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BERICHT

Thomas Fuchs :
Philosophie des Geistes: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan

aus Heft 5/2010


Drei Thesen

Das neurowissenschaftliche Projekt der „Naturalisierung des Geistes“ ist verbunden mit dem Versuch, menschliches Bewusstsein, Subjektivität und Handeln auf neuronale Prozesse zu reduzieren. In der Psychiatrie hat dies zu dem häufig anzutreffenden Glauben geführt, in abweichenden Hirnaktivitäten die Ursache eines psychischen Leidens oder dieses Leiden selbst lokalisiert zu haben.

Ich möchte solchen Auffassungen mit drei einfachen Thesen widersprechen: Die Welt ist nicht im Kopf. Das Subjekt ist nicht im Gehirn. Im Gehirn gibt es keine Gedanken.

Diese Aussagen werden vielfach auf Skepsis treffen. Ist denn nicht längst erwiesen, dass alles, war wir erleben, und alles was uns als Subjekte, ja als Personen ausmacht, in den Strukturen und Funktionen des Gehirns besteht? Werden die Welt, das Subjekt, das Ich nicht vom Gehirn hervorgebracht? Ja, ist das Ich nicht das Gehirn? Gerhard Roth jedenfalls meint:

„Unser Ich, das wir als das unmittelbarste und konkreteste, nämlich als uns selbst, empfinden, ist – wenn man es etwas poetisch ausdrücken will – eine Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir, die Fiktion, der Traum nichts wissen können“ (Roth 1994, S. 253).

Liest man neurowissenschaftliche Literatur, kann man zu der Überzeugung gelangen, dass das Gehirn tatsächlich rechnet, denkt, fühlt, erkennt und entscheidet. Doch was wäre dann von einem Satz zu halten wie diesem:

„Peters Gehirn überlegte angestrengt, was es nun tun sollte. Als es keine überzeugende Lösung fand, entschied es sich, erst einmal abzuwarten.“
Wären Denken, Fühlen, Entscheiden und Handeln tatsächlich Tätigkeiten des Gehirns, dann wäre dies kein lächerlicher, sondern ein durchaus sinnvoller Satz. Aber wir schreiben solche Tätigkeiten Peter und nicht seinem Gehirn zu, weil sie eben nicht „Kognitionen“ oder „mentale Zustände“ sind, in denen Peter ist, sondern Lebensvollzüge, die sich nur von Peter als einem Wesen aus Fleisch und Blut und nur im Zusammenhang mit seiner Lebenssituation aussagen lassen. Das Gehirn mag viele bemerkenswerte Eigenschaften haben, es mag auch der zentrale Ort bewusstseinstragender Prozesse sein, aber Bewusstsein hat es nicht. Denn es nimmt nicht wahr, es überlegt oder grübelt, es ärgert oder freut sich nicht, es bewegt sich nicht – das alles sind Tätigkeiten von Lebewesen, die bei Bewusstsein sind. Von einem denkenden, fühlenden oder wahrnehmenden Hirn zu sprechen, ist ein begrifflicher Unsinn. Deshalb meine These: Menschliche Subjektivität ist verkörperte oder leibliche Subjektivität.

Diese These hat einen überraschenden Kronzeugen, den man hier nicht erwarten würde, nämlich René Descartes, der nicht immer der radikale Dualist war, den man in ihm sieht:

„Ferner lehrt mich die Natur durch jene Schmerz-, Hunger-, Durst-Empfindungen usw., dass ich meinem Körper nicht nur wie ein Schiffer seinem Fahrzeug gegenwärtig bin, sondern dass ich ganz eng mit ihm verbunden und gleichsam vermischt bin, so dass ich mit ihm eine Einheit bilde“ (René Descartes, Meditationen, VI, 13).

Daran gemessen ist das bislang dominierende Paradigma der kognitiven Neurowissenschaften geradezu dualistisch: Bewusstsein gilt darin als eine subjektive Repräsentation der Außenwelt, die ebenso wie das Subjekt selbst im Gehirn konstruiert wird. Der Körper bleibt in dieser Sicht eine physiologische Trägermaschine für das Gehirn, in dem die unkörperliche Innenwelt des Bewusstseins entsteht. Dieser Ansatz vermag zwar erfolgreich bestimmte neuronale Mechanismen immer weiter zu entschlüsseln, vernachlässigt aber in seinem Zentralismus die Wechselbeziehungen und Kreisläufe, in denen das Gehirn steht, so wie wenn man das Herz ohne den Kreislauf betrachten würde oder die Lungen ohne den Atemzyklus.


Damit geht die Hirnforschung, ebenso wie die meisten gegenwärtigen Leib-Seele-Theorien, von zwei konzeptuell und phänomenal voneinander verschiedenen Ebenen, Bereichen oder Entitäten aus, nämlich von „Körper“ und „Geist“, also von physiologischen bzw. physikalischen und von mentalen Vorgängen. Die einen sind danach aus der Außenperspektive (3.-Person-Perspektive), die anderen nur aus der Innenperspektive (1.-Person-Perspektive) zugänglich. Diese als grundlegend verschieden angesetzten Wirklichkeitsbereiche müssen nun durch verschiedene theoretische Konstruktionen miteinander verknüpft werden, wobei sich die physiologische Basis des Mentalen in der Regel auf bestimmte Hirnprozesse reduziert. Die mentalen Vorgänge müssen dann je nachdem als mit den neuronalen Prozessen identisch, als zu ihnen epiphänomenal, supervenient, emergent oder aber als gänzlich eigenständig im dualistischen Sinne angesehen werden. Entscheidend ist: Das Lebewesen tritt in all diesen Theorien nicht als eigene Entität auf. Mentale Prozesse werden nicht als Funktionen eines lebendigen Organismus angesehen. Daher können mentale Prozesse und Gehirnprozesse nur direkt aufeinander bezogen bzw. miteinander „kurzgeschlossen“ werden. Was hier fehlt, hat schon Ludwig Feuerbach klar erkannt – nämlich der Leib und das Leben.

„Weder die Seele denkt und empfindet, noch das Hirn denkt und empfindet; denn das Hirn ist eine physiologische Abstraktion, ein aus der Totalität herausgerissenes, vom Schädel, vom Gesicht, vom Leibe überhaupt abgesondertes, für sich selbst fixiertes Organ. Das Hirn ist aber nur solange Denkorgan, als es mit einem menschlichen Kopf und Leibe verbunden ist“ (Ludwig Feuerbach 1985, Wider den Dualismus von Leib und Seele, S. 177).

Das Lebewesen als primäre Entität

Dem Dualismus von Mentalem und Psychischem will ich daher eine Konzeption gegenüberstellen, in der das Lebewesen oder der lebendige Organismus die primäre Entität darstellt, an der sich einerseits bewusste (seelische, geistige) Lebensäußerungen, andererseits aber auch physiologische Prozesse in beliebiger Detailliertheit feststellen lassen. Das Lebewesen erscheint also unter einem Doppelaspekt – der allerdings nicht mit dem Dualismus von Mentalem und Physischem zusammenfällt. Denn bewusste Lebensäußerungen sind als Funktionen eines lebendigen Organismus durchaus physischer Natur und zudem nicht nur in der Perspektive der 1. Person, sondern auch in der Perspektive der 2. Person wahrnehmbar, etwa wenn man jemanden sprechen sieht und hört.

Das Lebewesen, der lebendige Organismus ist also die Mitte, die wir zwischen mentalen und physischen Prozessen wieder einsetzen müssen, damit wir das Gehirn angemessen begreifen können, nämlich als Organ eines Lebewesens in seiner Umwelt. Es erscheint dann nicht mehr als eigener Apparat, der das Subjekt oder die erlebte Welt konstruiert, sondern in erster Linie als Vermittlungsorgan für die Beziehungen des Lebewesens zu seiner Umwelt. Zweifellos ist es dabei auch das Zentralorgan geistiger Prozesse, keineswegs aber ihr einziger Ort. Bewusstsein ist intentionaler Natur, gerichtet auf Gegenstände und Situationen; daher entsteht es auch nicht in einem isoliert betrachteten Gehirn, sondern nur in einem lebendigen, mit der Umwelt vernetzten Organismus.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich auch in den Kognitionswissenschaften eine neue Richtung entwickelt, die diese Zusammenhänge in den Vordergrund zu rücken beginnt, die „embodied cognitive science“. Sie betrachtet Subjektivität als verkörpert in der sensomotorischen Aktivität des Organismus und als eingebettet in die Umwelt – „embodied“ und „embedded“, wie es im Englischen heißt. An die Stelle von internen Modellen und Repräsentationen treten dynamische Operationen von Organismen in ihrer Umwelt. Das Gehirn fungiert in diesen Interaktionen als eine Vermittlungs- und Kontrollinstanz, nicht als Speicher kompletter Bewegungs- und Verhaltensprogramme. Es moduliert z. B. die Bewegung in Abhängigkeit vom ständigen Feedback des Organismus, von Muskelspannung, Schwerkraft, Widerstand usw. Aber nicht nur Bewegung und Handlung, auch die für das Bewusstsein überhaupt konstitutiven Trägerprozesse sind aus dieser Sicht nicht ausschließlich im Gehirn lokalisierbar, sondern erfordern die dynamische Verknüpfung von Gehirn, Körper und Umwelt. Drei Formen dieser Interaktionen sollen im Folgenden näher betrachtet werden, nämlich die Interaktion (1) von Gehirn und Körper, (2) von Gehirn, Körper und Umwelt und (3) die Interaktion von Personen.

Eine ökologische Sicht des Gehirns

(1) Phänomenologische und neurobiologische Bewusstseinstheorien stimmen darüber ein, dass jedem Bewusstseinszustand ein primäres oder Kernbewusstsein zugrunde liegt, ein leibliches, affektiv getöntes Selbsterleben, das man am ehesten mit dem Begriff von Lebendigkeit oder Lebensgefühl umschreiben kann. Neurologisch entspricht ihm z.B. Damasios Konzeption des somatischen Hintergrunderlebens, das durch Verknüpfung propriozeptiver, viszeraler, endokriner und anderer Signale des Körpers mit subkortikalen und somatosensorisc hen Arealen des Gehirns entsteht. Die ständige Interaktion des Gehirns mit dem Organismus bildet demnach die Basis für das leibliche Hintergrundempfinden, auf dem alles Bewusstsein beruht.

In gleicher Weise sind die Affekte als Kern unseres subjektiven Erlebens an die ständige Interaktion von Gehirn und Körper gebunden. Stimmungen und Gefühle sind gesamtorganismische Zustände, die nahezu alle Subsysteme des Körpers einbeziehen: Gehirn, autonomes Nervensystem, endokrines und Immunsystem, Herz, Kreislauf, Atmung, Eingeweide und Ausdrucksmuskulatur (Mimik, Gestik und Haltung). Jedes Gefühlserlebnis ist untrennbar verknüpft mit physiologischen Veränderungen dieser Körperlandschaft. Erst wenn diese an somatosensible Areale des Gehirns weitergeleitet werden, können Gefühle auftreten.

Damit wird bereits deutlich, dass die auf der vegetativen Ebene bestehende Einheit von Gehirn und Organismus auch die höheren Hirnfunktionen umfasst. Alle Bewusstseinstätigkeiten wie Wahrnehmen, Denken oder Handeln beruhen keineswegs nur auf neuronalen Aktivitäten im Neokortex, sondern ebenso auf den kontinuierlichen vitalen und affektiven Regulationsprozessen, die den ganzen Organismus und seinen aktuellen Zustand mit einbeziehen. Auch der einfachste Empfindungszustand ist eine komplexe Leistung des gesamten Gehirns und Organismus. Der traditionelle „Zerebrozentrismus“ der kognitiven Neurowissenschaften beruht insofern auf einem latenten Cartesianismus, einer Trennung von Bewusstsein und Körper, die einer systemisch-biologischen Betrachtung des Organismus nicht Stand hält. Weder das Gehirn noch das Bewusstsein lassen sich vom lebendigen Körper insgesamt trennen.

(2) Das Gehirn ist also eingebettet in den Organismus. Ebenso aber ist es abhängig von der sensomotorischen Interaktion mit der Umwelt, von Sinneseindrücken, Stimulation und Kommunikation. Um tasten, hören, sehen, sprechen zu können, bedarf es sicher nicht nur eines Gehirns, sondern eines tastenden, hörenden, sehenden und sprechenden Körpers. Besonders offenkundig wird die systemische Einheit von Gehirn, Organismus und Umwelt bei allen instrumentellen Handlungen. Schreibe ich einen Brief, so wäre es sinnlos, diese Tätigkeit dualistisch aufzuteilen und sie entweder meiner Hand, meinem Gehirn oder aber meinem „Ich“ oder Bewusstsein zuzuschreiben. Papier, Stift, Hand und Gehirn bilden eine Einheit, ebenso wie sich auf der bewussten Ebene meine gedachten Worte unmittelbar in die leiblich gespürte Bewegung umsetzen. Es ist nicht möglich, hier eine Grenze zwischen „Innen“ und „Außen“, „Selbst“ und „Nicht-Selbst“ zu ziehen – es wäre so sinnlos wie zu fragen, ob die eingeatmete Luft noch der Außenwelt oder schon dem Organismus zugehört.

Das bedeutet: Der Körper ist immer das Bindeglied der Interaktionen, und diese Vermittlung wird verfehlt, wenn man Gehirn und Umwelt oder Geist und Welt einander gegenüberstellt und dann in direkten Bezug zueinander bringen will. Das läuft in der Regel auf ein Abbildungs- oder Repräsentationsverhältnis hinaus, wie es in den Kognitionswissenschaften üblich ist. Doch erst über den Körper entsteht die dynamische Beziehung von Gehirn und Umwelt. In diesen Interaktionen wirkt das Gehirn aber in erster Linie als Organ der Vermittlung, der Modulation und der Transformation, etwa der Umwandlung von Wahrnehmung in Bewegung. Wir haben es nicht mit linearer (physikalischer), sondern mit zirkulärer, rückgekoppelter Kausalität zu tun, sowohl innerhalb des Organismus als auch im Verhältnis von Organismus und Umwelt.

Bewusste Zustände sind somit immer Zustände eines in seiner Umwelt aktionsfähigen organischen Gesamtsystems. Subjektivität beruht auf körperlicher Praxis: „Ich“ bin das Lebewesen, das sich an diesem Ort befindet, in dieser besonderen Tätigkeit engagiert ist, das entsprechende Vermögen entfaltet und sich darin als wirksam erfährt. Verkörpertes Bewusstsein ist an den sensomotorischen Gestaltkreis geknüpft, es konstituiert sich als ein Selbst-in-der-Umwelt, ein „ökologisches Selbst“. Diese Dimension der Subjektivität ist so eng verbunden mit der interaktiven Umweltbeziehung, dass ihre Grenzen nicht einmal notwendig mit denen des Körpers zusammenfallen: Beim geschickten Werkzeuggebrauch, etwa beim Klavierspielen oder Autofahren verleibt sich der Körper die Instrumente ein; der Blinde spürt den Boden an der Spitze seines Stocks, der Amputierte integriert die Prothese in sein Körperschema, so dass er sie wie sein eigenes Glied erlebt.

(3) Für die Entwicklung der spezifisch menschlichen Subjektivität bedarf es freilich nicht nur der allgemeinen Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt, sondern vor allem der Interaktion mit anderen. Auch sie bedeutet primär verkörperte Intersubjektivität oder, mit einem Begriff Merleau-Pontys, „Zwischenleiblichkeit“. So legen die Forschungen der letzten 1-2 Jahrzehnte nahe, dass die Fähigkeit des menschlichen Säuglings zur spontanen und genauen Imitation von intentionalen und expressiven Handlungen essenziell für das Verstehen anderer ebenso wie für die Entstehung von Selbstbewusstsein ist. Säuglinge sind von Geburt an in der Lage, Gesten von Erwachsenen wie Zunge zeigen, Mundöffnen, Stirnrunzeln u. a. zuverlässig nachzuahmen. Sie verfügen demnach über ein angeborenes intersubjektives Körperschema, das es ihnen ermöglicht, andere Körper von vorneherein als verwandt mit ihrem eigenen zu erfahren.

Diese Zwischenleiblichkeit ist auch die Basis für die weitere Entwicklung des Gehirns. Das Gehirn kommt ja nicht als fertiger Apparat auf die Welt, um sie zu erkennen, sondern es bildet sich erst in und an ihr. Mittels der neuronalen Plastizität, der Ausbildung der Synapsenstruktur vor allem in der frühen Kindheit, entwickelt sich das Gehirn zu einem Organ, das komplementär zu seiner Umwelt passt wie der Schlüssel zum Schloss. Das gilt nun insbesondere für die soziale Umwelt. Ohne Kommunikation, ohne das Angesprochen-Werden und die Spiegelung im Anderen würde das Kleinkind nicht zu einem Selbstbewusstsein gelangen. Das personale Selbst entwickelt sich erst im Durchgang durch die Perspektive der Anderen, also mit der Fähigkeit, aus dem eigenen Zentrum gleichsam herauszutreten und die Sichtweise anderer nachzuvollziehen. All dies beruht auf den ursprünglichen, leiblich-zwischenleiblichen Erfahrungen der frühen Kindheit, die fortwährend die Gehirnstrukturen des Kindes prägen und damit seine künftigen Beziehungsmuster. Das heißt: Der Geist ebenso wie die ihm zugrundeliegenden Hirnstrukturen sind wesentlich soziale und kulturelle Phänomene. Das menschliche Gehirn ist ein wesentlich sozial und geschichtlich konstituiertes Organ.

Das Gehirn als Transformationsorgan

Um die Rolle des Gehirns für bewusste Prozesse näher zu erfassen, müssen wir uns klar machen, welchen Vorteil denn eigentlich die Entwicklung von Subjektivität und Bewusstsein für das Leben darstellte. Die Aufgabe des Nerven-Sinnes-Systems ist es zunächst, Verknüpfungen von wiederkehrenden Reizen mit Reaktionen herzustellen. Das Zentrale Nervensystem fungiert also in der Evolution primär als Transformationsinstanz zwischen sensorischen und motorischen, oder afferenten und efferenten Prozessen.

Der entscheidende Vorteil des Bewusstseins ist es nun, dass es (1) komplexe Gruppierungen von Reizen zu immer umfassenderen Einheiten zu integrieren vermag, also ganzheitliche Wahrnehmungsgestalten erzeugt, und dass es (2) die Beziehung des Organismus zur Umwelt selbst darzustellen vermag, nämlich in Form von Bedeutungen –zum Beispiel in Gefühlen, die eine gegebene Situation insgesamt bewerten. Was ist nun die Rolle des Gehirns für das Bewusstsein? – Das Gehirn lässt sich als ein Organ der Transformation auffassen, das die Muster aus einzelnen Reizen in höherstufige Systemzustände umwandelt, d.h. in komplexe, synchronisierte neuronale Erregungsmuster, die den von uns erlebten ganzheitlichen Schemata oder Gestalten entsprechen. Dies sei an einem Wahrnehmungsbeispiel veranschaulicht (nur in der Printausgabe).

Nach einigen Augenblicken erkennen wir in der Ansammlung von Flecken einen Dalmatiner, d.h. wir sehen sie nicht mehr einzeln, sondern in ihrer Konfiguration zueinander als Dalmatiner. Das Gehirn hat also aus dem „Rauschen“ von Flecken oder Signalen ein Muster herausgefiltert, das unserem Erleben einer ganzheitlichen Gestalt entspricht. – Ein weiteres Beispiel (nur in der Printausgabe )

Diese schwarzen Linien sehen wir mit einem Blick als das Wort „Apfel“. Als Kinder jedoch lernten wir es zunächst aus den einzelnen Buchstaben zusammenzusetzen („A-p-f-e-l“); schließlich hatte unser Gehirn die Verknüpfungen gebildet, und heute übersetzt es automatisch die schwarzen Linien in das Muster „Apfel“. Es transformiert eine Folge von Einzelelementen in eine einheitliche, höherstufige Gestalt. – In umgekehrter Richtung gilt das Analoge: Das Gehirn transformiert auch unser bewusstes Erleben in körperliche Reaktionen, in Bewegungsimpulse für die Muskeln, d. h. in Handlungen. Wenn ich in einem Brief das Wort „Apfel“ schreiben will, setzen sich die dem gedachten Wort zugrundeliegenden Aktivitätsmuster automatisch in die entsprechenden motorischen Muster um.

Transformation bedeutet also: Das Gehirn ist in der Lage, Konfigurationen von Einzelelementen zu höherstufigen Ganzheiten, und das heißt zu Mustern neuronaler Erregungen zu integrieren, die den Gestalten unserer Wahrnehmungen bzw. Handlungen entsprechen. Damit wird das Gehirn zum Organ der Vermittlung zwischen der mikroskopischen Welt materiell-physiologischer Prozesse einerseits und der makroskopischen Welt von Lebewesen andererseits. Mittels des Gehirns, in dem die Elementarereignisse zu Ordnungsmustern zusammengefasst werden, eröffnet sich das Lebewesen den wahrnehmenden und handelnden Zugang zur Welt.

Das Bewusstsein als Integral der Organismus-Umwelt-Beziehung

Systemtheoretisch lässt sich die Transformation als Stabilisierung von Erregungsmustern auffassen, die sich selbstorganisierend in den grundsätzlich chaotischen Prozessen des ZNS bilden. Wiederkehrende Reizmuster werden mit der Ausbildung und Verstärkung entsprechender neuronaler Netze beantwortet. So entstehen im System "Attraktoren", d. h. vorgebahnte Muster hochkomplexer und synchronisierter neuronaler Aktivität, die jederzeit reaktivierbar sind. Sie müssen nicht auf ein umgrenztes Areal beschränkt bleiben, sondern können sich auch über weit entfernte Gehirnregionen erstrecken. Solche hochgeordneten Zustände können als die Grundlage von Gestaltbildungen im Bewusstsein betrachtet werden.
Bewusstes Erleben entspräche dann der höchsten Integrationsstufe der Hirnprozesse, lässt sich aber dennoch nicht auf sie begrenzen. Denn Bewusstsein ist die Beziehung des Lebewesens zu seiner Welt; es entsteht daher nur im übergreifenden System von Organismus und Umwelt, auf der Basis des Zusammenspiels vieler Komponenten, zu denen das Gehirn und der gesamte Körper mit seinen Sinnen und Gliedern ebenso gehören wie die passenden „Gegenstücke“ der Umgebung. Wahrnehmen und Handeln kommen nicht ohne ihre zugehörigen Objekte zustande; Gedanken, Gefühle, Wünsche erhalten ihren Sinn nur durch die Beziehung zu möglichen Gegenständen und anderen Personen. Grundlage des Psychischen ist daher nicht das Gehirn allein, sondern vielmehr ein übergreifender Lebensprozess, in den das Gehirn als vermittelndes Organ einbezogen ist.

Insofern enthält das Gehirn als solches tatsächlich nicht mehr Bewusstsein als etwa die Hände oder die Füße, auch wenn seine Funktionen dafür in besonderem Maß erforderlich sind. Nur das Lebewesen als ganzes aber ist bewusst, nimmt wahr oder handelt. Zentral notwendig für die Entstehung von Bewusstsein ist das Gehirn, weil in ihm alle Kreisprozesse zusammenlaufen und verknüpft werden, so wie die Gleise in einem Hauptbahnhof. Wird dieser zerstört, dann bricht der Zugverkehr freilich zusammen. Doch, um den Vergleich fortzuführen, der Zugverkehr wird weder vom Bahnhof erzeugt noch ist er dort zu lokalisieren. Er bedient sich vielmehr umgekehrt des Gleissystems mit seinen vielfältigen Weichen, Kreuzungen und natürlich seiner zentralen Koordinationsstelle im Hauptbahnhof, damit die Transportprozesse möglichst reibungslos ablaufen. Auch wenn sich also im Hauptbahnhof zweifellos eine hochgradige Gleisvernetzung und Zugdichte feststellen lässt (dies entspräche den im Gehirn messbaren neuronalen Aktivierungen bei bestimmten Tätigkeiten) – der Zugverkehr bleibt an das gesamte Streckensystem gebunden. Analog stellt die Bewusstseinstätigkeit das Integral der gesamten, je aktuellen Beziehungen zwischen Gehirn, Organismus und Umwelt dar.
Kausalität

Wenn das Gehirn als ein Transformationsorgan in systemischen Kreisprozessen aufzufassen ist, dann lässt sich dies nicht mehr mit dem klassischen, der Physik entnommenen Begriff der (Wirk-)Ursache erfassen. Weder wirkt der Geist auf Hirnprozesse ein, noch bringen Hirnprozesse Geist hervor; denn beide Seiten sind nur Aspekte des einheitlichen lebendigen Prozesses, der den Organismus in seiner Umwelt umfasst. Eine korrelative Beziehung zwischen erhöhtem Blutfluss in bestimmten Hirnarealen – wie sie die funktionelle Kernspintomographie misst – und einem von der Versuchsperson berichteten Bewusstseinszustand bedeutet also nicht, dass eine kausale Beziehung zwischen beiden Phänomenen vorliegt. Ebenso wenig sind sie freilich miteinander identisch, denn bewusstes Erleben umfasst immer mehr als das bloße Korrelat einer lokalisierten Hirnfunktion; es bezieht den gesamten aktuellen Zustand des Organismus in Beziehung zu seiner Umwelt ein. Neurobiologische Prozesse einerseits und psychologische Erlebnisse und Motive andererseits sind als zwei komplementäre Aspekte eines einheitlichen Geschehens zu betrachten, nämlich des Lebensvollzugs der Person.

Nehmen wir ein Beispiel: Was ist die Ursache des Errötens? – Somatisch in Betracht zu ziehen sind die zentralnervös ausgelöste vermehrte Durchblutung der Hautgefäße, ein vorübergehendes Ungleichgewicht der tropho- und ergotropen Funktionen im Zwischenhirn, eine Aktivierung im limbischen Kortex usw. Damit bleiben wir allerdings innerhalb der kausalen Verkettung physiologischer Prozesse, also in einer Ebene, auf der keinerlei Bedeutungen oder Motive auftauchen, die z. B. Scham oder Angst veranlassen können. Freilich ermöglichen bestimmte neuronale Prozesse die Gefühlserlebnisse. Doch Ermöglichung bedeutet nicht Verursachung, denn ebenso gilt umgekehrt, dass die lebensgeschichtlich geprägten, sinnhaften Erfahrungen die neuronalen Prozesse in ihrer spezifischen Form erst ermöglichen.

Denn aus lebensweltlicher Sicht würden wir zweifellos sagen: Das Erröten ist Ausdruck der Scham, die der Betreffende in einer peinlichen Situation erlebt; im Erröten manifestiert sich die Verkörperung der Subjektivität. Die Scham ist kein Innenzustand, sondern von ihrem körperlichen Ausdruck gar nicht zu trennen, ebenso wenig freilich von der Situation, auf die sie intentional gerichtet ist. Scham ist eine bestimmte Beziehung des verkörperten Subjekts oder der Person zu ihrer Umwelt. Sie umfasst die Gesamtheit aller Teilphänomene somatischer, motivationaler, subjektiver und intersubjektiver Art, denen jeweils sehr unterschiedliche Beobachtungsperspektiven entsprechen. Wir können das Geschehen zwar nur aspektdualistisch beschreiben, also aus zwei zueinander komplementären, nicht in einander überführbaren Perspektiven – einerseits als komplexe Verknüpfung physiologischer Teilprozesse, andererseits als lebensgeschichtlich zu verstehende Reaktion eines Menschen auf eine bestimmte interpersonelle Situation. Die Person des Beschämten aber verkörpert und umfasst alle diese Teilphänomene.

Betrachten wir dies noch an einem Beispiel aus der Psychiatrie:

Ein Psychopharmakon wirkt, wie wir sagen, z.B. „angstlösend“. Genau genommen wirkt es freilich nur auf biochemische Zustände des Gehirns ein, die mit der Erfahrung von Angst korreliert sind. Angsterleben taucht erst auf einer hochstufigen Integrationsebene auf, die von Psychopharmaka als solchen gar nicht erreicht wird. Umgekehrt würden wir nach einem beruhigenden Gespräch mit einem ängstlichen Patienten auch nicht sagen, unsere Worte hätten auf Synapsen in seinem limbischen System eingewirkt. Wir haben mit ihm gesprochen, nicht mit seinen Synapsen. Im Gehirn ist jedoch sein intentionales Erleben von menschlicher Nähe und bestimmten Wortbedeutungen, entsprechend einem hochstufigen neuronalen Systemzustand in kortikalen Zentren, „nach unten“ transformiert worden, nämlich z. B. in veränderte Rezeptorbindungen im limbischen System (siehe Schema S. 24).

Wirkungen von Psychotherapie und Psychopharmakotherapie unter (inter-)subjektivem und biologischem Aspekt. Die beiden Kreise in der Mitte (∞) bezeichnen Korrespondenz, „Konkomitanz“ bzw. konkordante Veränderungen in beiden Aspekten; es besteht keine Wirkursächlichkeit zwischen ihnen. Somit ist die biologische Wirkung von Psychotherapie vermittelt durch mit ihr verknüpfte neuronale Prozesse höherer Stufe, die in Veränderungen auf basaler Stufe (Transmitter-Biochemie, synaptische Verschaltungen, Genexpression) transformiert werden. Umgekehrt wird die biochemische Wirkung von Psychopharmaka in Veränderungen auf höherer neuronaler Stufe umgewandelt, die einem veränderten subjektiven Erleben entsprechen. Psychopharmaka erscheinen jedoch ebenso auf der linken Seite des Schemas, da sie auch in der Dimension von (inter-)subjektiver Erfahrung und Bedeutung wirksam sind, bekannt als Placebo-Effekt.

Dementsprechend ist inzwischen längst nachgewiesen, dass eine erfolgreiche Psychotherapie die Mikrostruktur des Gehirns verändert und ähnliche neurobiochemische Veränderungen hervorruft wie Psychopharmaka. Das ist an sich nicht überraschend – auch psychische Wirkungen müssen sich freilich verkörpert, also vermittelt über physiologische Prozesse vollziehen. Die Transformation verläuft nur bei der Psychotherapie „top-down“, sozusagen vom Verstehen zur Biochemie, beim Psychopharmakon hingegen „bottom-up“. Transformation bedeutet aber keinesfalls äußerliche Kausalität oder dualistische Interaktion zweier Welten. Von einer Verursachung können wir streng genommen nur jeweils innerhalb eines Aspektes sprechen: von einer psychologischen Verursachung bezogen auf die Verknüpfung von Erlebnissen, Motiven und Handlungen, und von einer biologischen Verursachung bezogen auf die beteiligten neuronalen Mechanismen. Auch wenn wir die Einheit beider Aspekte im Lebewesen, in der lebendigen Person annehmen müssen, bleiben sie doch voneinander geschieden wie die zwei Münzen einer Medaille, von denen keine auf die andere wirkt.

Fazit

Bei all seinen faszinierenden Leistungen ist das Gehirn doch kein Weltschöpfer, sondern in erster Linie ein Organ der Vermittlung, der Transformation und der Modulation. Es ist eingebettet in die Beziehungen des Organismus zu seiner Umwelt und in die Beziehungen des Menschen zu anderen Menschen. Es nimmt sie auf und ermöglicht sie, ohne sie jedoch hervorzubringen. Durch seine hochgradige Plastizität wird es zur Matrix für die Erfahrungen des Menschen, die sich in den neuronalen Strukturen als Grundlage seiner Fähigkeiten niederschlagen. Somit ist das Gehirn das „Organ der Möglichkeiten“ – doch realisieren kann diese Möglichkeiten nur das Lebewesen, die Person als ganze.

Wenn Subjektivität nicht ein abstrakter Innenraum ist, sondern nur verkörpert, lebendig und in die Welt eingebunden existiert, so kann ich sie nicht erfassen, indem ich bestimmte physiologische Trägerprozesse im Gehirn beschreibe. Ein bestimmter Hirnzustand ist die notwendige Bedingung dafür, in einem bewussten Zustand zu sein, aber welchem Zustand dieser Hirnzustand entspricht, ist nicht hinreichend durch seine Mikrostruktur bestimmt, sondern darüber hinaus durch seine konkreten Beziehungen zur Umwelt. Erst durch diese Beziehung von Subjekt und Umwelt können Hirnzustände zu Trägern von psychischen Prozessen werden. – Daraus folgt übrigens auch für psychisches Kranksein, dass es sich nicht vollständig in Hirnzuständen beschreiben lässt. Wie alle subjektiven Erlebnisformen ist es nicht im Kopf lokalisierbar, sondern nur aus dem „Zwischen“ von Subjekt und Welt, oder von Gehirn, Körper und Umwelt zu begreifen.

Wenn das Subjekt nun nicht im Gehirn ist, wo dann? Ich, das bewusste, erlebende und handelnde Subjekt befinde mich nicht im Gehirn, sondern immer genau dort, wo auch mein lebendiger Körper mit all seinen biologischen Funktionen ist, die meine bewussten Zustände und Handlungen ermöglichen und hervorbringen. Ich bin ein lebendiges, verkörpertes Wesen, das heißt aber zugleich, ich bin nicht an einem umgrenzten Ort, sondern immer über meinen Körper hinaus, in Beziehung zur Welt und zu anderen.

UNSER AUTOR: Thomas Fuchs ist Inhaber der Karl-Jaspers-Professur für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg.
Von der Redaktion gekürzter Text.