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INTERVIEW

Brague: Reue ohne Absolution

Reue ohne Absolution
Gespräch mit Rémi Brague über den islamischen
Beitrag zur Entwicklung des Abendlandes



Vor einiger Zeit gerieten Sie in einer französischen Fernsehsendung in Harnisch, als ein Herr erklärte, der Westen habe einen Großteil des antiken Wissens auf dem Umweg über die islamische Welt kennengelernt. Was hat Sie da so zornig gemacht?

Rémi Brague: Im neunten Jahrhundert wurden in Bagdad und anderen Gegenden viele griechische Werke zu Mathematik, Medizin, Philosophie, Astronomie und Astrologie ins Arabische übersetzt. Als der Westen Ende des elften Jahrhunderts anfing, sich für diese Dinge zu interessieren, war es in den von den Arabern eroberten Gebieten, in Spanien oder Sizilien, praktisch, die Werke aus dem Arabischen zu übersetzen, wenn man das griechische Manuskript nicht fand. Früher wurde dieser arabische Einfluss vernachlässigt. Jetzt wird er übertrieben. Man sollte aber einen Irrtum nicht durch einen gegenteiligen Irrtum ersetzen, sondern durch das Gegenteil eines Irrtums. Spricht man vom Beitrag des Islam zur Entwicklung der abendländischen Kultur, wie es derzeit geschieht, muss man außerdem klarmachen, was man meint. Meint man die vom Islam geprägte Zivilisation, stimmt es. Meint man den Islam als Religionsgemeinschaft, war der Beitrag gleich null.

Inwiefern?

Brague: Kein einziger arabischer Übersetzer des neunten Jahrhunderts war Muslim. Es waren alles Christen, bis auf ein oder zwei, die der Gemeinschaft der Sabier angehörten. Auch sonst sind keine Muslime bekannt, die zu Studienzwecken eine nichtislamische Sprache gelernt hätten. Mit einer einzigen Ausnahme im elften Jahrhundert – Alberuni, ein Philosoph, den ich sehr bewundere, dessen Orthodoxie man allerdings bezweifeln kann. Er hielt sich am Hof des afghanischen Prinzen Mahmud von Ghazni auf. Dieser Herrscher sammelte Gelehrte, wie andere Marken sammeln, sie durften seinen Hof nicht verlassen. Als der Prinz in Indien einfiel, profitierte Alberuni aber davon, um Sanskrit zu lernen und mit den dortigen Gelehrten zu diskutieren. Er schrieb sogar ein wunderbares, ganz objektives Buch über die Welt der Hindus. Aber das war die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Woher kommt die von Ihnen kritisierte neue Überbewertung des „islamischen“ Beitrags zur Entwicklung des Abendlands: von muslimischen Wissenschaftlern?

Brague: Im Allgemeinen ist es eher die gegenteilige Bewegung – die islamische Welt holt sich von westlichen Wissenschaftlern die Argumente, die es ihr erlauben, sich selbst ernst zu nehmen. Das war auch schon früher so, bestes Beispiel dafür ist ein Buch der radikal antichristlichen Religionswissenschaftlerin und Nationalsozialistin Sigrid Hunke, die auch für das SSAhnenerbe gearbeitet hat. Sie stellte den Islam als virile Religion dem Christentum als verweichlichter Sklavenreligion gegenüber. Was den entscheidenden Beitrag des Islam zur abendländischen Kultur betrifft, erstaunt mich nur, wie sehr sich diese Legende derzeit unter AmateurIslamexperten verbreitet. Die Zahl der Islamexperten hat sich erstaunlicherweise zwischen dem 10. und 12. September 2001 verzehnfacht. Heute muss man unterscheiden zwischen Islamwissenschaftlern und denen, die sagen, dass sie Islamwissenschaftler sind – das sind ganz und gar nicht dieselben.

Wenn sich islamische Länder schmeichelhafte Zuschreibungen aneignen, müsste
dasselbe auch mit negativen westlichen Selbstbildern funktionieren. Ist nicht auch das Bild des „Kreuzzugs“ ein westliches Exportprodukt?


Brague: Ja, das ist sogar ein besonders spannendes Beispiel. Die muslimische Welt hatte die Kreuzzüge völlig vergessen. Erst im 19. Jahrhundert hat eine ins Arabische übersetzte französische Geschichte der Kreuzzüge von einem gewissen Joseph François Michaud sie wieder daran erinnert. Der arabische Übersetzer musste dabei neue Wörter für Kreuzzug und Kreuzfahrer finden, das Arabische hatte gar keine dafür! Ein Grund dafür ist, dass die Araber, Türken, Kurden seinerzeit den neuen Charakter dieser Kriege nicht erkannten. Sie waren seit Jahrhunderten im Krieg mit Byzanz, und in der byzantinischen Armee kämpften auch europäische Söldner – da dachten sie, diesmal sind es halt ein bisschen mehr Europäer als sonst. Der zweite Grund: Nicht die Kreuzfahrer haben den Kalifen von Bagdad schlaflose Nächte bereitet, sondern die Fatimiden in Ägypten. Der Ruhm des Saladin, den wir auch aus Lessings „Nathan der Weise“ kennen, kommt in erster Linie von seinem Sieg über die Fatimiden, der Sieg über die Kreuzfahrer war eher Nebensache. Ein großer Teil des Bildes, das man im Mittleren Osten von den Kreuzzügen hat, ist also eine vom Westen inspirierte Rekonstruktion. Völlig absurd wird es, wenn die Kreuzzüge als erste Etappe der Kolonialisierung gesehen werden. Das islamische Volk ist das belogenste Volk der Welt. Und wenn Dummköpfe wie Bush dann auch noch von Kreuzzug sprechen... Das war, wie immer, genau das, was er nicht hätte sagen sollen.

Meinen Sie, dass Europa den eigenen Selbsthass exportiert?

Brague: Ja, Europa ist dazugekommen, sich selbst zu hassen, aufgrund einer, wie ich theologisch sagen würde, Reue ohne Absolution. Sklaverei, Inquisition, Kreuzzüge, Eroberung Südamerikas, die ganze europäische Geschichte wird als eine unendliche Folge von Verbrechen gesehen. Was nicht falsch ist. Aber man zeige mir eine Zivilisation, die die Möglichkeit hatte, auf andere Einfluss auszuüben, und die nur Gutes gebracht hätte. Stellen Sie sich einmal den liebsten aller Elefanten und die böseste aller Mäuse in einem Porzellangeschäft vor. Was wird passieren? Gut, Europa war kein sehr lieber Elefant – aber es war ein Elefant.

Europas historische Eigenart liegt für Sie in seiner „exzentrischen Identität“, der neugierigen Aneignung von Fremdem, ohne es zu zerstören, wie es die Römer mit der griechischen Kultur taten. Kann diese „exzentrische Identität“ nicht auch selbstzerstörerisch werden, wenn die Standfestigkeit dafür fehlt?

Brague: Eine sehr gute Frage. Die Fähigkeit, in sich kulturelle Elemente zu behalten, ohne deren Andersheit zu zerstören, setzt voraus, dass man im Frieden mit sich ist. Sind Sie das nicht, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder Sie schotten sich ab, oder Sie nehmen alles auf, im unbewussten Wunsch, das Fremde möge einen zerstören. Europa nähert sich dem Punkt, wo es nicht einmal mehr akzeptieren kann, dass es anders ist. Lassen Sie mich noch ein Bild verwenden: Im Meer gibt es Quallen, Muscheln, Wirbeltiere. Wenn wir keine Qualle sein wollen, können wir eine Muschel sein. Dann sind wir geschützt, aber unbeweglich, außen hart, innen weich. Oder aber wir sind gescheit genug, den Panzer zu verinnerlichen, ein Wirbeltier zu werden. Das macht uns viel verletzlicher, aber gibt uns auch eine unglaubliche Beweglichkeit. Im Moment fürchte ich, dass Europa entweder Qualle oder Muschel wird.

Boomende Koranlektüre, das Interesse an MohammedBiografien deuten darauf hin, dass Europa die Neugier noch nicht vergangen ist.

Brague: Was die Religion betrifft, gibt es eine strukturelle Asymmetrie. Das Christentum weiß nicht, wo es den Islam hingeben soll, das führt zu Misstrauen, aber auch In¬teresse. Der Islam dagegen glaubt genau zu wissen, was das Christentum ist, der Koran sagt es ja. Es ist für ihn ein überwundener alter Hut. Deswegen gibt es auch kaum Muslime, die das Christentum wirklich gut kennen. Den Dialog macht das nicht einfacher.

Rémy Brague ist Inhaber des GuardiniLehr stuhls für Philosophie der Religionen Europas an der Universität München und Professor für mittelalterliche und arabische Philosophie an der Universität Paris I.

Mit Rémy Brague sprach AnneCatherine Simon. Erstveröffentlichung in der Wiener Presse vom 21.4.2008