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FORSCHUNG

Aristoteles: Kritik der Entwicklungstheorie

ARISTOTELES

Kritik der modernen Entwicklungstheorie


W. Jaegers Buch Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, 1923 erstmals erschienen, hatte einen Paradigmen-Wechsel in der Aristoteles-Forschung in Gang gesetzt. Vor seinem Erscheinen sprach man über eine einheitliche Aristotelische Philosophie, die sich auf die Pfeiler Logik, Physik, Metaphysik und Ethik stützte. Danach begann man zu unterscheiden zwischen dem Aristoteles des erhaltenen Corpus Aristotelicum und dem Autor der verlorenen Werke, zu dem viele interessante Bruchstücke aus verschiedenen Quellen bekannt sind.

Wie Abraham P. Bos von der Vrije Universiteit Amsterdam in seinem Beitrag

Bos, A.P.: Die Aristotelische Lehre der Seele: Widerrede gegen die moderne Entwicklungstheorie, in: Klein, H.-D.: Der Begriff der Seele in der Philosophiegeschichte (292 S., kt., € 25.—. 2005, Königshausen und Neumann)

darstellt, ging Jaeger aber noch einen Schritt weiter. Er versuchte, selbst im erhaltenen Corpus Spuren von älteren Auffassungen ausfindig zu machen und von seinen letzten Entwicklungsstufen abzugrenzen. Dabei erhielt er als Endergebnis erstens, den frühen, platonischen Aristoteles, zweitens den Philosophen in seiner Übergangsphase und drittens die reife Philosophie von Aristoteles zweiten Aufenthalt in Athen.

Die Seelenlehre des „Eudemus“

Die Hauptstütze von Jaegers neuem Ansatz war die Erkenntnis, dass in den Fragmenten des verlorenen Aristotelischen Dialogs Eudemus sehr nachdrücklich über ein Weiterbestehen der Seele nach dem Tode gesprochen wird, sowohl derjenigen der Hauptfigur Eudemus als auch derjenigen aller Menschen. Nach dem Tod kehrt die Seele an den Ort ihres Ursprungs zurück, so wie auch Odysseus nach vielen schrecklichen Entbehrungen den sicheren Hafen von Ithaka erreichte. Aristoteles soll in diesem Dialog auch von der Seele als eine „Art von Eidos“ gesprochen haben. Für Jaeger stand damit fest: Die Seele wird hier durch Aristoteles noch völlig platonisch als „eine Idee, ein Ideenartiges“ gesehen. Im Gegensatz dazu wird im erhaltenen Werk des Aristoteles an keiner Stelle von einem Fortbestehen der Seele gesprochen. Soweit Aristoteles im Corpus Aristotelicum über Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit sprach, tat er es immer im Zusammenhang mit dem Intellekt der Menschen. Denn Intellektualität gehört für Aristoteles einer anderen Dimension an als die verschiedenen Aktivitäten der Seele.

Jaeger meinte nun, dass laut den Darlegungen aus der reifen, definitiven Phase der Philosohie Aristoteles’ die Seele gleichzeitig mit dem Körper den Menschen verlässt. Die scharfsinnigen Forschungen des Holländers F.J.C.J. Nuyens bestätigten Jaegers Ansicht, und dieser folgten in großer Einmütigkeit so bekannte Aristoteles-Forscher wie
W.D. Ross, H.J. Drossaart Lulofs, J. Pépin und J. M. Rist.

Eine falsche Schlussfolgerung

Dass die Seele gleichzeitig mit dem Körper vergeht, steht aber in keinem der überlieferten Texte des Aristoteles. Es ist vielmehr eine Schlussfolgerung, die diese Autoren aus bestimmten Texten ziehen. Und, so Bos, diese Schlussfolgerung ist zu Unrecht gezogen worden. Auch im Altertum hat nie jemand diese Meinung Aristoteles zugeschrieben, erst Alexander von Aphrodisias hat dies im dritten Jahrhundert nach Christus getan.

Auch in einem anderen Gebiet der Aristotelischen Philosophie ist etwas Vergleichbares geschehen. Alle Autoren des Altertums, die über die Theologie des Aristoteles sprechen, vermelden, dass er einer besonderen Vorsehungslehre anhing. Nach dieser Lehre reicht Gottes Vorsehung von der Sphäre der Sterne bis zum Mond und nicht weiter. Alles Irdische entzog sich der Vorsehung. Alles unter dem Mond unterlag dem Einfluss von Sternen und Planeten. Moderne Autoren wurden aber nicht müde zu betonen, dies könne unmöglich Aristoteles’ Auffassung gewesen sein. Die Theologie seiner Metaphysik lasse keinen Raum für jegliche Art göttlicher Vorsehung. Die breite und einstimmige Tradition des Altertums beruhe auf Missverstand und Kontamination (so etwa A.J. Festugière und P. Moraux).

 

 


Die „Parva Naturalia“

Der Grund, warum W. Jaeger und seine Nachfolger so beharrlich die antike doxographische Tradition ablehnten, liegt in der Interpretation der Aristotelischen Lehre über „die Seele an sich“ in De anima. Über dieses Werk hinaus besitzen wir unter dem Titel Parva naturalia eine Sammlung von Schriften des Aristoteles über die Facetten des Lebens von Wesen, die beseelt sind. Schon im ersten Satz und noch verschiedene Male wird in dieser Sammlung auf eine Abhandlung „Über die Seele“ verwiesen, die bereits geschrieben und die für die in den Parva naturalia besprochenen Themen relevant ist. Aber die moderne Aristoteles-Forschung weiß es auch hier wieder besser: die Psychologie der Parva Naturalia, sagt man, unterscheide sich fundamental von derjenigen in De anima.

Welche Position finden wir in den Parva Naturalia? In ihr spricht Aristoteles über die Seele als ein nichtstoffliches Form-Prinzip der Lebewesen. Jedoch betont er sehr deutlich, dass sich die Seele an einem zentralen Ort befindet (bei höheren Tierarten und den Menschen ist es das Herz). Aus dieser zentralen Position heraus leitet und steuert die Seele alle vitalen Prozesse des Lebewesens. Sie kann dies, weil sie in direktem Kontakt mit dem vitalen Pneuma oder der vitalen Wärme steht. Diese durchzieht den ganzen sichtbaren Körper des Lebewesens und bewirkt alle Lebensaktivitäten.

Die fundamentalen Fehler der modernen Aristoteles-Forschung

In De Anima wiederum definiert Aristoteles die Seele: „… die Seele ist die erste Entelechie eines natürlichen Körpers, der potentiell Leben hat und der organikon ist.“ Die Auslegung dieser Formel ist laut Bos die Crux der ganzen Aristotelischen Philosophie. Alle modernen Wissenschaftler haben diese Passage bis vor kurzem so ausgelegt, dass mit „natürlichem Körper“ der sichtbare, konkrete Körper einer Pflanze, eines Tieres oder Menschen gemeint ist. Die Seele heißt dessen Entelechie oder Form (eidos). Also ist die Seele das Form-Prinzip des ganzen sichtbaren Körpers. Und dieser Körper ist nach diesen Wissenschaftlern organikon, denn er ist „mit Organen ausgestattet“. Und weil Aristoteles weiter in De anima II 1 darlegt, dass man von einer untrennbaren Einheit von Form-Prinzip und natürlichem Körper, der organikon ist, sprechen kann, schlussfolgern die modernen Forscher, wie Alexander von Aphrodisias es vor ihnen getan hat, dass hier die Rede ist von einer Seele, die zusammen mit dem konkreten sichtbaren Körper zu Grunde geht.

Für Bos liegt hier der fundamentale Fehler der ganzen modernen Aristoteles-Auslegung. Denn organikon bedeutet nirgendwo im Werk des Aristoteles „ausgestattet mit Organen“, sondern immer „als Instrument dienend“, „instrumentell“. Und auch in der Zeit vor Alexander von Aphrodisias wurde der Terminus organikon verstanden als „instrumentell“. Wenn man den Text so liest, stellt man fest, dass Aristoteles die Seele definiert als die Entelechie eines „natürlichen Körpers“, der potentiell Leben hat (nämlich dadurch, dass er durch eine Seele-Prinzip zur Realisation von vitaler Aktivität gebracht werden kann) und der diesem Prinzip „Seele“ „als Instrument dient“. Dann ist nach Bos leicht einzusehen, dass die Theorie der Parva Naturalia auf derselben Linie liegt. Das Pneuma, bzw. die natürliche Wärme, von der dort immer wieder die Rede ist, ist nachdrücklich ein ‚natürlicher Körper’ und fungiert als Instrument der Seele, wodurch, unter Leitung der Seele, Nahrung zu brauchbaren Baustoffen umgesetzt wird, wodurch Wahrnehmungen zur Seele durchdringen, wodurch die Motorik des sichtbaren Körpers veranlasst und praktisches Handeln realisiert wird.

Diese Sicht wird in einem vieldiskutierten Text von De anima bestätigt. In De anima III 10 macht Aristoteles einen deutlichen Unterschied zwischen der Seele als unbewegtem Beweger und einer Instanz, die er „bewegter Beweger“ nennt, mit dessen Hilfe der sichtbare Körper in Bewegung gesetzt wird. Dabei erklärt er ganz deutlich: „Das Instrument, wodurch das Verlangen Bewegung bewerkstelligt, muss selbst wohl körperlich sein.“ Auch der Text I 3 lässt sich aus dieser Perspektive besser verstehen. Aristoteles schließt hier: „Die Kunst (Techne) muss die Werkzeuge benützen und die Seele den Körper.“ Ohne einen instrumentellen Körper, so Bos, kann Aristoteles unmöglich erklärt haben, wie die (nichtkörperliche) Seele Verursacherin von Bewegung eines sichtbaren Körpers sein kann.

Aristoteles stimmt mit Platon darin überein, dass der Mensch mit seinem Denkvermögen eine Kapazität besitzt, womit er sich auf eine nichtkörperliche Wirklichkeit richten kann. Aber er glaubt nicht wie Platon, dass der Mensch dafür eine nichtstoffliche Seele braucht. Für ihn war es vollkommen klar, dass neues Leben nicht entstand, weil eine Seele aus himmlischen Sphären ins irdische Jammertal herabstürzte, sondern dass neues Leben das Resultat eines artgebundenen Befruchtungsprozesses war. „Ein Mensch erzeugt einen Menschen“, betont Aristoteles wiederholt. Dieser Prozess ist ein Prozess innerhalb der eigenen Art, und es ist ein Prozess mit einer physischen Seite: Jede Form von Samen enthält Lebenspotential, jedoch in einer physischen Verpackung! Aber es ist, Aristoteles folgend, bereits im Samen die Seele als Lebensbeginn anwesend. In einem befruchteten Ei, in einem Getreidekorn, das noch im Getreidesilo lagert, befindet sich bereits die Seele eines Weizenhalmes. Unterschieden werden muss aber nach Aristoteles zwischen der Seele als „erste Entelechie“ und der Anwesenheit der Seele in einem aktualisierten Zustand.