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DISKUSSION

Olaf Müller:
Ethik, Angewandte: Eine faire Lösung des Klimaproblems

aus Heft 2/2011

Die Verfeuerung fossiler Brennstoffe bringt ebenso wie die Kernspaltung krasses Risiko mit sich. Die beiden Risikoarten unterscheiden sich stark: Im Fall der Kernspaltung fürchten wir uns vor ein er gigantischen Katastrophe, deren Wahrscheinlichkeit klein und unbekannt ist, aber nicht null; je länger die Atomkraftwerke laufen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Katastrophe jäh vor unserer Haustür ausbricht. Vielleicht aber haben wir Glück, und wir bleiben davon verschont. Das Risikoprofil ist binär, kann aber nicht rein rational ausgewertet werden.

Im Fall der Verfeuerung fossiler Brennstoffe fürchten wir uns nicht vor einem lauten Knall, sondern vor einer schleichenden Katastrophe, die langsam, langsam schlimmer wird, zunächst die Ärmsten der Welt trifft, und am Ende vielleicht auch uns. Das Risikoprofil ist graduell, und schon allein deshalb schwer mit seinem Gegenstück bei der Kernenergie zu vergleichen. Zudem gehen uns auch hier die entscheidenden quantitativen Kenntnisse ab, über die wir für eine rationale Bewertung gebieten müssten: Weder wissen wir, wieviel CO2 wir noch in die Atmosphäre blasen dürfen, ohne eine Erwärmung von z.B. mehr als zwei Grad zu erzeugen; noch wissen wir, ob sich die Klimaschäden bei dieser – rein willkürlich gewählten – Zwei-Grad-Grenze halbwegs verkraften lassen. Sich selber verstärkende Regelkreise, Kipp-Punkte usw. können zwar in allerlei Klimamodellen berechnet werden; doch kein Mensch weiß, wo die Kipp-Punkte liegen, bei denen im tatsächlichen Weltklima das Chaos ausbricht. Wir kennen auch keine Wahrscheinlichkeiten, allen anderslautenden Beteuerungen der Experten zum Trotz. Schlimmer noch, wir wissen nicht einmal, ob ein weiterer Anstieg der Luftverpestung wirklich in die Klimakatastrophe führen wird! Wir befürchten es, und diese Sorge ist nicht aus der Luft gegriffen.

Rational, realistisch, kühl und objektiv lässt sich weder hier noch da eine eindeutige Handlungsempfehlung ableiten. Ich bin daher zu dem Ergebnis gekommen, dass wir schon in die Beschreibung der Situation Werte investieren müssen. Wir sollten uns beim Klimaproblem und bei der Atomkraft am Prinzip der vorsorglichen Behutsamkeit orientieren und sagen: Weil weder hier noch da die Sorge einer schlimmen Katastrophe aus der Luft gegriffen ist, deren Ausmaß und Wahrscheinlichkeit wir nicht kennen, sind wir bedroht. (In diesem Satz steckt eine Wertung, die von Spielernaturen nicht geteilt zu werden braucht. Der Satz beruht auf Wertungen vorsichtiger, behutsamer Leute; viele Eltern mit Kindern beschreiben ihre Umgebung im Licht solcher Werte. – Dass sich hier die wechselseitige Durchdringung von Fakten und Werten bemerkbar macht, muss uns im Lichte der Metaethik der letzten Jahrzehnte nicht verwundern. Meiner Ansicht nach sind alle Versuche gescheitert, ein "precautionary principle" mithilfe wertfreier Bedingungen sozusagen idiotensicher zu formulieren).

Ich höre den Einwurf: Bedrohung hin oder her, wir können es uns nicht leisten, auf Atomkraft, Öl, Gas und Kohle zu verzichten. Auch der Verzicht brächte eine – weltwirtschaftliche – Katastrophe mit sich, unter der die Ärmsten dieser Welt am stärksten leiden müssten.

Meiner Ansicht nach ist dieser Pessimismus fehl am Platze. Wenn wir den Verzicht planwirtschaftlich und unfair organisieren, mag er seine Berechtigung haben. Dass es auch anders geht, will ich jetzt am Beispiel des Klimaproblems skizzieren: Es gibt eine faire und zugleich effiziente Lösung des Klimaproblems. Ohne Effizienz werden wir in den reichen Industriestaaten keine Mehrheiten dafür finden, so schnell wie möglich aus der Atomenergie auszusteigen und gleichzeitig die CO2-Emissionen sicherheitshalber drastisch zu begrenzen. Und ohne Fairness werden wir die sich entwickelnden Länder nie und nimmer dazu bewegen, sich auf ein strenges CO2-Regime einzulassen. Ich behaupte: Gerade weil unsere – europäischen – Vorschläge im Post-Kyoto-Prozess unfair waren, sind die Verhandlungen in Kopenhagen und den Folgekonferenzen steckengeblieben.


Um die These zu begründen, werde ich grob quantifizieren, welche Kompromisslinien der Industriestaaten fair gewesen wären. Dabei kommt heraus, dass wir uns weltweite Fairness in der Klimapolitik leisten können, dass dies aber mehr kostet, als von uns angeboten wurde.

Wie müsste eine faire Lösung des Klimaproblems aussehen? Wie sollten wir Pflichten und finanzielle Lasten der nötigen CO2-Beschränkungen verteilen, wenn es dabei gerecht zugehen soll und keiner übervorteilt werden darf?

Ich beginne mit einem Grundsatz, den Angela Merkel formuliert hat und gegen den sich nichts einwenden lässt: Jeder Mensch hat das Recht, genauso viel CO2-Emissionen zu verursachen wie jeder andere. Die Bundeskanzlerin will den Grundsatz nur langfristig in die Tat umsetzen und fasst dafür das Jahr 2050 ins Auge. Seltsame Idee! Die Idee ist so seltsam, wie es gewesen wäre, wenn ein Mann den Verfechterinnen des Frauenwahlrechts entgegnet hätte: Zugegeben, das augenblickliche Wahlrecht ist ungerecht – ich schlage vor, wir ändern es später; sagen wir, in neununddreißig Jahren?

In neununddreißig Jahren ist die Hälfte von uns tot. Wer also beim CO2-Problem die faire Verteilung der Lasten und Pflichten auf das Jahr 2050 vertagt, stellt für die meisten der jetzt lebenden Menschen keine Gerechtigkeit her, und das ist unfair.

Kurzum, wenn es gerecht zugehen soll, ist jedem Erdenbürger so schnell wie möglich dasselbe Recht auf CO2-Emission zuzuerkennen. Was heißt der vage Ausdruck "so schnell wie möglich"? Einfach: Ab dem anvisierten ersten Geltungstag der Nachfolgeregelung von Kyoto. Schneller als möglich muss es nicht gehen; Fairness ist keine Sache der Hexerei.

Gestehen wir es uns ein. Wenn wir die Lasten und Pflichten der erforderlichen CO2-Beschränkungen von heute auf morgen fair verteilen wollen, so werden die Lasten bei denen in die Höhe schnellen, die pro Kopf überdurchschnittlich viel emittieren. Das sind wir – die Bewohner des reichen Nordens. Am schärfsten würde es die Amerikaner treffen. Jedes Jahr emittieren sie pro Kopf 19.400 Kilo, das ist ungefähr doppelt so viel wie der deutsche Durchschnitt. Wir Deutsche emittieren 10.200 Kilo, ungefähr doppelt so viel wie der Durchschnitt der Erdenbürger. Und der durchschnittliche Erdenbürger emittiert 4.800 Kilo, das ist wiederum mehr als doppelt so viel CO2, wie wir der Erde zumuten können – wenn wir uns am Prinzip der vorsorglichen Behutsamkeit orientieren wollen.

Diese wenigen Zahlen erklären, warum die Bundeskanzlerin vorsichtshalber davon abgesehen hat vorzuschlagen, die Lasten der CO2-Reduktionen ab sofort fair zu verteilen. Was wäre fürs erste ein hinreichend ambitioniertes Ziel, das ohne Harakiri, aber fair zu erreichen ist? Im Augenblick steigen weltweit die jährlichen CO2-Emissionen, und dieser Anstieg beschleunigt sich zur Zeit (weltweit und pro Erdenbürger). Es wäre einstweilen viel gewonnen, wenn wir diesen Trend anhalten könnten – und zwar sofort und gerecht.

Damit bin ich bei der Grundidee meines Vorschlags. Ab sofort (und bis auf weiteres) soll jeder Erdenbürger das Recht haben, 4.800 kg CO2 zu emittieren – das ist der augenblickliche Weltdurchschnitt. Es wäre nur gerecht, wenn die Durchschnitts-Emission jedem zustünde. Das würde bedeuten, dass wir Deutsche unseren CO2-Ausstoß von einem Jahr zum nächsten mehr als halbieren müssen. Zertrümmert das nicht unsere Volkswirtschaft?

Langsam. Wenn wir für jeden Erdenbürger den augenblicklichen Durchschnittsausstoß an CO2 festsetzen, dann gibt es genug Menschen, die ökologisch vorbildlich haushalten und zur Zeit weniger CO2 emittieren, als sie fairerweise dürfen. Der durchschnittliche Inder emittiert z.B. pro Jahr 900 kg CO2, das ist weniger als ein Fünftel des Weltdurchschnitts. Und wenn ich vorschlage, dass auch jeder Inder das Recht haben soll, 4.800 kg CO2 pro Jahr zu emittieren, so heißt das noch lange nicht, dass er dieses Recht sogleich wahrnehmen sollte. Er könnte es stattdessen verkaufen. Statt seine Rolle als (freiwilliges oder unfreiwilliges) Vorbild aufzugeben, könnte er die überflüssigen, ihm zustehenden 3.900 kg CO2-Emission gegen Bezahlung an uns abgeben. Gegen faire Bezahlung, versteht sich.

Ich schlage also vor: Ab sofort hat jeder Erdenbürger das veräußerliche Recht, 4.800 kg CO2 pro Jahr zu emittieren. Wer mehr CO2 emittieren will, als ihm zusteht, muss dieses Recht jemandem abkaufen, der weniger emittiert, als ihm zusteht.

Nun wäre es verrückt, zu verlangen, dass ich mich eigens in Indien nach jemandem umtun soll, der mir die CO2-Rechte verkauft, die ich für Indienreisen brauche. Stattdessen sollten die CO2-Transaktionen über eine weltweite Börse abgewickelt werden. Das läuft auf folgenden Vorschlag hinaus. Jedes Jahr gibt die UNO pro Erdenbürger 4.800 "Mikro-Zertifikate" zum Nennwert von einem Kilo CO2 aus. Die Mikro-Zertifikate können frei gehandelt werden und werden meistbietend versteigert. Sobald jemand eine bestimmte Menge an CO2 in die Luft bläst, wird die entsprechende Menge an Mikro-Zertifikaten aus seinem Besitz entwertet. Und wer ohne gültige Mikro-Zertifikate emittiert, macht sich strafbar.

Wohin mit dem Geld, das in den CO2-Auktionen zusammenkommt? Meine Antwort ist einfach, radikal und neu. Geben wir den Menschen die Erlöse aus der Versteigerung zurück!

Hier die Idee. Wie dargetan, werden pro Kopf und Jahr 4.800 Mikro-Zertifikate vom Nennwert eines Kilogramms CO2 versteigert. Tag für Tag werden die Erlöse bekanntgegeben, und am Ende des Jahres wird der Gesamterlös zu gleichen Teilen an alle Erdenbürger verteilt. An alle Erdenbürger, auch an die Kinder der Inder? Ja, an alle. Und zwar ohne Abzug. Jeder sieht, wieviel er bekommt – genauso viel wie jeder andere. Das ist fair. Und es dürfte effizienter sein, als die Erlöse in staatlich gelenkte Forschung und Entwicklungshilfe zu stecken. Der Ökonom und Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus konnte mit einer ähnlichen Idee harte Armut bekämpfen. Statt große Summen zentral zu verwalten und zu verplanen, brachte er viele kleine Summen direkt zu den Bedürftigen – in Form von Mikro-Krediten. Die Kreditnehmer konnten selber entscheiden, was sie mit dem Geld anfangen wollten; und sie wussten es erstaunlich gut. Mein Vorschlag ist von den Berichten über die Erfolge dieser Idee inspiriert; daher rede ich von Mikro-Zertifikaten.

Man mag fürchten, dass sich die Ärmsten der Armen im marktwirtschaftlichen CO2-Regime nicht einmal die minimale CO2-Emission würden leisten können, die sie derzeit kostenlos in die Luft blasen. Die Sorge ist unbegründet. Wer weniger CO2 emittiert als der durchschnittliche Erdenbürger, der bezahlt für die CO2-Auktion weniger, als er aus ihrem Erlös zurückbekommt. Er macht im Saldo einen Überschuss und kann damit anfangen, was er will. Er wird dafür belohnt, dass er weniger emittiert als der Rest der Menschheit. Und er wird von denjenigen dafür belohnt, die mehr emittieren als der Rest der Menschheit.

Wie teuer würde es für uns Deutsche, wenn wir den ökologisch vorbildlich Haushaltenden in Indien, Afrika usw. einen fairen Preis dafür zu zahlen hätten, dass wir auf deren CO2-Konto weiter sündigen dürfen? Das lässt sich schwer sagen. Es hängt davon ab, bei welchem Preis sich die Mikro-Zertifikate einpendeln. Das wiederum hängt von Angebot und Nachfrage ab – von dynamischen Größen. Je schneller das CO2-intensive Wirtschaftswachstum, desto größer die weltweite Nachfrage nach Mikro-Zertifikaten, desto höher ihr Preis; einerseits. Andererseits werden sich Forscher und Unternehmer von steigenden Preisen für Mikro-Zertifikate anfeuern lassen, also neue Technologien suchen, erproben und einsetzen, um CO2-Emissionen zu reduzieren oder sogar der Atmosphäre CO2 zu entziehen. Das erste vermindert die Nachfrage nach Mikro-Zertifikaten, das zweite erhöht ihr Angebot.

Wohin diese Entwicklung laufen wird, lässt sich nicht seriös vorhersagen. Dennoch sollten wir uns zumindest ungefähre Preiserwartungen für Mikro-Zertifikate zurechtlegen. Denn wir müssen wissen, ob uns deren fairer Handel, den ich vorschlage, prohibitiv teuer zu stehen käme. Dann wäre mein Vorschlag politisch tot, und wir wüssten, dass wir uns Gerechtigkeit nicht leisten mögen.

Ich will jetzt einen Schätzwert dafür anführen, dass es so schlimm nicht kommen wird. Ich übernehme keine Gewähr für die Schätzung, kein Mensch kann das; es sind Vermutungen, mehr nicht. Der Schätzwert beruht auf dem Kilopreis, den man augenblicklich bei Atmosfair zu entrichten hat, um Flugreisen CO2-neutral auszugleichen. Im Augenblick investiert Atmosfair pro Kilo CO2 2,3 Cent in Klimaprojekte (wie z.B. Solarküchen in Bangladesh). Das markiert bis auf weiteres die rationale Obergrenze des fairen Marktpreises für Mikro-Zertifikate. Kein vernünftiger Mensch wird mehr als 2,3 Cent für ein Mikro-Zertifikat bezahlen, wenn er sich stattdessen für 2,3 Cent von seiner CO2-Bürde befreien kann. Dennoch gilt diese Preiserwartung nur bis auf weiteres. Sie gilt nur solange, bis alle Klimaprojekte umgesetzt sind, die höchstens 2,3 Cent pro Kilo verhinderter CO2-Emission kosten. Zwar gibt es in Bangladesh, Indien, China, Afrika noch mehr als genug billige Möglichkeiten für Klimaprojekte. Aber irgendwann wird dieses weite Feld abgegrast sein, und dann werden die Preise für Mikro-Zertifikate steigen.

Mit diesem Schätzwert können wir ermitteln, was es uns Deutsche ungefähr kosten würde, wenn wir ab sofort für unsere CO2-Sünden fair zu bezahlen hätten. Im Saldo müssten wir pro Kopf und Jahr von derzeit 10.200 kg CO2 auf faire 4.800 kg CO2 hinunter, also um mehr als die Hälfte. Dies kostet knapp 125 Euro im Jahr. Wenig ist das nicht. Aber volkswirtschaftlicher Selbstmord ist es auch nicht. Wir könnten es verkraften.

Und bedenken Sie, meine Zahl liefert nur den Durchschnittswert; die individuellen Kosten können weit niedriger liegen – oder weit höher, je nach Verhalten. Wer viel herumfährt, ein riesiges Haus hat ohne hinreichende Wärmedämmung und wer dies Haus mit Öl mollig warm heizt, für den wird es teurer als 125 Euro im Jahr. Wer Rad fährt und Solarzellen auf dem Dach hat, für den wird es billiger. Jeder kann sich selbst überlegen, ob er lieber tiefer in die Tasche greift oder ob er sich lieber ökologisch vorbildlich verhält.

Die Klimaprogramme der Bundesregierung und der Europäischen Kommission dürften weniger bringen und dafür erheblich teurer werden. So sollen neue Autos ab 2012 im Durchschnitt nur noch 130 Gramm CO2 pro Kilometer ausstoßen (statt 160 Gramm pro Kilometer im augenblicklichen Durchschnitt). Nach Schätzungen steigt dadurch der Preis von Neuwagen je nach Fahrzeugtyp zwischen 500 und 1.000 Euro. Wer das Auto zehn Jahre lang fährt, und zwar 10.000 km pro Jahr (bundesdeutscher Durchschnitt), der stößt mit diesem neuen Auto insgesamt 3.000 kg CO2 weniger aus, als er mit einem nicht normgemäßen Auto ausgestoßen hätte. Pro Kilo CO2 kostet diese Form der CO2-Reduktion zwischen 16 und 33 Cent. Das ist ungefähr das Zehnfache der Kosten, die im Reglement der Mikro-Zertifikate zunächst anfallen würden! Ähnlich atemberaubende Mehrkosten stecken in den Milliarden-Subventionen der Solarenergie und in anderen Folterwerkzeugen der europäischen Klimapolitik.

Woran liegt es, dass wir für ungerechten Klimaschutz ca. zehnmal so viel bezahlen werden wie für den gerechten Klimaschutz im Regime der Mikro-Zertifikate? Vergleichen Sie: Bislang setzen sich Technokraten und Experten zusammen und versuchen zu planen, mit welchen Maßnahmen sich auf einen Schlag große CO2-Reduktionen erreichen lassen. Anders im Regime der Mikro-Zertifikate. Heerscharen flinker Unternehmer, pfiffiger Erfinder und gewitzter Kaufleute werden im eigensten Interesse ihre ganze Intelligenz aufbieten, um den attraktivsten, günstigsten Weg zur CO2-Reduktion zu finden – weltweit. Nie und nimmer können Experten und Technokraten dabei mithalten.

Besonders scharfe Klimaauflagen in Deutschland oder Europa, wie von Bundesregierung und EU-Kommission geplant und zum Teil schon durchgesetzt, werden nicht unbedingt zur CO2-Reduktion im produzierenden Gewerbe führen. Stattdessen dürften sie die betroffenen Unternehmen aus den Grenzen Deutschlands oder Europas vertreiben. Am Ende wird genausoviel CO2 emittiert wie ohne jene Klimaschutzauflagen – nur woanders: dort, wo es billiger ist. Das ist volkswirtschaftliche Selbstkasteiung und bringt keinen Vorteil für das Klima. Wer ein effizientes CO2-Regime errichten möchte, sollte besser nicht gegen die Winde der Globalisierung zu segeln versuchen, er sollte sich diese Winde zunutze machen. Genau das tut der weltweite Handel mit Mikro-Zertifikaten. Ein Mikro-Zertifikat im Nennwert von einem Kilo CO2 wird auf der ganzen Welt gleichviel kosten. Das wird niemanden dazu verlocken, seine Produktionsanlagen nur deshalb von Ort A nach Ort B zu verlegen, weil in B laxere Klimaauflagen herrschen als in A. Wohl aber liefert es einen Anreiz dafür, neue Klimainvestitionen genau dahin zu lenken, wo die Vermeidung eines Kilogramms CO2 am wenigsten kostet, also als erstes in den Osten und Süden der Welt. Für die Länder dieser Regionen wird es effektiver sein, solche neuen Investitionen anzulocken – statt per Klimadumping den Wettbewerb darin zu gewinnen, wer die schlimmsten CO2-Dreckschleudern aus dem reichen Norden anzulocken weiß.

Dass sich Klimaschutz am besten global organisieren lässt, also wenn in jedem Land dieselben Regeln gelten, liegt auf der Hand. In diesen Zusammenhang gehört eine Überlegung, die man schnell aus dem Blick verliert, wenn man sich in der Klimadebatte zu sehr auf Durchschnitte der nationalen Pro-Kopf-Emissionen konzentriert. Tatsächlich ist die Pro-Kopf-Emission des Durchschnittsdeutschen eine Propagandagröße ohne moralische Aussagekraft. Nehmen wir an, ein Deutscher konsumiert ein tschechisches Produkt, bei dessen Herstellung in Tschechien viel Energie verbraucht wurde und das aus Bestandteilen hergestellt wurde, bei deren Herstellung in Ungarn, China und Indien viel Energie verbraucht wurde. Fürs Klima spielt es überhaupt keine Rolle, wo die Emission entsteht. Diese Tatsache spiegelt sich im Regime der Mikro-Zertifikate wider; alle CO2-Emissionen, die während der Produktion eines Gutes anfallen, sind vom Hersteller zu bezahlen, machen sich in seinem Endpreis bemerkbar und steuern dadurch die Entscheidungen der Konsumenten. Wer dagegen ein Klima-Regime installiert, das sich auf Länderobergrenzen konzentriert, dreht am falschen Zahnrad. Und daran wird sich auch nichts ändern, wenn die Länderobergrenzen proportional zu den Bevölkerungszahlen festgelegt werden.

Wie lässt sich das Regime der Mikro-Zertifikate realisieren? Würde es in der Realität überhaupt funktionieren?
Die Mikro-Zertifikate funktionieren am besten, wenn sie alle Emissionen klimaschädlicher Gase treffen. Auf einen Schlag lässt sich das sicher nicht erreichen. Kohlendioxid ist der prominenteste Feind des Weltklimas, aber nicht der einzige. Nun verursacht die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas den größten Teil der CO2-Emissionen – aber nur achtzig Prozent dieser Emissionen. Das bedeutet: Der allergrößte Teil des prominentesten Klimafeindes kann dadurch in den Handel mit Mikro-Zertifikaten eingebunden werden, dass Betreiber von Verbrennungsöfen und Verbrennungsmotoren schon beim Kauf fossiler Brennstoffe die zugehörige Menge an Mikro-Zertifikaten miterwerben und sogleich entwerten müssen. Das lässt sich leicht organisieren. Die Verkäufer dürfen Brennstoffe nur zusammen mit Mikro-Zertifikaten abgeben, werden also genug Mikro-Zertifikate vorrätig halten. Sie müssen sie im Großhandel oder an der Börse erwerben.

Diese kurze Betrachtung bietet genug Anhaltspunkte dafür, wie sich die Verpestung der Atmosphäre mit den Methan-Ausdünstungen der Rinderherden und jede andere Emission klimaschädlicher Gase Schritt für Schritt in den Handel mit Mikro-Zertifikaten einbeziehen lassen.

Meine bisherigen Ausführungen dürften klargemacht haben, wie sich der Teil des vorgeschlagenen CO2-Regimes organisieren lässt, der mit den Ablasszahlungen der Klimasünder zu tun hat. Obwohl das Regime bei jedem Einzelnen ansetzt, heißt dies nicht, dass der Einzelne vor jeder CO2-relevanten Tat dann auch an der CO2-Börse mitbieten muss. Den Großteil dieser Arbeit nehmen ihm die Händler fossiler Brennstoffe ab; sogar an der Tankstelle bemerkt der Einzelne die Mikro-Zertifikate höchstens auf seiner Rechnung. Das neue CO2-Regime treibt die Preise aller Aktivitäten und Güter in die Höhe, in deren Genuss man nur dann kommen kann, wenn unterwegs irgendwo fossile Brennträger verbrannt oder äquivalente Mengen eines klimaschädlichen Gases emittiert werden. Kurzum, auf der Ausgabenseite wird sich das neue Regime bemerkbar machen wie ein mittelgroßer, selektiver Inflationsschub, der die Klimasünder stärker trifft als die ökologischen Vorbilder.

Wie sieht die Sache auf der Seite der Ausschüttungen aus? Die Zahlungen für Mikro-Zertifikate fließen an der weltweiten Börse zusammen. Nach einem Jahr weiß die Chefin der CO2-Börse, wieviel Geld jedem Erdenbürger für das vergangene Jahr zusteht (oder doch jedem Bürger eines Landes, das am Zertifikate-Handel teilnimmt). In den hochorganisierten Rechtsstaaten westlicher Prägung fließt das Geld an die nationalen Finanzämter, die es – ohne Abzug – mit der Steuerschuld des Einzelnen verrechnen. Soweit ist die Sache einfach. Was aber mit Ländern, deren Bürger überwiegend keine Bankkonten, Steuernnummern etc. haben? Was mit Ländern, deren Regierungen und Finanzbürokratien korrupt sind oder korrupt zu werden drohen bei soviel Geld?

Ich möchte einen radikalen, aber unfertigen Vorschlag zur Diskussion stellen, dessen Details genauer auszuarbeiten wären, als mir hier möglich ist. Wir installieren eine weltweite Datenbank, in der nur Fingerabdrücke gespeichert werden, keine Namen, keine Geburtsdaten, keine Adressen. Jeder Fingerabdruck ist mit einem normalverzinslichen Sparbuch verbunden, auf das einmal jährlich die Jahresausschüttung der CO2-Auktion eingezahlt wird. Abheben kann man das Geld nur per Fingerabdruck. In den Städten erledigen das die Banken; auf das Land fahren – notfalls bewachte – Geldtransporter mit Fingerabdruck-Lesegeräten. So soll sichergestellt werden, dass das Geld wirklich bei jedem Einzelnen ankommt.

Die nächste Frage lautet: Wie könnte man möglichst viele Staaten dazu bewegen, am Regime der Mikro-Zertifikate teilzunehmen? Um mit dieser Frage weiterzukommen, schlage ich vor, die Staaten grob in drei Gruppen einzuteilen. Da sind zunächst die reichen klima-altruistischen Klimasünder. Diese Staaten werde ich als Länder der Gruppe A bezeichnen. Das sind reiche Industriestaaten, deren Bevölkerungen und Regierungen gewillt sind, gegen das CO2-Problem anzugehen, selbst wenn das gewisse Nachteile für die eigenen Volkswirtschaften mit sich bringt. Die meisten EU-Staaten gehören in diese Gruppe (zumindest laut eigener Propaganda). Das Regime der Mikro-Zertifikate wird für Länder der A-Gruppe in dem Moment ökonomisch attraktiv, in dem hinreichend viele arme Staaten beitreten, deren durchschnittlicher CO2-Ausstoß deutlich unter dem Weltdurchschnitt liegt. Diese Staaten werde ich als Länder der Gruppe B bezeichnen. Sobald die von B-Ländern nicht ausgeschöpften CO2-Rechte an der Auktion teilnehmen, wird das die Preise der Mikro-Zertifikate drücken.

Ist damit zu rechnen, dass die B-Länder dem Regime beitreten? Rational wäre es, denn es führt zu gigantischen Nettozahlungen aus A-Ländern an die Bewohner der B-Länder. Als Länder der Gruppe C bezeichne ich die reichen Klimaegoisten. Solange es Länder gibt, die das Klimaproblem zwar nicht leugnen, sich aber nicht darauf einlassen, verbindliche Einschnitte zuzusagen, solange wird sich das neue Klimaregime nicht weltweit implementieren lassen. Solche Staaten schauen zu, wie sich der Rest der Welt abrackert, freuen sich, dass das dem Klima nützt, und feixen, weil sie dafür nichts bezahlen müssen. Ich bin dafür, die C-Länder durch Androhung von CO2-Schutzzöllen zur Kooperation zu bewegen. Trittbrettfahrerei darf sich nicht lohnen. Die Kanzlerin und der französische Präsident haben vor einiger Zeit ins selbe Horn geblasen, den markigen Worten aber keine Taten folgen lassen.

Ich habe versucht vorzuführen, wie es sich auf faire und effiziente Weise organisieren lässt, den Anstieg der CO2-Emissionen anzuhalten. Das wird nicht reichen, jedenfalls nicht im Lichte des Prinzips von der vorsorglichen Behutsamkeit. Jahr für Jahr müssen weniger Mikro-Zertifikate ausgegeben werden, und ihre Zahl muss schnell sinken. Ich schließe mit einem Vorschlag dazu. Nach einer Verschnaufpause sieben fetter Jahre geht es los. Es werden jährlich zehn Prozent weniger Zertifikate ausgegeben als im Vorjahr; und schon nach sieben mageren Jahren werden sich die CO2-Emissionen halbiert haben.

Nachdem ich also eine weltweit faire Lösung fürs Klimaproblem skizziert habe, kann ich auf meine Ausgangsthese zurückkommen: Die Ausgleichszahlungen, die wir den sich entwickelnden Ländern als Gegenleistung für einen Beitritt zum Klimaregime angeboten haben, lagen um mehrere Dimensionen unter den von mir anvisierten Zahlungsströmen. Unsere Angebote waren zu knauserig; da wir den Indern weit weniger angeboten haben, als ihnen nach meinem Vorschlag zustünde, tragen ganz sicher nicht die Inder die Schuld am Stillstand der Klimaverhandlungen. Zudem sollten die Zahlungen – unseren bisherigen Vorschlägen zufolge – in planwirtschaftliche Mammut-Programme fließen: Gut für die Eliten, wertlos für die Ärmsten der Welt und eine Horrorvision für jeden ökonomisch denkenden Menschen. Ich sage: Effizienz und Gerechtigkeit können beim Klimaproblem Hand in Hand gehen. Und das müssen sie auch, gerade seit den bangen Tagen von Fukushima. Andernfalls bleiben wir in der Zwickmühle aus Atomgefahr und Klimagefahr hängen – ungemütliche Aussichten wären das.

UNSER AUTOR:

Olaf L. Müller ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. In seinem Aufsatz "Mikro-Zertifikate", der im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 95 erschienen ist und aus dem einige Teile des vorliegenden Textes stammen, hat er seinen Vorschlag ausführlich begründet. Siehe
http://edoc.hu-berlin.de/oa/articles/
reh9GuOzEErS/PDF/25CJtQ7Q5kvM.pdf