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DISKUSSION

Religion: Lässt sich Gottes Existenz einsehen?

aus Heft 5/2010


Herr Schmidt-Salomon, warum lässt die Naturwissenschaft Ihrer Meinung nach keinen Raum für einen vernünftigen Glauben an Gott?

Schmidt-Salomon
: Die Naturwissenschaft zeigt bloß Fakten auf, die Konsequenzen daraus ziehen Philosophen, Sozial- und Geisteswissenschaftler. Ich selbst tue das auf der Grundlage des Naturalismus. Dieser nimmt an, dass es im Universum mit rechten Dingen zugeht, dass keine Götter, Kobolde, Dämonen, Teufel in die Naturgesetze eingreifen. Alles, was in der Welt ist, hat also natürliche Ursachen. Dies ist ein in den Wissenschaften sehr fruchtbarer Denkansatz. Und ich meine, dass er auch fruchtbar ist, wenn man Weltanschauungen beurteilt. Der Glaube an Gott führt hier zu einer „intellektuellen Schizophrenie“: Man kann, wie ich meine, nicht sechs Tage in der Woche Naturalist sein, naturwissenschaftlich denken, Logik und Empirie beherzigen – und am Sonntag all diese Denkprinzipien wieder fallenlassen.

Heißt das aber nun, dass wir aus Erkenntnissen der Wissenschaften ableiten können, dass es keinen Gott gibt?

Schmidt-Salomon
: Ein unvorstellbarer Gott wie der Spinozas oder Meister Eckarts könnte durchaus existieren, der Gott des Katechismus der katholischen Kirche aber wohl eher nicht.

Warum?

Schmidt-Salomon: Das widerspräche all unseren Erkenntnissen, denn die Evolutionshypothese ist atemberaubend gut belegt! Wenn ein Gott tatsächlich das Ziel gehabt haben sollte, den Menschen zu erschaffen, so hätte er ja eine völlig groteske Arbeitsweise an den Tag gelegt! Er hätte über Jahrmillionen Dinosaurier leben lassen und dann vor 65 Millionen Jahren einen riesigen Gesteinsbrocken auf die Erde geworfen, damit die Dinosaurier wieder aussterben und ein paar rattengroße Säugetiere überleben, aus denen sich Jahrmillionen später verschiedene Menschenarten entwickeln. So eine Arbeitsweise wäre kein Ausdruck von intelligentem Design, sondern von blinder Konzeptlosigkeit! Keine Grafikagentur würde einen Designer mit einer solch verheerenden Kosten-Nutzen-Bilanz einstellen.

Splett: Ich bin mit Ihrer Definition des Naturalismus nicht einverstanden. Sie haben das gleich aufs Natürliche im Gegensatz zum Übernatürlichen gedreht. Aber darum geht es ja nicht. Was Sie eigentlich meinen, nannte man früher Materialismus. Soll heißen: Es gibt den Geist nicht, es gibt das Selbst nicht, es gibt nur das Gehirn. Das heißt, wir sind nicht bei der Frage von Natur und Übernatur. Das ist getrickst. Sondern wir sind bei der Frage, wie wir uns zur Welt verhalten, was wir an ihr erkennen können.

Was ist Ihrer Meinung nach der Haupteinwand gegen den Naturalismus?

Splett: Der Naturalismus fragt nur nach dem Entstehen, dem Werden. Der Philosoph fragt: Was ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass so etwas entstehen kann. Das ist eine Stufe davor. Sie haben gesagt, die Evolution sei eine Hypothese. Das ist sie, weil es die prinzipielle Arbeitsweise der Naturwissenschaften ist, etwas nur solange als gültig zu behaupten, bis es widerlegt ist. Das darf man aber nicht auf alles Wissen anwenden. Für die Mathematik gilt es schon nicht mehr. Ich vermute nicht, dass der Satz des Pythagoras wahr ist. Das habe ich eingesehen. Und er galt gestern und gilt übermorgen: Es gibt Dinge, die wissen wir, ohne sie bloß zu vermuten.


Schmidt-Salomon: Da haben Sie Recht. Aber wie kommt das? Schon kleine Kinder verfügen über ein gewisses naturalistisches Grundverständnis, wie man bei Untersuchungen an Babys festgestellt hat. Fällt der Ball erwartungsgemäß nach unten, schauen sie nicht groß hin, rollt er aber nach oben, so sind bereits sehr junge Kinder erstaunt. Das entspricht den Erkenntnissen der evolutionären Erkenntnistheorie: Ein gewisses Erfahrungswissen ist uns biologisch mitgegeben wie die Fähigkeit, bestimmte Sprachen zu erlernen. Wir haben Voraussetzungen dafür, dass Einsichten möglich sind. Und auf dieser Basis lernen wir kulturell weiter.

Splett: Aber es bleibt die Frage: Ist die Einsicht ein Ergebnis der Evolution? Nein! Sondern ein entsprechend evolviertes Gehirn sieht ein, dass das Quadrat über der Diagonale doppelt so groß ist wie das Quadrat, dessen Diagonale es ist. Das wird eingesehen, da wird sich nicht dran gewöhnt, mit Erstaunen, wenn es anders ist. Wie erklären Sie sich das? Was macht ein Naturalist mit Einsicht?

Schmidt-Salomon: Worin soll das Problem eines Naturalisten mit Einsicht bestehen?

Splett: Einsicht heißt, dass etwas erkannt wird, was nicht nur Vermutung ist, die sich vielleicht ändert wie in den Naturwissenschaften, wenn ich eine bessere Erklärung finde. Sondern ich weiß, das war so und das ist immer so und das wird immer so sein – und zwar nicht aus Gewöhnung, sondern aufgrund von Einsicht. Gewöhnung liegt im Subjekt: Wenn ich die Leute frage, nenne eine Zahl zwischen eins und fünf, nennt die überwiegende Mehrzahl drei. Wenn man nach einer Farbe fragt, sagt die überwiegende Mehrzahl rot. Das sind Notwendigkeiten des Subjekts. Hier geht es mir darum, dass es sich um eine Notwendigkeit von Seiten des Objekts handelt. Das heißt, hier liegt Sachlichkeit vor; unabhängig von mir sehe ich: Das ist nicht bloß so, sondern das kann gar nicht anders sein.

Herr Schmidt-Salomon, ist Einsicht das schlagende Argument gegen einen Naturalismus als Totalerklärungsmodell, weil sie eine evolutionär nicht erklärbare Notwendigkeit in der Welt erkennt?

Schmidt-Salomon
: Nein, denn Einsicht ist nur ein profaner Denkvorgang, sie beruht auf einem tiefgreifenden Verständnis eines Problems. Ich habe eine Problemlösung gefunden, das ist Einsicht.

Splett: Nein, Einsicht ist keine Problemlösung, sondern ich sehe ein, wie etwas ist. Hier geht es nicht um Problemlösungen. Es geht um die reine Theorie.

Schmidt-Salomon: Jetzt müssen wir darüber diskutieren: Woher können wir wissen, was ist? Ich gehe von einem hypothetischen Realismus aus: Wir haben keinen Eins-zu-eins-Zugang zur Wirklichkeit, wie sie an sich ist, sondern nur ein Modell dessen, was ist. Die Wirklichkeit existiert auch losgelöst von unseren Modellen der Wirklichkeit, aber wir sind nicht in der Lage, das, was wir als Modell für uns entwickelt haben, an der Wirklichkeit an sich zu überprüfen.

Splett: Um ein Modell zu machen, müssen Sie ja schon etwas erkannt haben. Woher machen Sie sonst ein Modell? Mich interessiert dieser Erkenntnisakt vor dem Modell. Natürlich ist die Wirklichkeit etwas anderes als wir sehen. Die mittelalterlichen Denker – die haben nämlich auch gedacht – sprechen davon, dass Erkenntnis das Kind von Subjekt und Objekt ist. Wir wissen nicht, wie Rosen aussehen, wenn wir nicht hingucken. Aber es ist auch eine Aussage über Rosen, dass sie rot sind, wenn wir hingucken. Also: eine Aussage ist da. Und jetzt macht man ein Modell. Sie haben den ersten Schritt übersprungen und gesagt: dort ist die unerreichbare Wirklichkeit und hier bastele ich an meinen Modellen.

Schmidt-Salomon: Aber Sie werden losgelöst von Ihren Modellen der Wirklichkeit eine Rose nicht anschauen können. Wir haben biologisch vorgeprägte Modelle der Wirklichkeit im Kopf, die dann kulturell überformt werden. Sie werden keinen Menschen finden, der ohne Modell an die Wirklichkeit herangeht.

Splett: Natürlich. Weil er immer schon lebt – er hat ja schon Erfahrungen gemacht. Nur: Folgt aus der Tatsache, dass wir immer schon in gewissen Strukturen an die Dinge herangehen wirklich, dass wir nichts über die Wirklichkeit aussagen können? Nein. Dass die Summe der Kathetenquadrate gleich dem Hypotenusenquadrat ist, das behaupte ich Engeln und Göttern gegenüber und allen Tieren und den Naturalisten gegenüber erst recht.

Sie sagen, Herr Schmidt-Salomon begeht einen Kategorienfehler, indem er die Ebene von Genese und Geltung vermischt.

Splett
: Ja.

Schmidt-Salomon: Das bestreite ich natürlich.

Lassen Sie uns das Ganze, was wir jetzt erarbeitet haben, anwenden auf die Frage nach Gott. Kann ich die Existenz Gottes einsehen wie den Satz des Pythagoras?

Splett
: Nicht in derselben Weise. Ich erfahre Gott ja nicht unmittelbar, sondern ich erfahre diese Welt hier. Und Gotteserfahrung machen heißt nun, die Erfahrung der Welt als Gotteserfahrung lesen. Diese Deutung muss ich übrigens immer schon vornehmen. Wenn ich einen Menschen anblicke, dann sehe ich von außen ein Gesicht, sehe Gallertkugeln oder Hauptlappen. Dann gehe ich einen Schritt weiter und sage: Nein, das sind Augen und was dort blickt, ist die Seele des anderen.

Gott lässt sich also nicht einsehen wie ein mathematisches Problem, weil er als personales Gegenüber erfahren wird.

Splett
: In der Tat. Aber meine Erfahrungsdeutung kann ich begründen. Wenn man nicht an Physik oder Kriminalkommissare denkt, sondern an Freundschafts- oder Liebesbeweise, lässt sich durchaus von Gottesbeweis sprechen. Ich sollte an dieser Stelle vielleicht auch die Unterscheidung zwischen natürlicher und übernatürlicher Theologie einführen. Übernatürliche Theologie beruht auf der Selbstoffenbarung Gottes. Das ist auch ein Wissen, aber eines, das mir Gott selbst eröffnen muss. Die Menschwerdung zum Beispiel. Das ist die eigentliche christliche Theologie. Natürliche Theologie aber steht seit Platon jedem denkenden Menschen offen. Hierher gehören die Gottesbeweise.

Wie funktionieren die?

Splett: Anders als eine naturwissenschaftliche Hypothese. Da läuft es immer nach demselben Muster ab. Ich habe das Phänomen, ich nenne das mal Welt. Das ist erklärungsbedürftig. Und jetzt suche ich nach einem Grund dafür. Urknall zum Beispiel. So weit, so gut. Und dann meinen die Leute, man könnte ja stattdessen auch Gott vorschlagen: Wenn Gott, dann Welt. Aus der Ursache folgt die Wirkung. Die Logik nennt das „modus ponens“. Ich setze meinen Gott, das ist meine Idee, und dann, denke ich, käme die Welt heraus. Das ist aber nicht das, was die klassische Metaphysik oder der Glaube macht. Die argumentieren anders. Hier gehe ich von der Einsicht aus, dass es, wenn es überhaupt etwas gibt, Absolutes, Selbstnotwendiges gibt. Nehme ich das Absolute weg, ist auch nichts anderes da („modus tollens“). Noch näher beim Menschen ist die Erfahrung von Unbedingtheit. Das „Sollen“ der sittlichen Erfahrung beispielsweise. Ich erfahre nicht nur, dass ich Emotionen habe, sondern ich erkenne, dass von mir – mit Kant gesagt – unbedingt verlangt wird, niemanden bloß zum Mittel zu machen. Das sehe ich schlechterdings ein und sehe es so ein, dass ich zugleich mit einsehe, dass das über Rassen- und Klassenschranken hinweg gilt, dass es für jedes freie Bewusstsein gilt. Ich gehe aus von der Erfahrung im Gewissen, dass ich mich verpflichtet sehe, der Wahrheit die Ehre zu geben. Ich vernehme das: Du sollst. Und frage jetzt: Wie kann es sein, dass ein begrenzter, bedingter Mensch unbedingt verpflichtet wird? Nur Personen sollen. Und das Woher solch einsichtigen Sollens kann selbst nur personal sein. Und dem nun reserviere ich den Namen Gottes. Gott ist das Wovon-her meines Unbedingt-Gutsein-sollen-Dürfens. Woher sollte diese sittliche Verpflichtung sonst kommen? Aus der Evolution? Natürlich nicht: Da wird nicht gesollt, da gibt es nur Fakten.

Schmidt-Salomon: Ich finde es problematisch, bei solchen Fragen auf das Konzept „Gott“ zurückzugreifen. Schließlich setzen sich Menschen wie ich entschieden für die Universalität der Menschenrechte ein, ohne hierfür irgendeinen Gottesbegriff zu bemühen! Es entstehen sogar immense Probleme, wenn man die Definition ethischer Normen in einen metaphysischen Raum verschiebt und von einem Gott spricht, der angeblich das Gute gebietet und das Böse verwirft. Ein Blick in die Welt genügt, um festzustellen, dass es kaum etwas Relativeres gibt als diese angeblich absoluten Werte der Religionen.

Splett: Das bestreite ich natürlich. Es gibt falsche Gottesbilder und falsche Vorstellungen von Gottes Willen. Meine Gottes-„Definition“ habe ich eben gegeben.

Schmidt-Salomon: Die jüdische Siedlerbewegung, Hamas, Hisbollah, George W. Bush, Osama bin Laden: Hier haben Sie lauter Vertreter des absolut Guten, die im jeweils anderen das absolut Böse bekämpfen. Relativer als das geht’s gar nicht!

Aber das wäre doch schon die Ebene der Anwendung. Bleiben wir doch noch im Grundsätzlichen. Wie erklären Sie sich das Gut-Sein-Sollen?

Schmidt-Salomon
: Durch die Evolution. Mehr als andere Primatenarten kann sich der Mensch in seinesgleichen hineinversetzen. Warum? Weil es in der Evolution Selektionsvorteile für Empathie gab, da derjenige, der weiß, wie er seine Kumpane einzuschätzen hat, sich in der sozialen Gruppe besser durchsetzen kann. Auf diese Weise wurde auch das kooperativ-altruistische Verhalten innerhalb der Gruppe gefördert, was leider zugleich mit einer scharfen Abgrenzung gegenüber Nichtgruppenmitgliedern verbunden war. Schon bei Schimpansen gibt es diese eigentümliche Doppelmoral nach dem Motto: „Willst du nicht mein Bruder sein, schlag ich dir den Schädel ein!“ Die Abgrenzung vom Fremden wurde tragischerweise in unserer kulturellen Evolution durch das Setzen absoluter Gruppennormen verschärft. Das ist der Grund, weshalb ich gegen diese absolut gesetzten moralischen Werte eintrete und für eine altruistische Ethik plädiere. Wenn ich weiß, dass der andere ein Mensch mit menschlichen Hoffnungen, Träumen, Wünschen, Bedürfnissen ist, wenn ich ihn eben nicht als „Agent des Bösen“ depersonalisiere, bin ich eher bereit, ihn in einem Interessenskonflikt fair zu behandeln.

Aber wie kommt die Verpflichtung in die Emotion?

Schmidt-Salomon
: Es wäre selbstverständlich ein naturalistischer Fehlschluss, wenn wir sagen würden, wir haben Spiegelneuronen und müssen deshalb jetzt Menschenrechte definieren. Diesen Übergang vom Sein zum Sollen sollten wir als einen normativen Sprung begreifen.

Splett: So ist es. Was aber ist die Bedingung der Möglichkeit für diesen Sprung? Wo kommt die Einsicht her, dass man unbedingt, um jeden Preis, und sei es das eigene Leben, der Wahrheit die Ehre geben soll und Personen zu respektieren hat? Dass das begleitet wird von Emotionen, ist völlig wahr. Und auch Ihren evolutionären Altruismus schenke ich Ihnen. Woher aber kommt das „Du sollst“?

Schmidt-Salomon: Wir sollten hier darüber sprechen, wie die Attentäter vom 11. September zu ihrer „Einsicht“ kamen, die unserer Einsicht so völlig widerspricht.

Splett: Das ist falsch gefragt. Man muss eben nicht untersuchen, wie falsche Überzeugungen zustande kommen, sondern ich würde methodisch erst mal fragen: Wie kommen richtige Einsichten zustande?

Schmidt-Salomon: Sie erscheinen uns doch nur von unserer Tradition aus als richtig oder falsch. Wir sind von einer Tradition geprägt, die dem Individuum, der Freiheit, dem Selbstbestimmungsrecht größere Bedeutung zumisst. Der Anführer der Terroristen vom 11. September, Mohammed Atta, hatte hingegen die fatale Einsicht, dass der Terroranschlag ein Dienst an seiner Religion sei. Aus seiner Perspektive war der 11. September eine altruistische Tat.

Splett: Was ich nicht verstehe, ist, wie Sie rational sagen können, was Sie eben gesagt haben. Auf der einen Seite sagen Sie, dass alles durch die Tradition bestimmt sei, und dann sagen Sie andererseits, der andere hat eine andere Einsicht, statt zu sagen, der andere hat eine andere Meinung. Er hat eine andere Ansicht, aber keine andere Einsicht.

Herr Schmidt-Salomon, mit welchem Recht würden Sie Mohammed Atta daran gehindert haben, das Flugzeug in das World Trade Center zu lenken? Mit kulturimperialistischem?

Schmidt-Salomon
: Weil ich die Tradition der Menschenrechte höher setze als seine Tradition. Aber ich bin nicht selbstgerecht ihm gegenüber, ich werfe ihm nicht vor, böse zu sein. Schließlich weiß ich, dass ich unter anderen Voraussetzungen genauso geworden wäre wie Mohammed Atta. Dennoch haben wir das gute Recht und auch die Pflicht, die Attas dieser Welt zu bekämpfen. Aus einer bestimmten Perspektive wird dieser notwendige Einsatz für die Menschenrechte leider als Kultur-Imperialismus verstanden.

Splett: Ja natürlich. Aber doch nicht zwischen uns. Was soll also die Diskussion? Sie sagen zu Recht: So sehr ich kulturell geprägt bin, so sehr bin ich doch verpflichtet, nicht in meinem kulturellen Umfeld stehen zu bleiben, sondern das Ganze in den Blick zu nehmen. Und jetzt weigern Sie sich, mir diesen Widerspruch zuzugeben.

Schmidt-Salomon: Weil es sich hierbei nicht um einen Widerspruch handelt! Atta ist im Unterschied zu uns in einer Tradition der Denkverbote aufgewachsen. Deshalb konnte er sich mit unserer Tradition nicht so intensiv auseinandersetzen, wie wir uns mit seiner beschäftigen. Zwar akzeptieren selbst Fundamentalisten bestimmte Errungenschaften der Moderne, etwa die Techniken, die auf Basis von Logik und Empirie entstanden sind. Aber sie akzeptieren nicht, dass diese Prinzipien auf ihre Weltanschauung angewandt werden. Dieses Phänomen der „halbierten Aufklärung“ meine ich auch in der katholischen Kirche beobachten zu können. Auch hier wird anerkannt, dass man mit Logik und Empirie auf vielen Gebieten weiterkommt, doch für den Kernbestand der eigenen Weltanschauung soll das bitte nicht gelten.

Splett: Aber Herr Schmidt-Salomon, das ist jetzt Unfug. Wieso soll die Logik nur ein Instrument für technische Wissenschaften sein? Sie gilt selbstverständlich auch für den Glauben an Gott und für den übernatürlichen Glauben an Jesus Christus als den Herrn.

Das ist eine gute Überleitung. Jetzt würde ich das gerade auf die Frage nach Gott anwenden wollen. Was hat der Glaube mit Logik und Vernunft zu tun?

Splett
: Dass Glaube nicht heißen kann, „credo quia absurdum, ich glaube, weil es widersinnig ist“. Aber mein Verdienst besteht darin, das zu glauben. Selbstverständlich müssen wir uns mit Paulus um eine vernünftige Gottesverehrung bemühen. Das steht im Römerbrief. Und um nichts kämpft Papst Benedikt so wie um die Vernunft im Glauben.

Schmidt-Salomon: Aber der Glaube berücksichtigt nicht die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften. Nehmen wir das Beispiel Evolutionsbiologie. Es wird immer noch davon ausgegangen, dass Gott den Menschen erschaffen und sich ausgerechnet in unserer Primatenart inkarnieren wollte.

Splett: Wo ist da jetzt der logische Widerspruch?

Schmidt-Salomon: Wenn Gott tatsächlich das ganze Universum und den Menschen als Krönung erschaffen hätte, dann wäre die Art und Weise, wie die Evolution abgelaufen ist, hochgradig irritierend.

Splett: Irritierend akzeptiere ich.

Schmidt-Salomon: Ich frage mich, wo da noch Raum für den Schöpfungsglauben sein soll. Das ganze Werden des Lebens auf der Erde ist ein Zickzack-Kurs auf dem schmalen Grat des Lebens. Es zeigt überhaupt keine Richtung! Zudem wissen wir, dass die Menschheit irgendwann einmal ebenso untergehen wird, wie so viele Spezies vor uns – wir sind also gewissermaßen die Neandertaler von morgen! Warum soll sich ein allmächtiger, allwissender Gott ausgerechnet in dieser zufällig entstandenen, vorübergehenden Lebensform inkarnieren? Ich halte das für eine ziemlich größenwahnsinnige Idee.

Splett: Das ist auch mein Ding. Die Schrift sagt dazu Ärgernis. Ich habe aber gefragt, wo der Widerspruch ist.

Schmidt-Salomon: Der Widerspruch besteht darin: Wir haben mit der Evolutionstheorie ein sehr fruchtbares Erklärungsmodell, das von Zufall und Notwendigkeit ausgeht – und nicht, wie der Katechismus der Katholischen Kirche, von einem allmächtigen Schöpfer.

Splett: Es wäre schön, wenn Sie einen Unterschied machen würden zwischen Widersprüchen und Unvereinbarkeit.

Schmidt-Salomon: Es gibt Widersprüche, die unvereinbar sind.

Splett: Jeder Widerspruch ist unvereinbar. Widerspruch heißt a und nicht a. Doch nicht jede Unvereinbarkeit bedeutet einen Widerspruch. Unvereinbar heißt: Ich habe zwei Sätze, von denen ich nicht zeigen kann, wie ich sie zusammendenken kann, obwohl ich jeden Versuch, mir einen Widerspruch nachzuweisen, abweisen kann. Das verwendet zum Beispiel die christliche Theologie für die Trinitätslehre. Gegen unsere primitiven Vorstellungen, drei kann nicht eins sein und eins kann nicht drei sein, wird hier erklärt, dass es zwar keiner von uns zusammenbringt, wie ein Gott in drei Personen existieren kann, aber dass jeder Versuch, mir einen logischen Widerspruch nachzuweisen, scheitert.

Schmidt-Salomon: Ich frage Sie: Was ist das für eine Vorstellung von einem Gott, der eine Natur erschafft, in der Vergewaltigung, Kindstötung der Regelfall ist, in der alles, was einem guten katholischen Herzen widerstrebt, schon von niederen Spezies getan wird? Das lässt sich doch nun wirklich logisch nicht miteinander vereinbaren – es sei denn, ich unterstelle, dass sich der liebe Gott mit seiner Schöpfung einen makabren Scherz erlaubt hat.

Splett: Es ist schon mal gut, dass Sie sagen, das lässt sich nicht vereinbaren. Da treffen wir uns. Tatsächlich gibt es keine zufriedenstellende Antwort auf die Theodizee-Frage. Sondern die Frage ist jetzt nur: Fange ich damit an zu erklären, was falsch und schief ist, oder erkläre ich erstmal, was wahr ist und warum es wahr sein soll.

Herr Schmidt-Salomon, macht das für Sie einen Unterschied? Sehen Sie irgendeinen Einfallspunkt, durch den Gott in Ihr Denken kommen könnte?

Schmidt-Salomon
: Im Prinzip mache ich es Gott ganz leicht! Ich frage mich wirklich, was für einen PR-Berater der christliche Gott haben müsste, wenn er denn existierte. Wenn Gott tatsächlich wollte, dass wir an ihn glauben, warum tritt er denn nicht als brennender Dornbusch in der UNO auf? Warum schreibt er nicht an den Himmel: „Liebe Leute, glaubt an mich und alles wird gut!“? Stattdessen lässt er seinen Sohn von der römischen Besatzungsmacht als einen von Tausenden von Menschen, die da gekreuzigt worden sind, hinrichten und sagt sich: „Na ja, die Leute werden schon den richtigen Schluss daraus ziehen!“ Das ist eine sehr merkwürdige Vorstellung. Es erscheint nur all jenen nicht als verrückt, die in dieser Tradition aufgewachsen sind. Also: Ein allmächtiger, allgütiger Gott könnte es uns sehr leicht machen. Aber er macht es nicht! Er zeigt sich nicht. Und selbst bei seiner angeblichen Schöpfung hat er grob gepfuscht! Schließlich ist die Natur voller Pleiten, Pech und Pannen! Kurzum: Es ist überhaupt nichts zu erkennen, was auf einen allmächtigen, allgütigen, allwissenden Gott schließen lässt.

Herr Splett, machen es sich Christen vielleicht wirklich zu leicht?

Splett
: Nein, von Paulus an nicht. Er hat genau gewusst, dass die Menschwerdung Gottes und die Kreuzigung für Heiden wie für Juden ein Ärgernis ist. Wir Christen fragen uns ja auch: Warum zeigt er sich nicht besser? Die Frage ist, ob Deutlichkeit nur auf der Seite des Objekts zu liegen hat, oder nicht auch auf der Seite des Subjekts. Ein Beispiel: Wie zeige ich denn deutlich, dass ich jemanden mag? Verwöhne ich ihn dann maßlos, oder zeige ich ihm es daran, dass ich mich zum Beispiel mit dem besseren Ich in ihm verbünde und ihm helfe, gegen seinen inneren Schweinehund zu kämpfen. Der andere wird das vielleicht als gar nicht nett empfinden. Das heißt, ich kann Wohlwollen auch nicht so deutlich zeigen, dass es vollkommen unzweideutig wird. In einer personalen Beziehung kann man mit unbeantwortbaren Fragen leben – nicht mit Widersprüchen. Das gilt analog für die Beziehung zu Gott.

Aber kann diese Beziehung des Menschen zu Gott nicht auch krank machen? Das Buch „Gottesvergiftung“ von Tilman Moser beispielsweise beschreibt diese Pathologien des Religiösen.

Splett
: Natürlich kann Religion krank machen. Gott nicht. Weil wir uns zu Gott aber nur über Vorstellungen verhalten können, die uns vermittelt werden und diese Vorstellungen falsch sein können, deshalb können sie auch krank machen. Religion kann dem Leben helfen, wenn es ein gutes Gottesbild ist, und sie kann den Menschen verletzen und zerstören, wenn es ein falsches Gottesbild ist.

Schmidt-Salomon: Hier können wir uns treffen! Selbst Richard Dawkins hat sich ja als religiös im Einsteinschen Sinne definiert. Auch ich habe kein Problem mit dem Religionsbegriff Schleiermachers, der Religion als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ begriff. Viele Religionskritiker kennen diesen „Geschmack“ sehr gut! Und auch deshalb versuchen sie, falsche Vorstellungen zu entlarven. Im Grunde könnte man uns als radikale Befürworter des jüdischen Bilderverbots betrachten.

Splett: Natürlich bedeutet Bilderverbot nicht, dass es Gott nicht gibt oder er ein großes X sei. Sondern er ist das Wovon-her meines unbedingten Gut-sein-sollen-dürfens. Alle Verzeichnungen des Gottesbildes sind deshalb kein Einwand gegen die Frage nach dem Ursprung des Guten: Wenn es Gott gibt, woher das Übel und das Böse? Ich weiß es nicht. Aber die Gegenfrage lautet: Woher das Gute, wenn es Gott nicht gibt?

Schmidt-Salomon: Was müsste eigentlich noch passieren, damit ein gläubiger Mensch wie Sie die Hypothese Gott aufgeben könnte?

Splett: Gott ist keine Hypothese, weil Aussagen über seine Existenz oder Nichtexistenz nicht auf der Ebene der Naturwissenschaften liegen. Ich erfahre ihn – oder nicht – als personales Gegenüber. Und deswegen weiß ich nicht, ob ich morgen noch glauben werde oder nicht. Ich bete immer darum, dass mir mein Glaube erhalten bleibt. Es ist ja im zwischenmenschlichen Bereich ähnlich. Ich weiß auch nicht, was meine Frau anstellen muss, damit unsere Ehe auseinandergeht. So ist es mit Gott auch.

Schmidt-Salomon: Im einen Fall ist es eine reale Person, mit der die Beziehung auseinandergeht. Im anderen Fall muss man sich fragen, ob es den imaginären Freund überhaupt gibt.

Splett: Natürlich gibt es den für mich.

Schmidt-Salomon: Das bestreite ich nicht! Aber wie unterscheidet sich dieser imaginäre Freund vom imaginären Freund von Leuten, die psychiatrisch behandelt werden?

Splett: Ihre Frage ist völlig falsch gestellt. So fragt man nicht jemanden, der in einer personalen Beziehung steht. Wenn es natürlich bloß darum ginge, dass ich Gott als Theorie benützte, dann hätten Sie recht. Wenn bei einer Theorie zu viele offene Fragen bleiben, muss ich mich nach einer besseren umtun. Irgendwann geht man eben dann vom ptolemäischen System zum kopernikanischen System über. Das sehe ich auch so. Aber mit dem Gottesglauben ich bin ja nicht auf der Ebene einer naturwissenschaftlichen Hypothese.

Schmidt-Salomon: Und genau das ist es, was ich als das große Problem der Religion sehe: die Beliebigkeit. Deswegen kann ich auch einen Mohammed Atta nicht überzeugen, deswegen können Menschen die absurdesten religiösen Vorstellungen behaupten. Diese Resistenz gegen wissenschaftliche Argumente macht die Sache so gefährlich.

Splett: Natürlich ist es gefährlich. Plato sagt: Alles Schöne ist gefährlich. Würde man das runterfahren, bliebe ein merkwürdig flacher Aufklärungshumanismus übrig.

Schmidt-Salomon: Der ist nicht flach! Er ist menschenfreundlich und humorvoll. Und er ist in einer anderen Form demütig als die Religionen, weil er eben nicht verdrängt, dass wir vergänglich sind. Es sollte klar sein: Wir werden irgendwann vergessen sein und selbst das Vergessen wird vergessen sein! Aus dieser Erkenntnis der Nichtigkeit der menschlichen Existenz kann sich eine Stärke bilden für die paar Lebensjahre, die man hat. Man genießt jeden Augenblick mehr als Gläubige, für die nach der ersten Party noch eine zweite kommt. Man spürt aber auch die Verpflichtung, jede Minute der eigenen Existenz sinnvoll zu nutzen für sich selbst und für andere. Dabei sollte man das eigene Ich jedoch nicht so schrecklich wichtig nehmen, denn nur wer von seinem Selbst lassen kann, entwickelt ein gelasseneres Selbst.

Splett: Nicht ich nehme mich wichtig – jemand nimmt mich wichtig. Wie Brecht sagt: Jemand, der mich lieb hat, hat mir gesagt, pass auf dich auf. Seither habe ich Angst vor jedem Regentropfen, dass er mich erschlagen könnte. Elias Canetti, ein denkender und ernsthafter Atheist, sagte einmal: Was er als Atheist am meisten vermisst, ist eine Adresse für seine Dankbarkeit.

Schmidt-Salomon: Aber das sind doch die Mitmenschen!

Splett: Natürlich bin ich erst mal dem Mitmenschen dankbar, und der ist mir dankbar. Und dann stehen wir da mit unseren Blumen, und wohin jetzt damit? Natürlich bin ich meiner Frau dankbar, und sie ist mir dankbar. Und was machen wir jetzt mit unserer gemeinsamen Dankbarkeit?

Schmidt-Salomon: Sie können mir wirklich glauben, dass ich sehr, sehr dankbar bin. Ich habe großartige Erfahrungen machen dürfen, ich habe großes Glück mit meinem Gehirn, das offensichtlich nicht zu Depressionen neigt. Ich hab das alles nicht verdient! Aber ich leide nicht darunter, dass ich kein personales Gegenüber habe, dem ich das sagen kann, weil ich davon ausgehe, dass alles auf Zufall und Notwendigkeit zurückzuführen ist.

Splett: Die Welt ist für mich eben nicht ein Zufallsgeschenk, sondern als Ganze einschließlich meines Lebens und meiner selbst ein unglaubliches Geschenk. Das Eigentliche ist nicht das, was ich da kriege, sondern dass ich kriege, was ich kriege. Der Philosoph Franz von Baader sagt mit Recht: Dankbarkeit heißt, die Gegenwart des Gebers in der Gabe anerkennen.

Schmidt-Salomon: Sie haben ja selbst gesagt, dass das Theodizee-Problem nicht lösbar ist. Und dabei dürfen wir nicht nur auf das Grauen in der Menschheitsgeschichte blicken, das im Holocaust gipfelte. Wir haben ja permanent eine Form von Holocaust in der Natur. Ein Gott, der diesen Holocaust zulässt, ein Gott, der die Welt so geschaffen hat, dass kleine Kinder an Leukämie erkranken und fürchterlich sterben, an einen solchen Gott kann ich nicht glauben! Angesichts all des Leids: Warum sind Sie nur dankbar für die Gabe? Müssten Sie nicht zugleich auch erschrocken sein über all das Elend? Hebt sich das nicht gegenseitig auf?

Splett: Nein. Das liegt eben nicht auf einer Ebene. Das habe ich die ganze Zeit über versucht, klarzumachen. Wenn es Gott gibt, warum gibt es Leid? Auf diese Frage ist meine Antwort: Ich weiß es nicht. Auf die Frage: Wenn es Gott nicht gibt, woher dann das Gute?, ist meine Antwort nicht: Ich weiß es nicht. Sondern ich weiß: Ohne Gott gäb’s kein Gutes. Nun gibt es aber das Gute, also gibt es Gott.

Schmidt-Salomon: Ich wende dagegen ein, dass wir beides sehr gut erklären können. Denn sowohl das Schreckliche als auch das Positive lässt sich verstehen als Ausdruck des blinden Waltens von Zufall und Notwendigkeit. Diese Antwort entlastet ungemein und verleiht uns eine gewisse Leichtigkeit des Seins.

Splett: Ich verstehe Ihre Strategie gut: Sie senken einfach die Frageebene und haben so eine Antwort auf beide Fragen – und haben den eigentlichen Punkt für Dankbarkeit gestrichen. Ich sehe mich verpflichtet, diese Dankbarkeit festzuhalten mit der Last der offenen Frage an dieser Stelle. Deswegen gehört es zu meinem Glauben dazu, dass er sich rechtfertigen können wird. So heißt es auch in der klassischen Fassung des 50. Psalms an Gott adressiert: Du wirst siegen, wenn du gerichtet wirst. Das kommt aber erst noch. Deswegen hat es ein Gottgläubiger schwerer als ein Atheist. Der hat die Leichtigkeit des Seins – bei uns liegt ein ziemliches Gewicht drauf. Was heute besser ankommt, ist klar.

Michael Schmidt-Salomon ist Sprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, Jürgen Splett ist Professor für Philosophie an der Jesuiten- Hochschule St. Georgen in Frankfurt.
Erstveröffentlichung in Die Tagespost. Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, Ausgabe vom 24. Dezember 2009, Würzburg.




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