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BERICHT

Christoph Horn :
Ethik: Die verletzbare und die unverletzbare Würde des Menschen – eine Klärung

Aus Heft 3/2011, S. 30-41 


I. Das Ausgangsproblem

Vielleicht die größte philosophische Schwierigkeit in der aktuellen Diskussion über Menschenwürde besteht darin, dass der Begriff in zwei sehr unterschiedlichen Verwendungsweisen gebraucht wird. Diese beiden geraten nicht nur im alltäglichen, sondern auch im philosophischen und juristischen Sprachgebrauch allzu leicht durcheinander: Ich meine die Rede von einer verletzbaren und einer unverletzbaren, von einer verlierbaren und einer unverlierbaren Würde des Menschen. Einerseits sprechen wir häufig so, als ob klar wäre, dass Menschenwürde ein angreifbares, verwundbares und entsprechend ein erzeugbares, durch geeignete Maßnahmen sicherstellbares Gut ist; zu unseren geläufigen Formulierungen gehören die von der ‚Verletzung‘, ‚Wahrung‘ oder ‚Wiederherstellung‘ der Menschenwürde. Andererseits glauben wir, dass die Menschenwürde ein beständig vorhandenes Merkmal darstellt, eines, das Menschen nicht manchmal besitzen und manchmal nicht besitzen können (oder über das sie in verschiedenen Graden verfügen), wie dies für Intelligenz, Gesundheit oder Körperkraft gilt. Während bei solchen Eigenschaften personen- und kontextrelative Unterschiede bestehen, benutzen wir den Ausdruck Menschenwürde häufig in einem kontextunabhängigen Sinn. Wir reden etwa von einer ‚Respektierung‘, ‚Achtung‘ oder ‚Anerkennung‘ der Menschenwürde.

Wie gravierend diese beiden Gebrauchsweisen voneinander differieren, muss jedem Kopfzerbrechen bereiten, der den Unterschied einmal bemerkt hat (und natürlich ist die Spannung häufig gesehen worden; vgl. z. B. die Diskussion bei Müller 2008). Bekanntlich wird die bestehende Dissonanz der beiden Gebrauchsweisen besonders deutlich greifbar in der Formulierung der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes (Art. 1,1 GG): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wäre die Menschenwürde tatsächlich unantastbar, warum sollte man sie dann schützen müssen? Ist sie dagegen zu schützen, wie könnte sie dann noch unverletzbar sein? Sie kann ja gerade nicht verletzt und folglich auch nicht geschützt werden. Wie verhalten sich die verletzbare und die unverletzbare Menschenwürde dann zueinander? Lassen sich die beiden Gebrauchsweisen überhaupt miteinander vereinbaren?

Vorherrschend scheint die Meinung zu sein, dass wir es lediglich mit einer leichten begrifflichen Ambivalenz zu tun haben, die keine tiefergehenden Probleme verursacht. Vielleicht nehmen viele Interpreten einfach an, dass die verletzbare Würde eher eine deskriptive Perspektive formuliert (wir empfinden die Menschenwürde z. B. dann als deskriptiv oder faktisch verletzt, wenn wir von politischen Häftlingen und Folteropfern lesen), während die unverletzbare Würde eher einen normativen Gesichtspunkt artikuliert (wir denken, die Menschenwürde sollte jedermann vor politisch motivierter Inhaftierung bzw. Folter schützen). Aber das wäre zu simpel; denn auch die erste Begriffsvariante besitzt normative Implikationen, ebenso wie auch die zweite deskriptive Komponenten enthält, wie wir sehen werden. Sicher ausschließen lässt sich meines Erachtens auch die Lösung, wonach die unverlierbare Menschenwürde nichts weiter als eine pathetisch-emphatische Ausdrucksform ist, mit der gesagt werden soll, dass wir einen (faktisch durchaus möglichen) Menschenwürde-Verlust als unerträglich oder nicht-hinnehmbar ansehen. Dann hieße die GG-Formulierung einfach so viel wie „Wir wollen die Menschenwürde keinesfalls angetastet sehen (obwohl man sie durchaus antasten kann)“. Es liegt aber auf der Hand, dass zumindest die Verteidiger der Idee einer unverlierbaren Menschenwürde mehr im Sinn haben müssen als eine solche rhetorische Pointe.

Nach meiner Überzeugung enthält unsere Rede von Menschenwürde eine so tiefgreifende Spannung, dass wir uns für die Preisgabe einer der beiden Redeweisen entscheiden sollten. Man muss, so fürchte ich, zumindest im reflektierten (philosophisch-juristischen) Sprachgebrauch eine der Verwendungsweisen meiden, um den Begriff hinreichend zu disambiguieren. Dass dies nötig ist, versuche ich im Folgenden durch eine Kontrastierung der Merkmale der beiden Begriffsverwendungen deutlich zu machen.

II. Die Unterscheidung der beiden begrifflichen Momente

(a) Die unverletzbare Menschenwürde: Elementare Charakterisierung

Menschenwürde (=MW) bezeichnet in einer Reihe von (meist erst nach 1945 aufgrund der Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust entstandenen) politisch-juristischen Grundlagentexten, etwa im deutschen Grundgesetz, den herausragenden Wert menschlicher Individuen. Den zentralen Bezugstext bildet die Präambel der UNO-Menschenrechtsdeklaration, wo von der „inhärenten Würde [...] aller Mitglieder der Menschheitsfamilie“ die Rede ist. Was immer in diesen und ähnlichen Texten zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in politisch-juristischer Hinsicht intendiert gewesen sein mag: Sie stützen sich in jedem Fall auf einen besonders nachdrücklichen Begriff, der eine Reihe von Aspekten zu einer extrem anspruchsvollen Gesamtvorstellung bündelt.

MW als ein anspruchsvolles Bündel von Teil-Ideen enthält, wenn ich richtig sehe, mindestens sechs verschiedene Momente: (i) Jedes menschliche Individuum soll – einfach qua Mensch – einen gleich großen Wert besitzen, (ii) einen axiologisch absoluten oder maximalen, (iii) angeborenen (d.h. sowohl nicht-erworbenen und nicht-einbüßbaren), (iv) nicht numerisch angebbaren, nicht-graduellen, nicht-abstufbaren, nicht-abwägbaren Wert; dieser Wert soll durch kein anderes Gut kompensierbar oder überbietbar sein. Daher darf MW kein Gegenstand von Tauschgeschäften (trade offs) werden: MW übertrumpft alle anderen Güter oder Werte. Sie lässt sich folglich weder gegen andere Güter oder Werte eintauschen (indem man sie z. B. zugunsten eines Anwachsens von Nutzen, Glück, Wohlstand, Kultur, Ordnung usw. vermindert), noch darf die MW eines Individuums gegen die eines anderen verrechnet werden. (v) MW kommt allen Menschen in einem kontexttranszendenten Sinn zu, d. h. sie gilt für alle Kulturen und zu allen Zeiten, ob dies nun in bestimmten Kontexten tatsächlich anerkannt wird oder nicht. (vi) MW fundiert ein Bündel von gleichen subjektiven Anspruchsrechten, die man als Menschenrechte oder moralische Rechte bezeichnet. Unter Berufung auf die MW begründet man deren überpositive Gültigkeit auch unter Bedingungen ihrer positiven Nicht-Etablierung oder ihrer faktischen Missachtung.

Halten wir die sechs soeben aufgezählten Punkte nochmals fest: (i) Aspekt der Egalität, (ii) Aspekt der axiologischen Absolutheit (Kategorizität/Vorrangigkeit), (iii) Aspekt der Besitzpersistenz (Unverletzbarkeit und Unverlierbarkeit), (iv) Aspekt der Unverrechenbarkeit oder Inkommensurabilität, (v) Aspekt der Invarianz und der Universalität (Omnitemporalität und Kulturtranszendenz). (vi) Aspekt der mit der MW verknüpften Anspruchsberechtigung, nämlich auf bestimmte Menschenrechte. An den Begriff der MW schließt sich oft eine emphatische Begründung von Menschenrechten an. Ich bezeichne dieses Bündel von Ideen im Folgenden als Menschenwürde1 (=MW1). Der auf MW1 beruhende Sprachgebrauch besitzt stoische, christliche und kantische Wurzeln.

(b) Die verlierbare Menschenwürde: Elementare Charakterisierung

Wann genau der zweite Sprachgebrauch aufgekommen ist, lässt sich nur schwer rekonstruieren. Jedenfalls wird diese Verwendungsweise häufig mit dem Buch von Avishai Margalit, The Decent Society (1996) in Verbindung gebracht, in dem sich die grundlegende Idee, Menschen seien vor allem vor Demütigung und Respektlosigkeit zu schützen, besonders eindringlich formuliert findet. Zwar wird der MW-Begriff bei Margalit keineswegs eingehend analysiert; er spielt in dem Buch sogar überhaupt keine zentrale Rolle. Aber das eindrucksvolle moralphänomenologische Material, das Margalit ausbreitet, lässt es doch als naheliegend erscheinen, MW anders als in MW1 zu verstehen und sie stattdessen mit der Selbstachtung einer Person und ihrem Schutz vor Demütigung in Verbindung zu bringen. Nicht wenige Philosophen haben sich daher in der MW-Diskussion auf diesen Bezugspunkt berufen, am klarsten wohl Ralf Stoecker (2003), zudem etwa von Peter Schaber (2003), Arnd Pollmann (2005) oder Menke/Pollmann (2007). Ich bezeichne diese Position – mit einem bei Stoecker (2010) auftauchenden Ausdruck – als Humiliationismus.

Folgt man dem humiliationistischen Wortverständnis in den unter (a) genannten sechs Aspekten, so haben zwar (i) alle menschlichen Individuen gleichermaßen einen Anspruch auf MW; aufgrund der Verletzbarkeit und Verlierbarkeit von MW besteht jedoch durchaus ein unterschiedliches Maß an faktischer Realisierung. Für Humiliationisten besitzt MW (ii) zwar durchaus einen normativen Vorrang (z.B. sogar gegenüber Aspekten der Gerechtigkeit), aber dieser Vorrang impliziert keine Kategorizität. Jemand nimmt nach humiliationistischem Wortverständnis einem anderen dessen Würde insbesondere dann, wenn er ihn demütigt, herabsetzt, beleidigt, diskriminiert, verächtlich macht, missachtet, gravierend benachteiligt (besonders aufgrund von Rassismus, Sexismus, nationalem Chauvinismus und religiösem Fundamentalismus) oder ihm seine soziale oder materielle Existenzgrundlage nimmt. Es liegt auf der Hand, dass sich im Alltag nie alle Fälle von Demütigung und Herabsetzung vermeiden lassen, allein schon weil sich kein objektives Sensibilitätsniveau für Selbstrespekt angeben lässt; zudem wiegen offenbar nicht alle Verletzungsfälle gleich schwer. Für Verteidiger von MW1 impliziert Kategorizität eine Ja-Nein-Distinktion: Ein moralisches Problem kann die MW nur entweder berühren oder nicht berühren. Nach humiliationistischer Auffassung ist MW dagegen in sehr verschiedenen Graden verletzbar. Am ehesten wären für Humiliationisten solche Handlungen mit einem kategorischen Verbot oder Gebot belegt, die zu einem kompletten Selbstwertverlust führen bzw. zu dessen Vermeidung beitragen. Aber hierbei liegt keine Kategorizität sensu stricto vor. Für Humiliationisten ist MW (iii) selbstverständlich verletzbar und verlierbar, allerdings nur faktisch, nicht dem grundlegenden Anspruch nach. Sie ist zudem (iv) nicht strikt unverrechenbar, sondern durchaus in den Kontext anderer Güter eingebunden; diese sind grundsätzlich mit ihr vergleichbar und verrechenbar. Ferner liefert MW nach dieser Vorstellung (v) eine gewisse Begründung von Menschenrechten oder moralischen Rechten, geht in den normativen Forderungen aber noch über diese hinaus. Und schließlich (vi) stützt sich eine solche Idee von MW gerade nicht auf kontexttranszendente, sondern auf historisch und kulturell dichte Vorstellungen dessen, was im Leben eines Menschen zählt und zu dessen Selbstrespekt beiträgt (vgl. den Begriff von thick moral concepts).

Halten wir auch hier – in Anlehnung an die Aspekte, die wir in (a) unterschieden haben – sechs Punkte fest: (i) Aspekt der normativen Egalität bei starker deskriptiver Inegalität, (ii) Aspekt der axiologischen Vorrangigkeit, aber nicht Kategorizität, (iii) Aspekt der Diskontinuität des MW-Besitzes (Verletzbarkeit und Verlierbarkeit), (iv) Aspekt der starken (aber nicht absoluten) Anspruchsberechtigung, (v) Aspekt der Begründung von MW mittels Fremddemütigung bzw. Verletzung der Selbstachtung, (vi) Aspekt der intuitiven Anschaulichkeit und der kulturellen Kontextsensitivität. Ich bezeichne dieses zweite Bündel von Vorstellungen als Menschenwürde2 (=MW2).

III. Die intuitiven Fundamente von Menschenwürde1 und Menschenwürde2

Die beiden Intuitionen, die bei MW1 und MW2 jeweils im Hintergrund präsent sind, lassen sich schön durch zwei Klassiker-Zitate veranschaulichen, eines von Kant und eines von Adam Smith.

Immanuel Kant gilt weithin als zentrale Bezugsfigur für die Begriffsvariante von Menschenwürde, die ich als MW1 charakterisiert habe. Man kann an dieser Stelle dahingestellt sein lassen, ob die Zuschreibung zu Recht vorgenommen wird; viele Äußerungen Kants zu Menschenrechtsfragen in den politischen Schriften führen hier zu berechtigtem Zweifel. Entscheidend für die gewöhnlich geteilte Einschätzung Kants ist besonders die einschlägigen Passage aus dem ‚Zweiten Abschnitt‘ der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV 434 f.; Hervorhebungen C.H.), wo es heißt:

Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfniß vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d.i. einem Wohlgefallen am | bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemüthskräfte, gemäß ist, einen Affectionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Werth, d. i. einen Preis, sondern einen innern Werth, d. i. Würde.

Kant bringt hier klar zum Ausdruck, dass wir die MW dem Marktgeschehen und der Relativierung entzogen sehen möchten und stattdessen als etwas absolut Wertvolles, in der Person selbst Gelegenes ansehen. Wenig später im Text sagt er erläuternd (IV 435 f.):

Und was ist es denn nun, was die sittlich gute Gesinnung oder die Tugend berechtigt, so hohe Ansprüche zu machen? Es ist nichts Geringeres als der Antheil, den sie dem vernünftigen Wesen an der allgemeinen Gesetzgebung verschafft und es hiedurch zum Gliede in einem möglichen Reiche der Zwecke tauglich macht, wozu es durch seine eigene Natur schon bestimmt war, als Zweck an sich selbst und eben darum als gesetzgebend im Reiche der Zwecke, in Ansehung aller Naturgesetze als frei, nur denjenigen allein gehorchend, die es selbst giebt und nach welchen seine Maximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung (der es sich zugleich selbst | unterwirft) gehören können. Denn es hat nichts einen Werth als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Werth bestimmt, muß eben darum eine Würde, d.i. unbedingten, unvergleichbaren Werth, haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgiebt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.

Für den Kant der Grundlegung bildet das moralische Gesetz, die vernünftige Natur oder die Autonomie den Grund der absoluten Würde des Menschen. Auf Kants Äußerungen treffen, so zumindest die gewöhnliche Lesart der Stelle, alle sechs oben genannten Merkmale von MW1 zu.

Aber auch MW2 besitzt ein plausibles intuitives Fundament. Anhand eines prominenten Smith-Zitats lässt sich gut veranschaulichen, was mit MW2 gemeint ist. Es existieren durchaus bestimmte soziale Verhaltensstandards oder Güterausstattungen, die wir für maßgeblich für ein menschenwürdiges Leben halten. Dies ist der Punkt in Adam Smiths Der Wohlstand der Nationen (1776) (hg. v. H.C. Recktenwald, München 1978, 747):

Unter lebenswichtigen Gütern verstehe ich nicht nur solche, die unerlässlich zum Erhalt des Lebens sind, sondern auch Dinge, ohne die achtbaren Leuten, selbst aus der untersten Schicht, ein Auskommen nach den Gewohnheiten des Landes nicht zugemutet werden sollte. Ein Leinenhemd ist beispielsweise, genaugenommen, nicht unbedingt zum Leben notwendig. Griechen und Römer lebten, wie ich glaube, sehr bequem und behaglich, obwohl sie Leinen noch nicht kannten. Doch heutzutage würde sich weithin in Europa jeder achtbare Tagelöhner schämen, wenn er in der Öffentlichkeit ohne Leinenhemd erscheinen müsste. Denn eine solche Armut würde als schimpflich gelten [...]. Ebenso gehören heute in England Lederschuhe aus Lebensgewohnheit unbedingt zur notwendigen Ausstattung. Selbst die ärmste Person, ob Mann oder Frau, würde sich aus Selbstachtung scheuen, sich in der Öffentlichkeit ohne Schuhe zu zeigen.

Was Adam Smith zum Ausdruck bringt, ist, dass Armut unter Umständen ein menschenwürderelevantes Ausmaß annehmen kann: Wer im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts so unterprivilegiert war, dass er nicht einmal ein Leinenhemd und Lederschuhe besaß, war unmittelbar in seiner Würde bedroht. Die Stelle klingt fast wie eine paradigmatische Einführung von MW2, ohne dass von MW hier direkt die Rede ist. MW2 zeigt sich in solchen Fällen als eine kontextrelative Form des Besitzes von Gütern, die für die Selbstachtung einer Person konstitutiv sind.

Zum Wortfeld und zur Semantik von ‚Würde‘

‚Menschenwürde‘ ist allenfalls ein Wort der gehobenen Alltagssprache; sowohl im Sinn von MW1 wie von MW2 wird es selten verwendet. Auf welchen sprachlichen Grundlagen beruhen also die beiden Gebrauchsformen? Wie wird der Ausdruck ‚Würde’ gewöhnlich verwendet? Wir werden sehen, dass der Sprachgebrauch von MW1 kein Fundament in der Alltagssprache besitzt; das muss ihn jedoch nicht zwingend diskreditieren. Umgekehrt bestehen mehrere alltägliche Anknüpfungspunkte für den humiliationistischen Sprachgebrauch von MW2; diese Verbindungen führen aber keineswegs nur zu gewichtigen Vorteilen in der philosophischen Rekonstruktion.

(a) Absoluter Sprachgebrauch von ‚Würde‘

Im Alltag erkennen wir nur selten etwas einen Wert zu, der maximal, absolut und nicht-relativierbar ist, zudem stabil und invariant, nicht erwerbbar und nicht-verlierbar und der Rechtsansprüche begründet. Die einzigen in Betracht kommenden Beispiele ergeben sich aus den für uns wertvollsten Nahbeziehungen, insbesondere Eltern-Kind-Beziehungen. Hier sprechen wir jedoch nicht von Würde; außerdem gilt für Nahbeziehungen gerade nicht Universalität, sondern Partikularität und Exklusivität. Die Rede von einer absoluten MW (MW1) ist also ohne direkte alltagssprachliche Basis; es handelt sich klarerweise um einen Sondersprachgebrauch, der auf eine komplexe philosophische, theologische, juristische und politische Geschichte zurückweist. Dieser Verwendungsweise ist stets normativ, und dies sogar in einem besonders starken Sinn.

(b) Deskriptiver Sprachgebrauch von ‚Würde‘

Unter einem deskriptiven Sprachgebrauch verstehe ich eine Verwendung, bei der das Wort ‚Würde‘ ohne jede normative Wertung seitens des Sprechers erscheint. Für alle nachfolgenden Verwendungsweisen gilt, dass sie in diesem Sinn normativ neutral sein können – auch wenn die normative Gebrauchsform die häufigere oder natürlichere sein mag.

(i) Nicht-personale Würde – anforderungsbezogene oder leistungsbasierte Beispiele:
Hier ist an Fälle zu denken wie „ein würdiger Sieger sein“ oder „einer Auszeichnung würdig sein“. Man kann ein Auto oder einen Kühlschrank ohne Weiteres auch dann als „würdige Sieger eines Testvergleichs“ bezeichnen, wenn man Autos und Kühlschränke nicht schätzt und den Testsieg für unwich-tig hält; man drückt hiermit ja nur aus, dass das Testobjekt gemessen an den einschlägigen Regeln, Standards und Leistungsanforderungen den Sieg verdient hat. Bei einem solchen Sprachgebrauch ist Würde nahezu gleichbedeutend mit Wert; man könnte von einem emphatischen Äquivalent sprechen.

(ii) Nicht-personale Würde Beispiele aus dem Assoziationsfeld des Adels: Bestimmte natürliche oder künstliche Entitäten strahlen Würde aus (oder können dies tun), etwa Wale, Elefanten, Raubkatzen oder Wälder, Meere, Hochgebirge sowie Schlösser, Tempel, Kathedralen und Denkmäler; dabei impliziert der Würdebegriff eine Komponente des Erhabenen, Großen, Göttlichen, Edlen oder Aristokratischen. Letzteres gilt auch für Verhaltensformen (vgl. „eine Herausforderung mit Würde meistern“ oder „sich würdelos aufführen“). Es scheint dieser Sprachgebrauch zu sein, der in Friedrich Schillers Über Anmut und Würde (1793) eine besondere Rolle spielt. Die Autoren Ph. Balzer, K.P. Rippe und P. Schaber (1998) unterscheiden hierbei zwischen ästhetischer und expressiver Würde: erstere bezieht sich auf Naturdinge, letztere auf menschliches Verhalten. Die Rede vom ‚Adel‘ eines Tieres oder der ‚Erhabenheit‘ eines Berges braucht aber nicht bloß ästhetisch zu sein.

(iii) Personale Würde – eigenschaftsbasierte und verhaltensspezifische Beispiele: Primär verwenden wir das Begriffsfeld ‚Würde, würdig, würdevoll, würdelos‘ in Bezug auf Personen: „Jemand ist einer Sache würdig“ oder „Jemand hat sich würdevoll verhalten“ usw. Die fragliche Würde hängt dabei mit Eigenschaften und Verdiensten der Person zusammen, welche seltener dauerhaft als vielmehr vorübergehend sind. Hier spielt auch das Phänomen der Selbstentwürdigung eine wichtige Rolle, das mit der Verletzung sozialer Verhaltensstandards zu tun hat und mit Peinlichkeit, Gesichtsverlust oder Befremden verbunden ist, z. B. durch Kriecherei, törichtes Gerede, lächerliche Kleidung, aufdringliches Verhalten, exzessiven Alkoholkonsum usw.

(iv) Personale Würde – rollen- und statusspezifische Beispiele: Ein zentrales Beispiel bildet hier der Begriff der Amtswürde: Jemand erhält als Amtsinhaber einen besonderen Wert zugeschrieben, gegenüber dem man Achtung, Respekt, Anerkennung oder Reverenz aufbieten muss. Auch dies lässt sich rein deskriptiv feststellen. Normativ ist diese Würde zum einen in dem Sinn, dass sie Anderen Verhaltensgebote oder Pflichten auferlegt (Normativität1). Normativ ist sie zum anderen für den Würdenträger selbst: Denn sie erlegt diesem Pflichten der angemessenen (‚würdigen‘) Amtsführung auf (Normativität2). Dieser Punkt – nämlich die drohende Selbstentwürdigung – gilt, wie wir sahen, bereits für (iii). Ähnlich wie mit Amtswürde verhält es sich mit anderen Formen des rollenspezifischen Würdebesitzes: vgl. etwa professionelle Würde einer Opernsängerin, die es dieser verbieten würde, Zusatzeinnahmen durch Auftritte bei Volksfesten anzustreben.

(v) Personale Würde – selbstachtungsbasierte Beispiele: Spätestens hier wäre es künstlich, den einschlägigen Sprachgebrauch als rein deskriptiv zu bezeichnen. Zumindest für sich selbst kann man eine selbstachtungsbasierte Würde nur in Anspruch nehmen, wenn man sich ein hinreichendes Maß an Selbstachtung tatsächlich entgegenbringt. Auch in Bezug auf andere Personen bedeutet die Feststellung von selbstachtungsbasierter Würde fast unmittelbar zugleich deren normative Anerkennung. Immerhin denkbar sind jedoch Fälle, in denen jemand rein deskriptiv – gemessen an dieser oder jener Selbstkonzeption oder Lebensform – von Würde spricht. Beispielsweise könnte man daran erinnern, dass es in einigen sehr traditionellen Gesellschaften den Stolz und Selbstachtung (und gemäß MW2 somit auch die Würde) von Männern verletzt, wenn ihre Ehefrauen einer Lohnarbeit nachgehen müssen. Auch wenn uns ein solcher verletzter Stolz normativ unnachvollziehbar erscheinen dürfte, mag er deskriptiv tatsächlich bestehen. Grundsätzlich bezieht sich der Ausdruck ‚Würde‘ hier auf alle Fälle, für die die Vermeidung von Demütigung, Herabsetzung, Beschämung, und Erniedrigung grundlegend sind. In gewisser Weise scheint (v) ein bloßer Unterfall von (iii) und (iv) zu sein: nämlich der der grundlegenden sozialen Anerkennung eines Menschen durch andere Menschen.

Wichtig scheint mir zu betonen, dass nicht alle Fälle von (v) zugleich Fälle von MW2 sind: Manche Selbstachtungsprobleme wie das zuletzt genannte (der in ihrem Stolz verletzten Ehemänner) sind z. B. zu traditionell, idiosynkratisch oder zu marginal, um als menschenwürderelevant gelten zu können. Sofern aber (v) tatsächlich mit MW2 zusammenfällt, muss man beachten, dass sich dieser Sprachgebrauch wiederum von (iii) und (iv) unterscheidet; denn anders als diese darf (v) nicht auf individuelle, kontingente oder situative Merkmale bezogen werden, jedenfalls solange MW allen menschlichen Wesen gleichermaßen zukommen soll. Ein anderer Punkt von Bedeutung ist, dass (v) ebenso wie MW2 offenbar den Aspekt Normativität2 enthält.

V. Zwei Thesen zum Verhältnis der verlierbaren und der unverlierbaren Menschenwürde

Erste These: MW1 und MW2 passen insgesamt schlecht zusammen; sie sind weder deckungsgleich noch eignet sich eine der beiden zur Explikation der anderen. Neben den anfangs (in II.a und II.b) genannten Unterschieden besitzen MW1 und MW2, wie sich eben zeigte, folgende differente Merkmale: (1) MW1 ist, anders als MW2, nicht in unserem alltäglichen Sprachgebrauch verankert und wird damit negativ formuliert „zu einer Leerformel neben anderen“ (wie dies Panajotis Kondylis ausgedrückt hat) oder positiv gefasst zu einer „nicht interpretierten These“ (so Theodor Heuss). (2) MW1 wird üblicherweise zur emphatischen Begründung von Menschenrechten herangezogen, gerade unter prekären Realisierungsbedingungen von Menschenrechten; das ist für MW2 zumindest problematisch, da ihre Grundlagen immer nur kontextrelativ zu verstehen sind. (3) MW1 kennt, anders als eigenschafts-, verhaltens- und rollenspezifische Würdeformen nur Normativität1 (fremdbezogen zu respektierende Würde), keine Normativität2 (selbstbezogen zu respektierende Würde). (4) MW1 beruht nicht auf dem faktisch würdigen Verhalten von Individuen, nicht auf Würdebewusstsein ihres Trägers und ebenso wenig auf der faktischen Anerkennung der Würde durch die Anderen; die unverlierbare MW soll faktische Anerkennung vielmehr erst erzeugen. Die unverlierbare MW beschreibt nicht eine soziale Praxis, sondern begründet sie. Im Unterschied zu MW1 gibt es bei eigenschaftsbezogenen, verhaltens- und rollenspezifischen Würdeformen keine Absolutheit (man kann z.B. „in gewissem Ausmaß sein Amt beschädigen“, also graduell gegen Würdestandards verstoßen), keine Egalität, keine Besitzpersistenz und keine Universalität.

Mir scheint, dass MW1 und MW2 so different sind, dass sich die eine Verwendungsweise des MW-Begriffs mit der anderen nicht zur Deckung bringen lässt. Ebenso wenig darf die eine Seite die andere zur Explikation ihres Selbstverständnisses heranziehen. Weder dürfen Vertreter(innen) von MW1 suggerieren, die unverlierbare Würde habe etwas mit Selbstachtung zu tun, noch passt es zur Verteidigung von MW2, für sie Kontexttranszendenz und Universalität in Anspruch zu nehmen.

Zweite These: MW2 drückt nicht den Kern unserer Intuition von Menschenwürde aus. Nur in einem ganz oberflächlichen Sinn scheint es naheliegend, entweder MW1 mithilfe von MW2 zu rekonstruieren (da Letztere fassbarer und alltagsnäher wirkt als Erstere) oder aber auf MW1 zugunsten von MW2 zu verzichten. Zwar sind Fälle von Demütigung, Erniedrigung, Missachtung und Herabsetzung normativ von erheblicher Bedeutung. Aber es scheint mir falsch zu sein, dass wir mit MW ausschließlich oder primär solche Fälle meinen.

Ich möchte sechs Einwände gegen den Humiliationismus formulieren:

(1) Der Humiliationismus suggeriert fälschlich, alles sei menschenwürderelevant, was mit den Phänomenen der Selbstachtung zu tun hat. Es gibt jedoch zahlreiche Phänomene der Wahrung oder Verletzung von Selbstachtung, die nicht zu Fragen der MW werden. Humiliationisten müssen folglich angeben, worin das Zusatzkriterium für die Teilmenge der menschenwürderelevanten Selbstachtungsprobleme, was ihnen m. E. nicht gelingt.

(2) Es existieren umgekehrt ebenso viele menschenwürderelevante Probleme, die nichts mit Selbstachtung zu tun haben. Beispiele ergeben aus sämtlichen Grundrechten in den einschlägigen Katalogen: So kann jemandes MW durch Einschränkung seiner Meinungsfreiheit tangiert sein, ohne dass er sich gedemütigt fühlen muss.

(3) In der Beschreibung der normativen Vorrangigkeit von MW – und häufig auch ihrer Universalität – scheinen mir Humiliationisten häufig illegitime Anleihen bei MW1 zu machen, obwohl sie eine Theorie basierend auf MW2 vertreten. Andererseits übernehmen sie implizit auch Elemente aus Ethiken der Selbstwahl und der Selbststeigerung (Nietzsche, Camus), so dass eine besonders fragwürdige Gesamtposition entsteht. Mit der Selbstachtung kommt ein Moment des Ästhetischen und Aristokratischen ins Spiel, das mir mit MW1 unvereinbar scheint.

(4) Würde MW insgesamt auf MW2 beruhen, dann würde der MW-Begriff zu einer individuenrelativen, sozialgruppenrelativen, kultur- und epochenrelativen Vorstellung transformiert werden; denn Selbstachtung ist stark kontextdependent. Dies würde eine Preisgabe des Universalismus bedeuten mit der Konsequenz, dass MW keine begründende Funktion für die Menschenrechte mehr wahrnehmen könnte.

(5) Anders als beim Sprachgebrauch von MW1 sagt man mit Blick auf MW2, dass sich der Täter eines menschenwürderelevanten Verbrechens selbst entwürdigt (so etwa Stoecker 2003).
(6) Würde MW insgesamt auf Selbstachtung beruhen, so würde sie (ganz oder teilweise) von außen ‚verliehen’ werden; dann entsteht aber die Zusatzfrage, welche Entitäten es aus welchem inhärenten Grund wert sind, Objekte einer solchen wertverleihenden Anerkennung zu werden.

Vielleicht der zentrale Einwand ist der: Weder signalisiert das faktische Auftreten des psychischen oder mentalen Vorkommnisses ‚verletzte Selbstachtung‘ (z.B. in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung) per se einen menschenwürderelevanten Punkt noch das Nichtauftreten; das psychische/mentale Vorkommnis ‚verletzte Selbstachtung‘ ist für Menschenwürderelevanz einfach gleichgültig. R. Stoecker erkennt dieses Bedenken explizit an, wenn er schreibt (2003: 139): „Es ist nicht nur das Gefühl der Beschämung, das Demütigungen moralisch diskreditiert, es ist der Akt der Demütigung selbst. […] Jemanden zu demütigen, ist etwas anderes als ein bestimmtes Gefühl der Beschämung und Erniedrigung hervorzurufen. […] Man kann jemanden demütigen, ohne dass er es als Demütigung bemerkt, interpretiert, wahrhaben will“. Stoecker hat sicher recht, verhält sich damit aber destruktiv gegenüber seiner eigenen Position, indem er eine individuenrelative und kontextualistische Auffassung von MW durch eine angedeutete objektivistische Theorie ersetzt.

Ich möchte meinen Punkt an drei Beispielen illustrieren: Erstens, angenommen, die des islamistischen Terrorismus verdächtigen Häftlinge von Guantanamo Bay wären nicht durch permanente Fußfesseln, Waterboarding und Elektroschocks gedemütigt und nicht mit Aktionen wie der konfrontiert worden, ein zerfetztes Exemplar des Koran die Toilette hinunterspülen zu müssen. Vielmehr hätte man sie gut versorgt und freundlich sowie respektvoll behandelt. Würde dies die Menschenwürdeverletzung aufheben, die in langfristiger Inhaftierung auf bloßen Verdacht und ohne anwaltliche Unterstützung liegt? Ich meine nein; das Gefühl der Herabsetzung macht die objektive Schädigung zwar zweifellos spürbarer und subjektiv noch weniger erträglich, bildet aber nicht das MW-relevante Element des beschriebenen Falls. Zweitens, angenommen, ein politischer Dissident in einem autoritären Staat (z.B. in China) würde ehrenvoll hingerichtet werden, nachdem er genügend Zeit erhielt, sich von seinen Angehörigen persönlich zu verabschieden und seinen letzten Willen zu Papier zu bringen. Wäre seine Hinrichtung damit kein menschenwürderelevantes Problem mehr? Das wird wohl niemand ernsthaft behaupten wollen. Drittens, angenommen, ein Vergewaltigungsopfer besäße eine so stabile Selbstachtung, dass sich bei der betreffenden Person kein Zusammenhang zwischen Menschenwürdeverletzung und verletzter Selbstachtung ergeben würde. Wäre dann ihre Menschenwürde nicht im Spiel? Oder hätte sie dann gar einen guten Grund, ihre Selbstachtung aktiv zu mindern, weil ihre Würde verletzt wurde? An dieser Stelle wird wohl besonders deutlich, dass die Grundidee von MW2 falsch ist: Bleibt jemand trotz objektiver Demütigung bei seiner vollen Selbstachtung, dann hat er weder unwissentlich einen Würdeverlust erlitten, noch sollte er sein Selbstbild entsprechend der objektiven Herabsetzung als lädiert ansehen.

VII. Mein Vorschlag: Menschenwürde ohne Fokussierung auf Selbstachtung

MW1 und MW2 beinhalten bei genauerem Hinsehen grundlegend verschiedene, ja unvereinbare Begriffe von MW. Hinter der verlierbaren Menschenwürde (MW1) steht in Wahrheit die Selbstachtung, d. h. die Sensibilität für Demütigungen. Die unverlierbare Würde (MW1) bezeichnet dagegen nichts von sich aus; man muss ihr erst einen nachvollziehbaren Inhalt geben. Sicher scheint mir aber, dass MW2 nicht die gesuchte Explikation von MW1 liefern kann. MW1 steht für dasjenige, was sich – worum es sich auch immer handeln mag – dazu eignet, Menschenrechte oder moralische Rechte zu begründen. Zwei Probleme scheinen in Bezug auf MW1 vordringlich, nämlich zum einen: Lassen sich die anspruchsvollen Teilgehalte von (vgl. oben II. a) mit unseren moralischen Intuitionen vereinbaren? Als problematisch erscheint zumindest die Ideen der strikten Unabwägbarkeit und der Kategorizität. Vielleicht wird man in einer revidierten Verteidigung von MW1 auf diese verzichten müssen. Und zum anderen: Welche philosophisch plausible inhaltliche Füllung lässt für MW1 finden, wenn MW2 tatsächlich nicht in Betracht kommt?

Nach meiner Auffassung sollte man unter Menschenwürde die rationale Autonomie oder vernünftige Handlungsfähigkeit verstehen. Ich plädiere damit für die Beibehaltung eines starken Menschenwürdebegriffs, spreche mich aber zugleich dafür aus, MW1 pointiert von MW2 zu unterscheiden. Es scheint mir wünschenswert, den rhetorischen Erfolg von MW2, der sich in vielen einschlägigen Publikationen spiegelt, rückgängig machen ließe. MW2 stiftet erhebliche Verwirrung. Mein Vorschlag ist es, den Ausdruck ‚Menschenwürde‘ als die Grundlage alles dessen zu interpretieren, worauf man ein moralisches Recht hat. Man kann moralische Rechte verletzen, nicht aber die Menschenwürde im für die Philosophie entscheidenden Sinn: dem der Unantastbarkeit. Alltagssprachlich wirkt dies zwar künstlich; philosophisch scheint mir dies aber vorziehenswert zu sein.

Im Text genannte Literatur:

Balzer, Philipp/Rippe, Klaus-Peter/Schaber, Peter (Hgg.): Menschenwürde vs. Würde der Kreatur, Freiburg/München.

Brudermüller, Gerd/Seelmann, Kurt (Hg.) 2008: Menschenwürde. Begründungen, Konturen, Geschichte, Würzburg.)

Lohmann, Georg 2010: ‚Menschenwürde’ – Leerformel oder Neuentwurf der Menschenrechte?, in: Ammer, Christian / Bülow, Vicco von / Heimbucher, Martin (Hg.) 2010: Herausforderung Menschenwürde. Beiträge zum interdisziplinären Gespräch, Neukirchen-Vluyn, 101-128.)

Margalit, Avishai 1997: Politik der Würde, Berlin.
Menke, Christoph / Pollmann, Arnd 2007: Philosophie der Menschenrechte. Zur Einführung, Hamburg.

Müller, Jörn 2008: Ein Phantombild der Menschenwürde: Begründungstheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenwürde, in: Brudermüller/Seelmann, Menschenwürde. Begründungen, Konturen, Geschichte, Würzburg., 117-48.

Pollmann, Arnd 2005: Würde nach Maß, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 53, Nr. 4, 611-619.

Schaber, Peter 2003: Menschenwürde als Recht, nicht erniedrigt zu werden, in: Stoecker 2003, 119-131.

Schaber, Peter 2004: Menschenwürde und Selbstachtung. Ein Vorschlag zum Verständnis der Menschenwürde, in: Studia philosophica, Jg. 63, 93-106.

Stoecker, Ralf (Hg.) 2003: Menschenwürde. Annäherungen an einen Begriff, Wien.

Stoecker, Ralf 2004: Selbstachtung und Menschenwürde, in: Studia philosophica, Jg. 63, 107- 119.

Stoecker, Ralf 2010: Die philosophischen Schwierigkeiten mit der Menschenwürde – und wie sie sich vielleicht auflösen lassen, in: ZiF-Mitteilungen 1/2010, 19-30.

Thies, Christian (Hg.) 2009: Der Wert der Menschenwürde, Paderborn u. a.

Tiedemann, Paul 2006: Was ist Menschenwürde? Eine Einführung, Darmstadt.

UNSER AUTOR:

Christoph Horn ist Professor für Philosophie an der Universität Bonn.