PhilosophiePhilosophie

EDITIONEN

Dominicus Gundissalinus

DOMINICUS GUNDISSALINUS

Über das Leben des spanischen Gelehrten Dominicus Gundissalinus (ca. 1110 – 1190), der in Cuéllar das Amt eines Archidiakons bekleidete, ist nur wenig bekannt. Toledo, zu der das Städtchen Cuéllar gehörte, bildete im 12. Jahrhundert ein intellektuelles Zentrum Spaniens. Juden, Christen und Muslime befassten sich hier mit arabischer und aristotelischer Philosophie. Gundissalinus begann mit Übersetzungen aus dem Arabischen ins Lateinische, insgesamt sind es zwanzig, die uns bekannt sind. Er ist aber auch als Autor hervorgetreten. Fünf Abhandlungen sind bekannt, deren Chronologie ist aber noch nicht genau ermittelt.

Alexander Fidora und Dorothée Werner haben nun im Rahmen von „Herders Bibliothek des Mittelalters“

Dominicus Gundissalinus: De divisione philosophiae. Über die Einteilung der Philosophie. Lateinischdeutsch. 287 S., Ln. € 35.—, 2007, Herders Bibliothek des Mittelalters, Band 11, Herder, Freiburg

ediert. Wie sie ausführen, versteht Gundissalinus sein Werk im bewussten Gegensatz zur intellektuellen Situation seiner Zeit, gleichsam als aufklärerisches Gegenprojekt, das die Antike in ihrem emphatischen Begriff von Philosophie beerben will. Dabei hebt er in einer erstaunlichen Schärfe Philosophie und Theologie voneinander ab.

Er unternimmt es, die Philosophie zu definieren, wobei er auf die Tradition zurückgreift (etwa auf Isaak Israeli), und er kommt dabei auf sechs Bestimmungen:

1.) Philosophie ist die Angleichung des Menschen an die Werke des Schöpfers gemäß der Kraft der Menschheit.

2.) Philosophie ist Ekel (vor dem Leben) und Sorge, Streben und Bedachtsein auf den Tod.

3.) Philosophie ist Erkenntnis der menschlichen und göttlichen Dinge, verbunden mit der Bemühung um guten Lebenswandel.

4.) Philosophie ist die Kunst der Künste und die Lehre der Lehren.

5.) Philosophie ist die vollständige Erkenntnis des Menschen von sich selbst.

6.) Philosophie ist die Liebe zur Weisheit.

Gundissalinus war der erste mittelalterliche Philosoph, der die methodische Bedeutung einer eingehenden begrifflichen Beschäftigung mit dem Konzept der Philosophie als Grundlage der philosophischen Arbeit wiederentdeckte und sein Werk entsprechend in einer Begriffsbestimmung der Philosophie fundierte.

Er teilt dabei die Philosophie in theoretische und praktische Philosophie ein. Erstere umfasst Physik, Mathematik und Metaphysik. Auch die praktische Philosophie ist dreigeteilt: Die „politische Wissenschaft“ befasst sich mit der Einrichtung des eigenen Umgangs mit allen Menschen, ein zweiter ist „die Wissenschaft der Einrichtung des Hauses und der eigenen Familie“, und ein dritter Teil ist die Ethik, die Wissenschaft, „durch die man seine eigene Lebensweise zur Ehre seiner Seele zu ordnen weiß, nämlich um unverdorben und rechtschaffen in seinem Charakter zu sein.“

Gundissalinus bringt eine detaillierte Darstellung dieser einzelnen philosophischen Disziplinen und der unter ihnen jeweils befassten Wissenschaften, aber auch der Logik, die ihm als Propädeutik und Teil der Philosophie zugleich gilt. Als Organisationsprinzip führt er eine Liste von elf Fragen an, die in Bezug auf jeden Teil der Philosophie gestellt werden müssen: was er ist (quid sit), welche seine Gattung (quod genus) ist, was sein Gegenstand (quae materia) ist, welche seine Unterarten sind (quae species), welche seine Teile (quae partes) sind, was sein Instrument (quod instrumentum est), wer der (betreibende) Künstler (quis artifex) ist, warum er so genannt wird (quare si vocetur) und in welcher Reihenfolge er zu lesen ist (quo ordine legenda sit).

Unter der Materie einer Wissenschaft versteht Gundissalinus ihren (Betrachtungs) Gegenstand, der ihr eigentümlich ist und sie von anderen Wissenschaften unterscheidet. Ein weiteres wichtiges Kriterium einer Wissenschaft ist ihr jeweiliges Instrument, d. h. ihre Methode. Bei der Physik beispielsweise ist es der „dialektische Syllogismus, der aus wahren und wahrscheinlichen Prämissen besteht“. Darin, dass sie auf Beweise bzw. Syllogismus gestützt sind, liegt der epistemische Vorrang der theoretischen Wissenschaften gegenüber nichtwissenschaftlichen Formen des Wissens. Sie unterscheiden sich aber hinsichtlich ihrer Prinzipien. Während die Mathematik aus wahren Prinzipien hervorgeht, sind es bei der Physik wahre Prinzipien, die aber nur wahrscheinlich sind. Das kommt daher, dass die Physik die Evidenz der wahren Prinzipien nicht aus sich selbst bezieht, sondern dass diese abgeleitet ist. Die Mathematik hat es hingegen mit Erstprinzipien zu tun, die keiner entsprechenden Herleitung bedürfen.

Gundissalinus hat als erster in der Geschichte der Philosophie „Metaphysik“ als distinkte Bezeichnung einer Wissenschaft (und nicht nur als Name eines Textkorpus) verwendet. Metaphysik wird von ihm ebenso wie die Theologie als göttliche Wissenschaft bezeichnet. Beide sind aber für ihn kategorial verschieden. Die Metaphysik ist die „relative“ göttliche Wissenschaft. Sie handelt zwar von Gott, sie beweist sogar seine Existenz, doch ist Gott gerade nicht der eigentümliche Gegenstand der Metaphysik. Denn der Gegenstand einer jeden Wissenschaft kann nicht noch einmal durch dieselbe Wissenschaft bewiesen werden, wie Gundissalinus ausführt. Vielmehr gehört der Gegenstand in den Bereich des Voraussetzungswissens der jeweiligen Wissenschaft. Gott ist damit nicht Gegenstand der Metaphysik, sondern gehört zu dessen Begleitumständen, deren Aufweis das Ziel der Wissenschaft, nicht aber ihr Ausgangspunkt sein kann. Wenn die Metaphysik von Gott handelt und insofern eine göttliche Wissenschaft genannt werden kann, dann nicht vom Gott Abrahams, d. h. dem offenbarten Gott, wie es die Theologie zum Gegenstand hat, sondern vom Gott der Philosophen als Ursache des Seienden.
Es kommt also bei Gundissalinus zu einer deutlichen EntTheologisierung der Metaphysik, die sich dann über Thomas von Aquin und Duns Scotus bis in die Neuzeit hinein verfolgen lässt. Gundissalinus steht damit bereits im 12. Jahrhundert am Beginn dessen, was man den „zweiten Anfang der Metaphysik“ genannt hat.