliche Intersubjektivität“ – von einer mehreren Subjekten zugänglichen Realität über sprachliche Kommunikation bis zur Objektivität wissenschaftlicher Forschung – „eine Erscheinungsform dieser grundlegenden Intersubjektivität ist“ – nämlich der des zeitlichen Werdens (1996, 14).

Die These von der Intersubjektivität des zeitlichen Werdens bedeutet, dass es nur eine Gegenwart gibt, die für alle Subjekte dieselbe ist. Derselbe Zeitpunkt, der jetzt für mich gegenwärtig ist, ist auch für alle anderen Subjekte gegenwärtig. Das wirft zunächst die Frage auf, ob die Gegenwart punktförmig ist oder aber eine zeitliche Erstreckung hat. Die Psychologie lehrt das letztere: Die Länge des als gegenwärtig erlebten Zeitabschnitts lässt sich messen, indem man unterschiedliche Reize in sehr kurzen Zeitabständen darbietet und die Probanden fragt, ob sie sie gleichzeitig wahrnehmen oder nicht. Das Ergebnis lautet, dass die erlebte Gegenwart nicht Punktförmig ist, sondern ein Zeitintervall im Millisekundenbereich umfasst; alles, was innerhalb dieses Intervalls liegt, wird auch dann als gegenwärtig erlebt, wenn es nicht strikt gleichzeitig ist. In diesem Sinn besteht also sehr wohl die Möglichkeit, dass die Gegenwarten unterschiedlicher Subjekte nicht vollständig synchron sind, da die als gegenwärtig erlebten Intervalle unterschiedlich lang sein können. Rohs’ These von der Intersubjektivität des zeitlichen Werdens muss dem jedoch nicht widersprechen, solange die als gegenwärtig erlebten Zeitintervalle aller Subjekte sich stets überschneiden. In diesem Schnittbereich liegt dann der jeweils gegenwärtige Zeitpunkt. Doch während die Länge der erlebten Gegenwart empirisch untersucht werden kann, ist die Frage, ob die Gegenwartsintervalle zweier Subjekte sich überschneiden oder nicht, empirisch unentscheidbar. Dazu müsste man eine informative Antwort auf die Frage erhalten können, welcher Zeitpunkt für ein bestimmtes Subjekt gerade gegenwärtig ist. Doch die Antwort kann natürlich immer nur lauten: „Dieser (also der gegenwärtige) Zeitpunkt.“

Es ist ein ziemlich beunruhigender Gedanke, dass verschiedene Subjekte jeweils einen anderen Zeitpunkt als gegenwärtig erleben könnten. Eine solche Asynchronizität der Gegenwarten lässt sich empirisch ebenso wenig ausschließen wie andere skeptische Szenarien radikaler Täuschung. Es gibt jedenfalls keine empirischen Indizien, anhand derer sie sich widerlegen ließen.

Doch ist ein solches Szenario wirklich konsistent beschreibbar? Wie sich bei näherer Betrachtung herausstellt, ist das nicht der Fall. Wenn wir uns die physikalisch beschreibbare Realität als vierdimensionales raumzeitliches Feld vorstellen, dann nehmen zwei gleichzeitig lebende Menschen A und B zwei unterschiedliche Raumzeitgebiete ein, die sich in der zeitlichen Dimension überlappen. Nehmen wir nun an, dass A den Zeitpunkt t1 als gegenwärtig erlebt. Wäre es denkbar, dass B einen späteren Zeitpunkt t2 als gegenwärtig erlebt? So gefragt, lautet die Antwort: Ja, natürlich kann B einen späteren Zeitpunkt t2 als gegenwärtig erleben, nur eben nicht zur selben Zeit, zu der A den Zeitpunkt t1 als gegenwärtig erlebt. Das folgt trivialerweise daraus, dass t2 später ist als t1. Doch darin besteht natürlich noch keine Asynchronizität der Gegenwarten von A und B. Um zur Möglichkeit einer asynchronen Gegenwart zu gelangen, müsste man hinzufügen, dass t1 für A genau dann gegenwärtig ist, wenn für B t2 gegenwärtig ist. Doch dieser Zusatz ergibt keinen Sinn. Was man bräuchte, um die Hypothese der asynchronen Gegenwart verständlich zu machen, wären Zeitpunkte zweiter Ordnung, also Zeitpunkte, an denen Zeitpunkte stattfinden können, doch die gibt es nicht. Die Sorge, dass die Gegenwart verschiedener gleichzeitig lebender Personen nicht synchron sein könnte, erweist sich somit als unbegründet. Die Intersubjektivität des zeitlichen Werdens ist eine begriffliche Wahrheit.

Gegenwärtigsein als konstitutiv für Subjektivität

Ich komme nun zurück zum Rohs-Prinzip, wonach Subjektivität auf dem zeitlichen Werden beruht und durch dieses verständlich gemacht werden kann. Genauer geht es nun vor allem um eine bestimmte Modalität des zeitlichen Werdens, nämlich das Gegenwärtigsein. Die zentrale Idee lautet, dass das Gegenwärtigsein konstitutiv für Subjektivität ist: „Vorstellungen sind also nicht Ereignisse, die zusätzlich noch gegenwärtig werden, sondern es gibt ohne das Gegenwärtigwerden keine Vorstellungen. […] Ein Ich, Vorstellungen, überhaupt etwas Mentales gibt es nur in diesem Vorgang [des zeitlichen Werdens]“ (1996,101).

Um die Bedeutung dieser These richtig zu verstehen, ist es wichtig, sich den damit verbundenen Unterschied zu nicht-mentalen Ereignissen klarzumachen. Für beide, mentale wie nicht-mentale Ereignisse, gilt zunächst einmal dasselbe: dass die gegenwärtigen Ereignisse in einem besonderen Sinn „wirklich“ sind und dass nichts in diesem Sinn wirklich sein kann, was nicht gegenwärtig ist. Das zeitliche Werden führt nämlich eine eigentümliche, lebensweltlich überaus wichtige Differenz im Realitätsstatus von Ereignissen mit sich: Während zukünftige Ereignisse noch nicht und vergangene Ereignisse nicht mehr wirklich sind, sind nur gegenwärtige Ereignisse in diesem spezifisch präsentischen Sinn „wirklich“. Zukünftige Ereignisse sind in diesem Sinn gar nicht real, vergangene sind es zumindest in abkünftiger Weise, denn immerhin sind sie bereits einmal gegenwärtig gewesen. In einem anderen, nicht-präsentischen Sinn hingegen ist ein Ereignis dann wirklich, wenn es ein Teil der physikalisch beschreibbaren, raumzeitlichen Wirklichkeit ist, in der – wie erwähnt – die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gar nicht vorkommt.
Inwiefern geht Rohs’ These, dass die Gegenwart für das Mentale konstitutiv ist, über die Trivialität hinaus, dass im präsentischen Sinn von „wirklich“ nur gegenwärtige Ereignisse wirklich sind? Die Antwort lautet, dass raumzeitliche Ereignisse sowohl im präsentischen als auch im nicht-präsentischen Sinn wirklich sein können, mentale Ereignisse hingegen nur im präsentischen Sinn. Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit des Mentalen besteht nicht darin, Raumzeitstellen einzunehmen, sondern ausschließlich darin, gegenwärtig zu sein (bzw. im Fall vergangener mentaler Ereignisse: gegenwärtig gewesen zu sein.) „Das Denken ist prinzipiell kein ‚Vorgang im Kopf’, denn es ist nunczentrisch; das Jetzt aber verfließt nicht im Kopf“ (1996, 14) – es verfließt nirgendwo, da es sich um einen unräumlichen Prozess handelt.

Dass mentale Vorgänge in einer besonderen Weise an die Gegenwart gebunden sind, ist eine intuitiv überaus plausible These. Dies zeigt sich, wenn wir einen für unser Weltverhältnis zentralen Typ mentaler Vorgänge betrachten, nämlich die Wahrnehmung. Ich bin mir zum Bespiel qua visueller Wahrnehmung der Tatsache bewusst, dass sich vor mir ein Blatt Papier befindet, dass darauf Schriftzeichen stehen usw. Es ist nun eine vorphilosophisch selbstverständliche, aber dennoch theoretisch bemerkenswerte Tatsache, dass unsere Wahrnehmungen nur Gegenwärtiges zum Inhalt haben. Sehen kann man nur das, was uns gegenwärtig vor Augen steht, hören nur die gegenwärtigen Klänge, nicht aber vergangene oder zukünftige. Sofern gilt, dass andere mentale Vorgänge sich nur vermittels der Wahrnehmung auf die Welt beziehen, bedeutet dies nichts Geringeres als dass wir unmittelbar nur zu gegenwärtigen Dingen und Vorgängen Zugang haben. Wahrnehmung ist unser Fenster zur Welt; was wir durch dieses Fenster sehen ist die Gegenwart, nicht die Vergangenheit oder die Zukunft.

Was für Wahrnehmung gilt, gilt auch für andere Formen des bewussten Erlebens, sei es nun das Erleben äußerer Begebenheiten oder das innerer, d.h. mentaler oder psychischer Vorgänge. Stets ist das, was erlebt wird, gleichzeitig mit dem gegenwärtigen Erleben und somit selbst gegenwärtig. Sprachlich kommt dieser fundamentale Zusammenhang darin zum Ausdruck, dass einem eine Sache genau dann bewusst ist, wenn sie einem, wie man sagt, „gegenwärtig“ ist.

Rohs bleibt nun nicht bei der bloßen Feststellung stehen, dass das Mentale in besonderer Weise an die Gegenwart geknüpft ist. In Feld-Zeit-Ich bietet er eine Erklärung für diesen Umstand an, die in zwei Schritten erfolgt: Erstens ist die Gegenwart, wie es Rohs im Anschluss an Kant nennt, die reine Anschauungsform des Selbstbewusstseins; und zweitens gibt es keine mentalen Ereignisse, die nicht Gegenstand des Selbstbewusstseins sind, so dass der präsentische Charakter des Selbstbewusstseins sich auf alle mentalen Ereignisse überträgt. Es ist also letztlich der wesentlich präsentische Charakter des Selbstbewusstseins, dem sich der Zusammenhang zwischen Subjektivität und Zeit verdankt.

Zunächst zum ersten Schritt. Rohs versteht unter „Selbstbewusstsein“ Gedanken der Form „Ich weiß, dass ich F bin“, also etwa „Ich weiß, dass ich mich jetzt freue“. Er sieht sie durch drei Merkmale gekennzeichnet (Rohs 1996, 53 ff.): Erstens muss das Prädikat „F“ für einen mentalen Zustand stehen, also zum Beispiel dafür, sich zu freuen oder zu glauben, dass es regnet; zweitens muss sich das zweite Vorkommnis von „ich“ in „ich weiß, dass ich F bin“, in einer besondern, direkt referierenden Weise, auf das denkende Subjekt beziehen; tatsächlich ist dieses Subjekt oder Ich Rohs zufolge nichts anderes als diese direkte Bezugnahme auf sich; und drittens schließlich ist es für Selbstbewusstsein wesentlich, dass das Wort „bin“ in dem Ausdruck „dass ich F bin“ keine atemporale, sondern eine präsentische Bedeutung hat. Alle drei Aspekte zusammen machen das aus, was Rohs die „Nunczentrizität des Selbstbewusstseins“ nennt (Rohs 1996, 93). „Wesentlich für den Vollzug von Selbstbewusstsein aber ist auch, dass die zugeschriebene Proposition eine präsentische ist“ (ebd. 55). Etwas später heißt es: „Das Bewusstsein, dass ich bin, muss daher Bewusstsein eines gegenwärtigen Seins sein“ (ebd. 93). Was Rohs hiermit betont, ist ein Strukturmerkmal von Selbstbewusstsein: un mittelbarer Inhalt dieser direkten, kriterienfreien und insofern irrtumsresistenten Art der Selbstzuschreibung von mentalen Zuständen können nur meine gegenwärtigen mentalen Zustände sein, nicht meine vergangenen (und erst recht nicht meine zukünftigen), da mir diese nicht in derselben unmittelbaren Weise zugänglich sind. Mit anderen Worten: Ein Subjekt wird sich seiner eigenen mentalen Zustände und Prozesse im Modus der Gegenwart bewusst.

Es könnte so aussehen, als sei damit nur eine epistemische Bedingung für die besondere Art von Wissen bezeichnet, die das Selbstbewusstsein ausmacht. Es hätte nicht diese besondere epistemische Dignität (man denke an das cartesische Cogito), wenn es nicht auf Gegenwärtiges bezogen wäre. Doch Rohs zufolge handelt es sich bei der Gegenwartsbezogenheit des Selbstbewusstseins um eine Bedingung dafür, dass man sich seiner mentalen Zustände überhaupt als seiner eigenen bewusst werden kann: „es gibt keinen Blick auf uns selbst an dieser Anschauungsform vorbei“ (1996, 49). Wir können uns unserer eigenen mentalen Zustände nur dadurch bewusst werden, dass sie uns gegenwärtig sind. Selbstbewusstsein ist wesentlich Gegenwartsbewusstsein. In diesem Sinn ist das zeitliche Werden Anschauungsform des Selbstbewusstseins.

Dass das Selbstbewusstsein in einer besonderen Weise mit dem Erleben von Gegenwart und damit mit dem zeitlichen Werden verbunden ist, ist nicht nur überaus plausibel, sondern auch philosophisch von größter Wichtigkeit. Vor dem Hintergrund der Rohsschen Analyse des zeitlichen Werdens als nicht-sinnlichem und zugleich intersubjektivem Vorgang ergeben sich daraus unmittelbar gravierende ontologische Konsequenzen, nämlich dass das Selbstbewusstsein nicht auf physische Vorgänge reduzierbar ist, gleichzeitig aber mit der Gegenwart ein Moment von Intersubjektivität enthält.

Dennoch könnte man die Relevanz dieser Thesen für begrenzt halten, da sie allein auf das Selbstbewusstsein beschränkt sind und nicht das Mentale insgesamt betreffen. Doch Rohs zufolge ist Selbstbewusstsein „nicht lediglich ein Spezialfall von Intentionalität“. Vielmehr beruhen alle Formen von Intentionalität auf dem Selbstbewusstsein. Das jedenfalls besagt die von Rohs so genannte „Reflexivitätsbedingung“: Keine propositionalen Einstellungen ohne propositionales Selbstbewusstsein, genauer: Ein Subjekt kann propositionale Einstellungen nur dann einnehmen, wenn es weiß, dass es diese Einstellung einnimmt. Erst das Wissen zum Beispiel, dass ich glaube, dass es regnet, macht aus dieser Überzeugung meine Überzeugung. Dadurch, dass das Selbstbewusstsein an die Gegenwart gebunden ist, sind also alle Formen propositionalen Bewusstseins an die Gegenwart gebunden. In genau diesem Sinn ist das zeitliche Werden der Kern von Subjektivität.

Wie plausibel ist die Rohssche Reflexivitätsbedingung ? Es handelt sich um eine sehr anspruchsvolle Bedingung, denn aus ihr folgt zum Beispiel, dass man keine Überzeugungen haben kann, ohne über den Begriff der Überzeugung zu verfügen (1996, 67). Schließlich kann man nicht wissen, dass man eine Überzeugung hat, ohne zu wissen, was eine Überzeugung ist. Diese von Rohs akzeptierte Konsequenz lässt sich jedoch umgehen, wenn man annimmt, dass Selbstbewusstsein primär auf die propositionalen Gehalte, nicht auf die spezifischen Modi wie glauben, hoffen oder wünschen gerichtet ist. Ich kann mir bewusst sein, eine Einstellung zu der Proposition einzunehmen, dass es regnet, ohne zu wissen, ob es sich um ein Glauben, Hoffen oder Wünschen handelt. Alles, was ich dazu brauche, ist der Begriff einer propositionalen Einstellung – sagen wir: den Begriff von etwas, das wahr oder falsch sein kann. Dass man sich propositionale Einstellungen nicht zuschreiben kann, ohne über diesen Begriff zu verfügen, scheint mir plausibel zu sein.

Es bleibt die für die Reflexivitätsbedingung zentrale Frage, ob es nicht doch denkbar ist, dass man eine bestimmte propositionale Einstellung einnimmt, ohne zu wissen, dass man dies tut. Kann es nicht sein, dass ich mir erst im nachhinein bewusst werde, dass ich die ganze Zeit über irrtümlich geglaubt habe, es regne draußen? Während ich dies glaubte, war ich mir der Überzeugung gar nicht bewusst. Erst als ich aus dem Haus trat und meinen Irrtum bemerkte, fiel mir auf, dass ich diese Überzeugung hatte. Doch Fälle wie dieser sprechen nicht gegen die Reflexivitätsbedingung. Wissen ist ebenso wie Glauben ein Dispositionsprädikat: Man kann wissen, dass man glaubt, es regne, ohne aktuell zu denken, dass man dies glaubt oder auch nur zu denken, dass es regnet.

Gegen die Reflexivitätsbedingung lassen sich andere Einwände vorbringen, so etwa das auch von Rohs angesprochene Iterationsproblem: Da auch das Selbstbewusstsein eine propositionale Einstellung ist, scheint die Reflexivitätsbedingung die Selbstzuschreibung dieser Einstellung in einem Selbstbewusstsein zweiter Stufe zu erfordern, was in einen infiniten Regress zu führen droht. Rohs schneidet diesen Regress mit dem Hinweis ab, dass Iterationen im Selbstbewusstsein „leer“ seien – sie fügen dem Selbstbewusstsein nichts hinzu.

Alles in allem scheint die Reflexivitätsbedingung zumindest für komplexere mentale Einstellungen plausibel zu sein. Gilt sie auch für einfachere, etwa nicht-propositionale Einstellungen? Rohs selbst schließt sich in diesem Punkt der Auffassung von Manfred Frank und Georg Mohr an, dass es auch ein nicht-begriffliches Gewahrwerden des eigenen Selbst gibt. Dieses ist Rohs zufolge aber ebenfalls wesentlich präsentisch.

Fassen wir zusammen: Das zeitliche Werden ist für Rohs ein nicht-räumlicher, physisch nicht nachweisbarer und insofern nichtsinnlicher, dennoch realer und sogar intersubjektiv zugänglicher Prozess sui generis. Dieser Prozess ist Rohs zufolge konstitutiv für Subjektivität und das Mentale: Die Wirklichkeit des Mentalen besteht allein darin, gegenwärtig zu werden (oder gegenwärtig gewesen zu sein). Das schließt nicht aus, dass mentale Vorgänge ein materielles Substrat haben, doch kann dieses nicht die spezifische Subjektivität des Mentalen erklären. Nun erklärt auch der präsentische Charakter des Mentalen noch nicht seine Subjektivität, denn das zeitliche Werden ist ja, wie wir gesehen haben, ein intersubjektiver Vorgang. Dass mentale Vorgänge stets die eines bestimmten Subjekts sind, macht Rohs zufolge die Reflexivitätsbedingung verständlich, denn Mentales gibt es nicht ohne ein reflexives Moment, das sich als Wissen von den eigenen mentalen Zuständen explizieren lässt. Selbstbewusstsein (Subjektivität) ist nichts anderes als dieses Moment von Reflexivität, das zu jedem mentalen Vorgang hinzugehört. Diese Reflexivität des Mentalen macht zugleich seinen präsentischen Charakter verständlich, denn sich seiner eigenen mentalen Zustände bewusst zu werden heißt nichts anderes, als dass man sie als gegenwärtig erfährt. Selbstbewusstsein ist das Wissen, dass bestimmte mentale Vorgänge gegenwärtig sind. Wenn es stimmt, dass es kein Denken ohne Selbstbewusstsein gibt, dann ist alles Denken an die Gegenwart gebunden: Seine Realität besteht darin, gegenwärtig zu sein. In diesem Sinn ist das zeitliche Werden konstitutiv für Subjektivität. Genau das besagt das Rohs-Prinzip. Dieses Prinzip stellt eine bedeutende philosophische Einsicht dar, die um ihrer selbst willen interessant und wichtig ist, darüber hinaus aber auch weitreichende Konsequenzen für viele andere Bereiche der Philosophie hat. Kant und Heidegger sind dieser Einsicht nahegekommen, aber erst Peter Rohs hat sie in ihrer vollen Bedeutung entfaltet.
Neuere Bücher von Peter Rohs

Feld-Zeit-Ich. Entwurf einer feldtheoretischen Transzendentalphilosophie. Ln. € 29.—, Kt. € 19.—, 1996, Klostermann, Frankfurt.

Abhandlungen zur Feldtheoretischen Transzendentalphilosophie. 248 S., kt., Pbk., € 29.50, 1998, Lit-Verlag, Münster.

Diskussionsband zu Feld-Zeit-Ich

Feld-Zeit-Kritik. Die feldtheoretische Transzendentalphilosophie von Peter Rohs in der Diskussion, hg. v. M. Willaschek. 217 S., kt., Pbk., € 22.90, 1997, Lit-Verlag, Münster (mit Beiträgen von W. Kuhlmann, V. Gerhardt, M. Esfeld, G. Meggle, Chr. Jäger, M. Quante, B. Gesang, G. Mohr, H. Hoppe, Chr. Suhm, A. Rosas, S. Mischer, L. Siep und B. Recki)

UNSER AUTOR:

Marcus Willaschek ist Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt.

Von der Redaktion gekürzter Text eines Vortrages anlässlich eines Kolloquiums zum 70. Geburtstag von Peter Rohs in Münster.