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BERICHT

Olaf Breidbach:
Philosophie des Geistes: Gehirn und Geist

Olaf Breidbach: Gehirn und Geist. Ansätze zu einem neuen Verständnis

Rücksichten

Das Denken ist wieder aufs Hirn gekommen. Das Innere des Schädelraumes zeigt sich zusehends als der Bereich, in dem die Dekodierung unserer Person abzulaufen scheint: D. Butler konnte denn auch vor kurzem in Nature (391,1998: 316) diskutieren, ob und wenn ja inwieweit die nichtinvasiven Verfahren der Neurophysiologie, die die Stoffwechselverschiebungen in unserem Hirn registrieren, unsere Persönlichkeit dekodieren. Stehen wir also 1998 dort, wo etwa der Wiener Physiologe Sigmund Exner 1894 schon einmal war, als er in seinem Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen Wille, Ästhetik, das Urteilen und die Gefühlswelt neuronal erklären wollte?

Der Blick zurück ist für die Moderne insoweit keineswegs unangemessen. Die Neuro-Philosophie, die der in der "Decade of the Brain" auch auf den Geist ausgreifenden Physiologie folgte und das Aperçu von F. Crick "Kann das Hirn das Hirn begreifen?" zu einer philosophischen Positionierung nutzte, besetzt ein Fundament, das auch in seinen Detaillierungen auf die Konzeptionslandschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurückweist. Patricia Churchlands "Neurophilosophy", die diesen neuen Zweig des philosophischen Argumentierens zumindest auf den Begriff brachte, steht in der Argumentationsstruktur, der Darstellung der Beweisspektren und selbst in den konzeptionellen Linien, die sie in der Zuordnung von Hirn und Geist aufweist, in direkter Folge von W. Wundts physiologischer Psychologie von 1874. Insgesamt zeigt sich in all diesem, dass wesentliche Momente der derzeitigen Diskussion um Mind und Brain im Bereich von Konzeptionen liegen, die entworfen wurden, bevor die Entwicklungen der methodisch fein differenzierten Neurophysiologie ansetzten. Dies muss beunruhigen.

Andererseits wäre zu fragen, ob im Blick zurück die seinerzeitige Argumentation für die heutige Diskussion fruchtbar gemacht werden kann. Ansätze hierzu finden sich etwa in der Rekonstruktion einer Psychologie, die versuchte, die Introspektion experimentell verfügbar zu machen. Geist und damit das Bewusstsein wären demnach in einem Phänomenkomplex zu fassen, der in seiner eigenen Problemschichtung aufzuarbeiten und nicht einfach auf "Physiologie" zu reduzieren wäre. Bewusstsein und gegebenenfalls auch dessen neurobiologische Grundlagen sind entsprechend nicht mehr nur in Blick auf die sprachliche Kodierung unserer Bewusstseinsakte, sondern in einer vorsprachlichen Konsolidierung der möglichen Aktionen eines Bereichs des Geistigen zu finden. Mit der Entwicklung von nichtinvasiven Techniken der Medizin zur Charakterisierung von Funktionszuständen des Hirngewebes gewann die Frage einer Ortung von Funktionen neue Bedeutung. Deutlich wurde aber etwa nach den Experimenten des Neurologen G.A. Ojemann, der die Ausfälle im Sprachverhalten von Patienten während kurzzeitiger "Narkose" definierter kleiner Hirnbereiche registrierte, dass Ortung nicht mehr eine feste Lokalisierung von Einzelfunktionen im Sinne einer festen Implementierung von Funktionsteilbereichen sein kann. Das Hirn zeigt sich gerade in den Bereichen, die komplexere Funktionen enkodieren, als eine vergleichsweise plastische Struktur. Die physiologische Bestimmung des Kognitiven macht entsprechend zunehmend von Auffassungen Gebrauch, denen zufolge die adäquate Funktionalität des Hirngewebes nur aus der komplexen Verschaltung der Einzelelemente des Hirnes zu begreifen ist, die in der individuellen Konfiguration variabel und demnach nur in einer komplexen Raum-Zeitdynamik adäquat darstellbar ist.

Entsprechend sind in der theoretischen Neurowissenschaft die vereinfachenden Bilder einer neuronalen Vernetzung aufgegeben worden und durch Vorstellungen ersetzt, die versuchen, nicht feste Vernetzungen, sondern offene Kopplungsfunktionen etwa im Sinne von Messungen zur zeitlichen Korrelation von Ereignisfolgen im Hirn und deren möglichen Transformationen darzustellen. Dabei sind vereinfachende Vorstellungen von Parallelverarbeitungsfunktionen, wie sie in künstlichen Neuronalen Netzen implementiert sind, weitgehend als artifizielle, wenn auch für bestimmte technische Problemstellungen höchst effiziente Lösungen erkannt worden. Ausgangspunkt der erweiterten Überlegungen zu einem theoretischen Verständnis von Hirnfunktionen ist die Analyse der lokalen Strukturierung und des hohen Durchmischungsgrades der die Hirnfunktionen konstituierenden Elemente. Zusehends deutlicher wird dabei, dass ein derartiges Gewebe nicht im Sinne einfacher Repräsentationen von Reizmustern der Außenwelt funktioniert. Abbildungen in das System unterliegen den durch die physiologischen Grundmechanismen vorgegebenen systeminternen Bewertungsmechanismen. Das Konzept der Internen Repräsentation (Holthausen in 9) geht dabei soweit, die Bewertungsfunktionen des Systems als Informationsmaß zu definieren und von dort her die Welterfahrung nicht als Abdruck des Aussens in das Innen, sondern als eine binneninduzierte Strukturierung des verfügbaren Datenraumes zu beschreiben.

Insoweit gelangt der entsprechende Theorieansatz zu einer auch physikalisch schlüssigen Argumentation, die externe Bewertungsfunktionen und etwaige Randvorgaben für das entsprechende System aus (selbstorganisiert verstandenen) Binnenfunktionen ableitet. Darin sind die Aussagen der Assoziationspsychologie von James Mill als Folgerungen einer strikt physikalischen Theorie interner Repräsentationen zu deuten. Insoweit erstellen sich damit die Konturen einer Neurosemantik. Ferner findet sich hierin ein einfaches Modell von Intentionalität, das Intentionalität aus den physikalisch zu rekonstruierenden Eigenheiten entsprechend strukturierter Systeme ableitet. In Folge ist das Nervensystem nur als eine mögliche Realisierung eines kognitiven Systems zu verstehen.

Im Kontext der von der analytischen Philosophie geprägten Zugangsweise zum Problem einer Bestimmung von Gehirn und Geist finden derartige Überlegungen bisher allerdings nur zögernd Aufnahme. Fokussiert ist die Betrachtung hier etwa bei D. C. Dennett auf die Frage einer vergleichend-evolutionsbiologischen Darstellung der Entwicklung von Hirn und Verhaltensstrukturen, wobei die rezente Kritik am Instrumentarium einer Verhaltensforschung oder auch die neueren Entwicklungen entwicklungsbiologisch ansetzender Analysen der Evolution von Hirnstrukturen kaum eingebunden werden. Demgegenüber gewinnen Vorstellungen Raum, die implizit an der Grundkonzeption des Darwin-Freundes Georg Romanes anknüpfend versuchen, analoge Strukturen in der Verhaltensorganisation verschiedener Organismen aufzuweisen, um von dort her Material für eine weitergehende Strukturierung des Phänomenenbereiches Kognition zu erhalten. Ausgangspunkt derartiger Überlegungen sind dabei zugleich mehr oder minder präzise geortete Vorstellungen von Funktionslokalisierungen, wie sie im Kontext der derzeitigen Rezeption nichtinvasiver Methoden der klinischen Hirnforschung zumindest in einer Außen
perspektive neue Kontur gewinnen. Die Hirnforschung selbst arbeitet an der Auflösung derartig vereinfachter Skizzen möglicher Funktionsschichtungen.

Der Blick nach Innen

Die Grunddisposition der Erregungsschichtungen selbst in Hirnarealen, die sehr nahe an Reizeingabebereiche geschaltet sind, zeigt, dass die Qualität der Reizverarbeitung (die durch Reize induzierten Erregungen sind im Nervensystem nicht besonders “markiert”) von der Grundaktivität des jeweiligen Gehirnbereiches bestimmt ist. Experimente am Geruchssystem des Kaninchen hatten aufgewiesen, dass eine Erinnerung an einen Duft bei diesen Säugern nicht unbedingt mit einer festgefrorenen internen Erregungskennung korreliert ist. Der Physiologe G. Freeman konnte vielmehr zeigen, dass weitere Lernvorgänge die physiologische Kennung eines Signals, wie sie sich hirnintern abbildet, gegenüber der initiierten primären Grunderregungskennung variieren, ohne dass dabei die Erinnerung der Tiere an den ersten Reiz verloren ging. Die binneninduzierte Wichtung der Informationsverarbeitung ist hier experimentell belegt.

Die Vorstellung einer derartigen internen Dynamik koinzidiert mit den Resultaten der anatomischen Studien der Gruppe um den Neuroanatomen V. Braitenberg. Aus der Analyse der numerischen Dimensionen der Verschaltungsmodi im Hirn wurde ein Neuansatz zum Verständnis der hirninternen Verarbeitungsmodi erarbeitet. Die Funktion des Hirnes ist durch ihr lokales Verknüpfungsmuster nun aber nicht festgezurrt. Die hochgradige Vernetzung und die Modifizierbarkeit der Verknüpfungsstrukturen offeriert qua neuroanatomischem Material ein Plafond, das ein hochvariables Instrument physiologischer Verknüpfungsfunktionen darstellt. Eine Erregungseingabe führt innerhalb weniger Zeitschritte schon zu einer komplexen Durchmischung von Erregungsmustern. Dabei sind etwaige Erregungskopplungen in diesem System keine konstanten Größen. Beschrieben werden müssen vielmehr Zuordnungsdynamiken, deren Transformationseigenschaften sich nicht in einem bloßen räumlichen oder zeitlichen Zuordnungsverhältnis, sondern allein in einer komplexen Raum-Zeitdynamik beschreiben lassen. Die zu erwartende Komplexität einer Schichtung der Hirnreaktionen wird durch auf F. Cricks “searchlight-hypothesis” zurückgehende Vorstellungen umrissen: Hiernach werden durch Aktivierung thalamo-cortikaler Verbindungen definierte cortikale Bereiche in ihrem Erregungsprofil "angehoben", so dass ähnlich wie bei einem optimal eingestellten Verstärker nunmehr auch kleinere Erregungseinstreuungen registriert und weiter prozessiert werden können: Im Effekt wird so eine Art "Aufmerksamkeitsfocus" in der Hirnrinde induziert.

Lokale Verknüpfungen lassen insbesondere bei einer fortlaufenden Aktivierung von Hirnteilarealen ein komplexes Durchdringen und Überlagern von Einzelerregungsmustern erwarten, das nur dann, wenn diese kurzfristigen Teiloszillationen der Hirnaktivierung noch einmal "akzentuiert" werden, zu einer langfristigen Stabilisierung einzelner Erregungskopplungen führen können. Solch eine "Akzentuierung" kann durch langfristige Oszillationskopplungen, wie sie in corticothalamischen Verbindungen, also Verbindungen vom Cortex an die zumindest in Teilen sehr präzise rückverschalteten basaleren Hirnbereiche zur Verfügung stehen, implementiert werden. Neben derartigen Erregungsüberlagerungen in einem zumindest teilweise festgefroren erscheinenden Netz von Nervenzellverbindungen finden wir dann die Möglichkeit der Modulation einzelner Verknotungen in diesem Gefüge. Durch diese kann aktivitätsabhängig die physiologische Kennung des jeweiligen Gefüges modifiziert werden. Damit wird es möglich, Variationen in der Reizbewertung eines Systems zumindest mittelfristig zu konsolidieren. Diese Betrachtung des Hirns zeigt insoweit ein zumindest in seiner Mikrostruktur höchst dynamisches Gefüge. In der physikalischen Analyse zeigt sich ferner, dass interne Wichtungsfunktionen charakterisierbar sind, die die Bewertungen eines derartigen Systems ohne Außenvorgaben strukturieren und eben kein unbestimmtes Überund Nebeneinander von Teilreaktionen, sondern ein sich fortlaufend in seiner physikalischen Kennung diversifizierendes System entstehen lassen. Dessen Erregungen “verdriften” nicht chaotisch in dem vernetzten Gefüge der Funktionselemente des Hirnes, den Neuronen; vielmehr wird die Verarbeitungseigenart eines solchen Systems in einer Variation der lokalen Kopplungen der Elemente fortlaufend spezifiziert: Eine Außenerregung überlagert sich diesem Binnenerregungsgefüge. Es findet sich also keine einfache Repräsentation des Reizmusters, sondern eine komplexe, maßgeblich durch den momentanen Systemzustand geprägte außenreizinduzierte Antwort. In einer Folge von Erregungszuständen determiniert insoweit der Systemzustand zur Zeit tn-1 die Antwortcharakteristika zur Zeit tn. Eine Reizeingabe zu einem Zeitpunkt tn wird demnach entsprechend der Vorgabe in tn-1 eingeordnet: Eine Erregungstextur, die in das System eingegeben wird, paßt entweder in ein vorhandenes Erregungsfeld des Systems, oder sie induziert ein neues Erregungsfeld, oder sie klingt ohne weitergehenden Effekt ab. Im Falle 1 wird diese Neueingabe als ein ”bekanntes” Moment, d.h. als eine Erregungseingabe, die intern mit einem schon vorgegebenen Zustand korreliert, bearbeitet. Im Falle 2 wird diese Neueingabe als neuinduziertes Erregungsgefüge prozessiert. Dabei läßt sich zeigen, dass derartiges Neues nunmehr auch in einer Folge von internen Abbildungen in seiner Zuordnung zu vorhandenen Erregungskennungen des Systems bewertet werden kann. Dies erfolgt derart, dass die sich überlagernden Erregungsteilfolgen als Variationen von sich einschwingenden dynamischen Systemzuständen zu bestimmen sind. Das Resultat einer derartigen Dynamik ist ein System, das seine Reizeingaben auf Grund seiner "Erfahrung" fortlaufend diversifiziert und dabei nach seinen “Erfahrungsvorgaben” bewertet. Es liegt nahe, von hier einen sehr direkten Bezug zu dem Beschreibungsmuster einer Assoziationspsychologie zu gewinnen, wie sie schon für die Hirnforschung des 19. Jahrhunderts charakteristisch war.
Damit verbunden ist eine neue Auffassung einer Informationstheorie, die, aufbauend auf Gedanken des Physikers E. Pfaffelhuber (die später insbesondere auch von dem Neuroinformatiker G. Palm fortgeführt wurden) nicht etwa die Störung einer vorgegebenen und bekannten Information mißt, sondern eine "Information" als eine Größe bestimmt, die relativ auf die Erregungskennungen eines Systems y zu beziehen ist, und sich demnach als Eigenschaft der Topologie (im mathematischen Sinne) eines Systems verstehen läßt. Das Resultat einer entsprechenden Darstellung steht kontrovers zu dem mittlerweile aber auch aufgegebenen Modell eines Expertensystems, das nur in erster Näherung einen Ansatz zum Verständnis der Organisation kognitiver Systeme erlaubt. Was weiß denn auch eine Schabe a priori von dem Hausmüll, der sie in einer Bonner "Standardwohnung" erwartet? Um die Funktionen der Verhaltenskoordination des "Systems" Schabe zu begreifen, müssen die interne Kennungen des entsprechenden Nervensystem aufgezeichnet werden. Daheraus sind dann etwaige Reizqualifizierungen dieses Organismus zu verstehen. Natürlich “besitzt” ein Insekt auch Reflexfolgen. Entsprechend kann es seine Verhaltensprogramme dann in Teilen auch ohne derartige interne Reflexionen ablaufen lassen: So wird etwa das weibliche Sexualpheromon einer Schmetterlingsart vom Männchen durch eine spezielle Sinneszelle aufgenommen, die dann dessen Motorik in solcher Weise in Gang bringt, dass das Tier in Richtung des jeweiligen Reizoptimums losfliegt. Kommt es der Reizquelle näher, wird ein optischer Reizeingang dominant, der dann im Nervensystems die vormaligen geruchsinduzierten “Steuerungsbefehle” überlagert. In solch einer “Reflex”folge findet ein männlicher Schmetterling sein Weibchen. In einer entsprechenden Situation bildet sich innerhalb der Tiere zentral demnach kein spezifisches “Weltbild” ab. Entsprechend können es sich männliche Gottesanbeter (Verwandte von Gespenstschrekken) denn auch leisten, bei ihrer Paarung bzw. im eigentlichen davor buchstäblich ihren Kopf zu verlieren, den das Weibchen während des eigentlichen Aktes dann genüßlich verspeist.
Verhaltenssteuerungsmechanismen, die nicht derart "reflektorisch" organisiert sind, werden demgegenüber durch die Erfahrung des Individuums modifiziert. Demnach sind sie auch auf eine zentrale Verrechnung angewiesen. Wie können sich dabei die Reaktionsfolgen des Nervengewebes in einem rein internen Funktionsabgleich bewerten? Als "Kontrollmechanismen" zur Verfügung stehen allein der interne Abgleich interner Repräsentationen sowie deren Passung in ein Außen, das nur als Zielort möglicher, dem Organismus eigenen Reaktionen Abbildung findet. "Wahr" oder "falsch" (im Sinne einer Deckung von innerer und äußerer Welt) sind demgegenüber nurmehr Außenbestimmungen, die ein Beobachter anlegt, diese Bestimmungen entsprechen aber nicht dem inneren Verarbeitungsmodus des reizverarbeitenden Systems. Im Resultat beschreibt dieser Ansatz damit "Subjekte", die nur in den Bereichen direkt und sicher miteinander kommunizieren können, wo diese jeweils längere Sequenzen stereotyper hochanaloger Reizeingaben erfahren haben.

Demgegenüber fasst der Physiker R. Penrose das Hirn als eine Maschinerie auf, in der nicht dessen Grundorganisationsmuster, sondern dessen Mikrostruktur für seine Funktion einschneidend sei. Hierbei führt ihn seine Betrachtungsweise zu einer Neubewertung der Funktionsarchitektur des Cortex. Zum Verständnis der kognitiven Funktionen sind dabei weniger die Kopplung von Neuronenverbänden und die mit physiologischem Instrumentarium zu erarbeitenden Messungen der Aktivitätsschichtungen der Neuronen von Bedeutung. Interesse gewinnt vielmehr eine Darstellung des Effektes schwacher Wechselwirkungen, die in Eigenheiten der Architektur der Nervenzellen einen prominenten Wirkort finden könnten. Im Resultat schlägt Penrose damit eine neuartige physikalische Inblicknahme des Problems Geist vor, die versucht, die engen Umschreibungen eines Physikalismus klassischer Art in den neu verfügbaren Strukturen einer nichtklassischen Physik neu zu fassen.

In Frage für eine Hirnphysiologie auch in dem skizzierten Neuansatz bleibt dabei aber, was unter kognitiven Funktionen zu verstehen ist. Ausgehend von einer in den evolutionsbiologisch motivierten Darstellungen der "philosophy of mind" und der aus der Diskussion um eine künstliche Intelligenz erwachsenen Problemstellung scheint es für sie günstig, zunächst eine operative Funktion kognitiver Phänomene anzustreben und hierin gegebenenfalls auch Teilphänomene wie Gedächtnis, Lernen, Intentionalität oder ein Selbst zu fassen. Dabei zeigt sich etwa am Begriff des Selbst -, dass eine entsprechende Operationalisierung noch weiter gehen kann und wie etwa im Lacanschen Ansatz einen Begriff wie "Selbst" nur als eine begriffliche Klammer zur Kennung einer operativen Folge von Reaktionen einer Entität nutzt, die so über ihre Handlungsstruktur charakterisiert ist. Strategie in einem solchen Tun ist, entsprechende Begrifflichkeiten im Rahmen einer physiologischen Charakterisierung weitgehend zu vermeiden und zu versuchen, die in ihnen umschriebene Reaktionsfolge möglichst detailliert in ein physiologisches Raster zu übersetzen. Wichtig für eine funktionierende Korrelation von Physiologie und einer derart ansetzenden Phänomenologie kognitiver Fähigkeiten wird damit eine dezidierte Analyse der jeweiligen von den nichtphysiologischen Einzelwissenschaften erarbeiteten Phänomenenschichtungen. In der Diskussion um das Problem emergenter Eigenschaften ist die Möglichkeit einer eindeutigen Kennung der methodologisch bedingten Perspektivierung von Teilsichten solcher Einzelwissenschaften besonders bedeutsam.
Für die modernen Ansätze der Hirnforschung verbietet sich derzeit ein umfassender reduktionistischer Zugriff auf die Begriffsspektren einer Theorie des Geistes. Möglich sind aber Bewertungen und eine physiologische Explikation von Teilmomenten des in diesen Begriffen umschriebenen Phänomenenraumes. Zu fragen ist, ob eine Darstellung dieser Zuordnungen sich dabei von vorneherein auf den Bereich beschränken muss, den schon Leibniz in seiner mathematischen Logik zumindest der Intention nach mechanisierte, oder ob in den Aussagen über Wille, Selbst und Ich auch der Bereich Thematisierung findet, der in einer Logik im Leibnizschen Sinne ausgeblendet war: Der Bereich der Vernunft.


LITERATUR ZUM THEMA

(1) Abeles, M.: Corticonics Neural circuits of the Cerebral Cortex. Cloth £ 50.--, pbk. £ 17.95, 1991, Cambridge University Press.
Darstellung des Konzeptes einer zeitlichen Erregungskopplung im Hirn und dessen Konsequenz für eine Hirnphysiologie.

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(7) Metzinger, T. (Hrsg.): Bewusstsein Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie. 3. ergänzte Auflage, 792 S., kt., DM 68.--, Schöningh, Paderborn. Umfangreicher Reader, in dem die Grundpositionen der aktuellen Philosophie des Bewusstseins dokumentiert sind; mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis.

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(10) Roth, G.: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. 360 S., kt., DM 24.--, 1996, stw 1275, Suhrkamp, Frankfurt. Einführende neurobiologische Darstellung des Standes der Hirnund Bewusstseinsforschung aus konstruktivistischer Perspektive.

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(12) Ziemke, A., Breidbach, O. (1996): Repräsentationismus was sonst? Eine kritische Auseinandersetzung mit dem repräsentationalistischen Forschungsprogramm der Neurowissenschaften. VI, 210 S., Ln., DM 98.--, 1996, Vieweg, Braunschweig. Sammlung von Überblicksarbeiten aus den Bereichen Neurowissenschaften, Philosophie und Kognitionswissenschaften.

UNSER AUTOR:

Olaf Breidbach ist Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften und Technik, Ernst Haeckel Haus, an der Friedrich Schiller Universität Jena.