PhilosophiePhilosophie

ESSAY

Di Cesare, Donatella: Auschwitz verstehen. Eine philosophische Überlegung


Wie kann man verstehen, „was geschah“? Wie kann man sich anmaßen, die absolute Fremdheit des radikalen Bösen zu verstehen? In einer mehr oder weniger expliziten Form kursiert diese Frage in der Politik, in der Kunst, in der Psychologie, in der Geschichtsschreibung und in der Philosophie. Es scheint fast selbstverständlich zu sein, dass man nicht verstehen kann – trotz des Abstands von sechzig Jahren.

Ausgehend von dem Schweigen, das Theodor W. Adorno bereits in den ersten Nachkriegsjahren den Dichtern vorschrieb, hat sich diese Einstellung allmählich durchgesetzt – etwa in der Kunst, die immer noch zwischen den Alternativen Obszönität des Kitsches und apologetischem Moralismus eingezwängt zu sein scheint. Die Schwierigkeit, das Undarstellbare darzustellen, wiederholt sich sodann in der Idee der Denkmäler bzw. Nicht-Denkmäler, die in den letzten Jahren in verschiedenen europäischen und amerikanischen Städten erbaut worden sind. Für alle mag die umstrittene Holocaust-Gedenkstätte beispielhaft stehen.

Ähnliche Vorsichtsmaßnahmen trifft man auf anderen Gebieten. So werden etwa die Gefahren hervorgehoben, die aus dem Versuch entstünden, das radikale Böse zu verstehen. Aufgrund seines einverleibenden Charakters würde das Böse auch denjenigen ergreifen, umfassen, mit einbeziehen, der es zu verstehen trachtet. Die unendliche Macht des Bösen in seiner metaphysischen Transzendenz schiene dann jeglichem Sagen und Verstehen Schweigen zu gebieten.

Sich hinter dem Nicht-Verstehen zu verstecken, auch nur aus Vorsicht, bringt jedoch nicht geringere Gefahren mit sich. Vom Nicht-Sagen zum Verneinen, und das heißt: Leugnen, ist es ein kurzer Schritt. In der Geschichtsschreibung ist man bekanntlich zur Verneinung der Fakten gelangt. Auch hier gibt es das Vorurteil, es gebe nichts zu verstehen. Das Böse sei eben ein Nichts außerhalb des Seins, außerhalb dessen, was gesagt und verstanden werden kann. Betrachtet man dieses Verneinen aber genauer, so ist es selbst eine Weise, an dem großen Unternehmen der Vernichtung teilzunehmen. Das hebräische Wort Shoah bedeutet „Vernichtung“, „Zerstörung“, „Ausrottung“. Das Böse hat nicht nur die Austilgung der Bewusstseine und den Tod der Körper gewollt, sondern auch die totale Verneinung des Verstehens.

Warum sollte man dann aber akzeptieren, dass Auschwitz ein unverstehbares Unsagbares ist? Läuft man damit nicht Gefahr – wie Giorgio Agamben moniert hat –, Auschwitz das Privileg des Mysteriums zu verleihen und es still zu verehren?

Die Frage muss heute vor allem an die Philosophie gerichtet werden, die das radikale Böse als das dem Denken Entgegengesetzte interpretiert hat; auf diese Weise hat sie dazu beigetragen, Auschwitz in den Bereich des Geheimnisses und des Mysteriums zu verbannen, d. h. in das Gebiet dessen, was unerklärbar, unsagbar, unverstehbar ist. Aber im selben Moment, da die Philosophie Auschwitz aus der eigenen Kompetenzsphäre zurückweist, gibt sie auch ihr Scheitern zu. Selbst die in diesen letzten Jahren meistdiskutierten philosophischen Fragen, wie etwa die Frage der Schuld und die der Verzeihung, betonen letztlich die Grenzen zwischen Gegen-Welt und Welt und sind eher Versuche, das Böse durch seine Verwandlung in das Gute zu denken. Auf diese Weise verfehlt die Philosophie aber nicht nur ihr Ziel; sie versäumt auch die Gelegenheit, einen Gegenkurs einzuschlagen, die Möglichkeit eines vielleicht seit langem gesuchten Neuanfangs.


Diese schwere Flucht vor und Abwesenheit der Philosophie gegenüber Auschwitz bringt uns zu der Frage: Warum sollten wir nicht, von Auschwitz ausgehend, wieder beginnen, neu und anders zu philosophieren? Warum sollten wir nicht gerade von der Gegen-Welt der Welt wieder anfangen? Und warum sollten wir nicht gerade in Bezug auf Auschwitz die philosophisch relevante Frage des Verstehens stellen? Auschwitz verstehen: Warum nicht von hier aus wieder neu anheben?

Nach der philosophischen Hermeneutik wissen wir, dass Verstehen nicht nur bedeutet, mehr oder weniger komplexe Texte zu interpretieren. Bevor wir die Texte interpretieren (oder auch nicht), verstehen wir die uns umgebende Welt, verstehen wir uns selbst und die anderen. Und wir verstehen sie durch die Sprache, die wir sprechen und in der wir leben. Denn jede Sprache ist ein Verständnis der Welt, das wir, indem wir sprechen bzw. miteinander sprechen – jedes Sprechen ist nämlich ein Sprechen mit Anderen – weiter artikulieren, d.h. weiter entwickeln und verändern.

Kurzum: Wir können nicht die Entscheidung treffen, zu verstehen oder nicht zu verstehen. so wie wir etwa entscheiden, ein Kleid zu kaufen oder nicht, Ferien in Rom zu verbringen oder nicht, ins Kino mit Freunden zu gehen oder zu Hause zu bleiben. Auch wenn wir es nicht wissen, weil wir nicht darüber reflektieren, können wir uns dem Verstehen nicht entziehen. Wir sind frei, anders zu verstehen; wir sind aber nicht frei, nicht zu verstehen. So sind wir schon immer einbezogen und deshalb dazu genötigt, eigentlich gezwungen, zu verstehen, und wieder auf das Neue zu verstehen – um zu leben.
Das Verstehen betrifft also unser Leben. Mehr noch: Verstehen ist Leben. Genau betrachtet ist das Verstehen nicht nur Teil des Lebens: Es ist der wichtigste Teil des Lebens. Deshalb könnte man hier von einem vitalen Instinkt des Verstehens sprechen. „Vital“ (mit „vita“, mit „Leben“ verbunden - im Italienischen und selbstverständlich auch im Lateinischen) hat zwei zusammenhängende Bedeutungen: es bedeutet sowohl „lebensnotwendig“, „unerlässlich für das Leben“ als auch „lebensfähig“, „fähig, Leben zu geben, Leben einzuflößen“. Den Sinn dieser zwei Bedeutungen folgend, kann man sagen, dass das Verstehen deshalb vital ist, weil es notwendig für das Leben ist und weil es imstande ist, Leben einzuflößen, d. h. es zu verändern und zu unterstützen.

Der Zusammenhang zwischen Leben und Verstehen ist eigentlich nicht überraschend. Überraschend ist vielmehr, dass er bis jetzt nicht genug hervorgehoben worden ist. Gewiss ist es unwahrscheinlich, dass dieser Zusammenhang in der ganzen philosophischen Tradition, die das Verstehen nie wirklich in Frage gestellt hat, hätte unterstrichen werden können. Anders verhält es sich in der zeitgenössischen Philosophie, in der dem Verstehen eine Rolle ersten Ranges zukommt. Das Verstehen ist hier so wichtig geworden, weil die Philosophie hat anerkennen müssen, dass das Verstehen keineswegs selbstverständlich ist, dass das Verstehen immer auch ein Nicht-Verstehen ist. Es gibt keine Situation, auch nicht im einfachsten Gespräch des Lebens, wo wir sagen können, dass wir auf eine vollkommene und endgültige Weise verstanden hätten. Es bleibt immer noch ein Rest, ein Residuum; es bleibt immer das „Nicht“ des Nicht-Verstehens.

Das Nicht-Verstehen ist jedoch nur die Grenze des Verstehens. Diese Grenze zu verabsolutieren kann gefährlich sein, kann verhängnisvolle Folgen haben. Trotzdem hat sich der negative Zug des Nicht-Verstehens, der einen verzichtenden Pessimismus verrät, in den letzten Jahrzehnten weiter verbreitet und hat auf verschiedenste Art und Weise eine theoretische oder auch nur praktische Rechtfertigung gefunden. Sich in dieses Nicht-Verstehen einzuhüllen, auch im Zeichen des amor fati Nietzsches, d.h. auch im Zeichen eines mutmaßlichen Respekts für das Individuelle und deshalb Unverstehbare am Menschen, bedeutet aber, sich von der Vergangenheit zu trennen, sich der Zukunft nicht zu öffnen und in einer als Schicksal akzeptierten Gegenwart stehen zu bleiben. Denken, dass man auf das Verstehen verzichten kann, dass man sogar nicht verstehen muss, bedeutet, sich der Sprache und dem Gespräch und damit auch dem Gespräch der Geschichte zu entziehen.

Paradox ist, dass gerade die jüngere und nunmehr doch bereits zwei Generationen zurückliegende Geschichte diese Verhüllung durch das Nicht-Verstehen hervorgerufen zu haben scheint. Die Frage, die in mehr oder weniger expliziter Form kursiert, ist folgende: Wie kann man verlangen zu verstehen, was geschah? Wie kann man verlangen, die absolute Fremdheit dessen zu verstehen, was Paul Celan das „Medusengesicht“ genannt hat? Wie kann man sich anmaßen, Auschwitz zu verstehen?

Durch diese Frage riskiert man aber wiederum, aus Auschwitz ein unverstehbares Unsagbares bzw. ein unsagbares Unverstehbares zu machen. Wenn man von den Zeugnissen ausgeht, so wie es richtig und unerlässlich ist – der Begriff des Zeugnisses verlangt in diesem Zusammenhang seinerseits eine neue philosophische Reflexion – sollte man eigentlich die Argumentation umkehren. Man sollte fragen: Wie kann man nicht verstehen? Wie kann man nur darauf verzichten, Auschwitz zu verstehen? Denn gerade dort, wo das Nicht-Verstehen und das Nicht-Verstanden-Werden tödlich gewesen sind, wo das Nicht-Verstehen sich nämlich in all seiner Todesfähigkeit gezeigt hat, gerade da, und um so mehr, wird das Verstehen verlangt, reklamiert, hervorgerufen.

Auschwitz, unersetzbarer Eigenname, Metonymie dessen, „was geschah“, ist das Ereignis, das wir nicht „einzig“, unique, nennen wollen, um es nicht aus der Geschichte herauszulösen, das wir also besser – mit Emil Fackenheim – unprecedented, „ohne Präzendenzfälle“, nennen möchten. So sind wir genötigt, Geschehnisse in der Vergangenheit aufzusuchen und wachsam zu bleiben, dass sie sich in der Zukunft nicht wiederholen.

Als epochemachendes Ereignis, Wunde, Schnitt, der ein Vorher und ein Nachher in der Weltgeschichte zeichnet, ist Auschwitz eine Herausforderung für die Philosophie. Es ist eine Herausforderung, weil es sie drängt, eigene Begriffe, wie etwa den Begriff des Todes bis hin zu dem der Freiheit, den Begriff des ethischen Gesetzes bis hin zu dem der Vernunft, zu revidieren. Auschwitz ist deshalb eine Herausforderung, weil es die Philosophie auf ungedachte Begriffe verweist, die noch außerhalb des philosophischen Inventars geblieben sind. Auschwitz ist vor allem deshalb eine Herausforderung, weil es ausgehend von dem menschlichen Wesen, das nicht mehr menschlich ist, das entmenschlicht, dehumanisiert und inhuman geworden ist – sowohl der Opfer als auch der Henker – ausgehend von ihrer inhumanen Kondition die Philosophie zwingt, die menschliche Kondition, die conditio humana, auf radikale Weise neu zu denken. Auschwitz zwingt die Philosophie, sich noch einmal zu fragen: Ist das ein Mensch? – so auch der Titel des Buches von Primo Levi, das bereits 1947 erschien. Die Frage betrifft den „Muselmann“, d.h. den ausgehungerten Häftling, der dem Tode nahe war. Die Etymologie ist noch ungeklärt: Man führt das Wort auf den Fatalismus zurück oder auf die Kopfbinden, die an einen Turban erinnerten. Gemeint ist auf jeden Fall der als „Muselmann“ sterbende Jude, der sich auflösende Mensch im Lager.

Der Planet Auschwitz ist die Gegenwelt an den Grenzen der Welt. Es ist das „konzentrationäre Universum“ – wie es zum ersten Mal von David Rousset, der Buchenwald überlebte, genannt worden ist – das mit transparenter Härte alle zukünftigen Konzentrationen und alle totalitären Universen in sich entfaltet und ausgelegt enthält. Es ist die „extreme situation“ – wie es schon 1943 Bruno Bettelheim definiert hat, der aus dem Nazilager geflohen war – die Grenzsituation überhaupt, die Grenzsituation aller humanen bzw. inhumanen Grenzsituationen, von der her man versuchen kann, nachdem der Zusammenhang von Gegenwelt und Welt wieder gefunden worden ist, die Welt aufs neue zu betrachten.

Als Grenzsituation, an der Grenze der Welt, an der Grenze des Menschlichen, haben viele Zeugen Auschwitz erlebet. Das zugleich weiteste, komplexeste und tiefste Zeugnis der Grenzsituation des Sprechens und des Verstehens bzw. des Nicht-Sprechens und Nicht-Verstehens in Auschwitz-Monowitz ist das von Primo Levi. Ein Kapitel aus seinem Buch Die Untergegangenen und die Geretteten, das 1986 erschien (kurz vor seinem Freitod 1987), heißt „Comunicare“, Kommunizieren. Mit seiner sprichwörtlichen Klarheit beschreibt Levi die Grenzsituation der Gegen-Sprache in der Gegen-Welt der Welt, in dem konzentrazionären Universum des Lagers.

Im Lager erhebt sich unerbittlich eine „totale Sprachbarriere“, die in der „normalen Welt“ nicht erfahrbar ist. Denn in der „normalen“, alltäglichen Welt sich nicht verstehen kann sogar „soviel Vergnügen wie ein Spiel bereiten“ (92). Die Sprachbarriere in Auschwitz aber ist so total wie der Totalitarismus, der durch das Nicht-Verstehen, das Nicht-Verstehen-Wollen, das Sich-Nicht-Verstehen-Lassen, das Sich-Nicht-Verstehen-Lassen-Wollen begründet wird. Der Mechanismus der Macht wird hier errichtet. Und die totale und totalitäre Barriere duldet gar kein Spiel, gewährt keinen Spielraum: „unter Androhung von Leben“. Sehr einfach: Wer nicht versteht, stirbt.

In Auschwitz, Babylon des 20. Jahrhunderts, ist die Sprache des Lagers eine rudimentäre Skelettvariante der LTI, der Lingua Tertii Imperii – wie Victor Klemperer sie genannt hat – d.h. des Deutschen des Dritten Reiches; im Lagerjargon ist das Deutsche mit dem Jiddischen, dem Polnischen, dem schlesischen Dialekt und mit dem Ungarischen kontaminiert. Aber die Kenntnis oder Unkenntnis des Deutschen ist die Wasserscheide zwischen Leben und Tod. Die italienischen Deportierten, die nicht verstehen, die keine Zeit zu verstehen haben, sterben gleich einige Tage nach der Ankunft, versunken im „stürmischen Meer des Nicht-Verstehens“. Auf den ersten Blick sind sie – bemerkt Levi – „wegen Hunger, Kälte, Erschöpfung, Krankheit“ gestorben; aber bei genauerem Hinsehen sind sie durch den „Zusammenstoß“ mit der Sprachbarriere gestorben. Denn die SS, wie alle Ungebildeten, unterscheiden nicht zwischen dem, der ihre Sprache nicht versteht und dem, der schlichtweg gar nicht versteht. Nach einem gut konsolidierten Modell in der ethnischen Manipulierung der Sprache – oder, wie Jacques Derrida hier sagen würde, des Logos – ist, wer ihr Deutsch weder spricht noch versteht, per definitionem ein Barbar; er stottert und redet nicht. Wenn er sich darauf versteift, seine Sprache, genauer gesagt: seine Unsprache zu sprechen, muss man ihn durch Schläge zum Schweigen bringen. Denn schließlich ist, wer keine Sprache hat, auch kein Mensch. Nur zu dem, der etwas versteht und in artikulierter Form antwortet, stellt sich eine Beziehung her, die den Anschein des Menschlichen hat. Aber es ist eben nur ein Anschein.

In dem konzentrationären Universum weist die Kommunikation nämlich ebenso wie die totale Sprachbarriere eine andere Eigenschaft auf: in ihr ist der Gebrauch des Wortes, der den Menschen zum Menschen macht, unüblich geworden. Für Levi resultiert daraus: „Menschen waren wir für die anderen keine mehr“ (93). Die Sprache wird vielmehr zu einem Werkzeug, das nur gebraucht wird, um einem entmenschlichten Wesen Befehle zu geben, mit dem man so wie mit Tieren umgeht. Mit diesem entmenschlichten Wesen zu sprechen hieße seine Menschlichkeit anzuerkennen, die man ihm aber gerade entziehen will; es hieße, dieses Wesen zu verstehen und aufzunehmen, es als den Anderen wahrzunehmen. Deshalb ist die Sprache im Lager auf ein Dutzend „verschiedener, freilich eindeutiger Zeichen“ reduziert – „gleichgültig, ob sie akustischer, taktiler oder visueller Art sind“ (94). Diese Zeichen, jeden Inhalts beraubt und auf das Bezeichnen reduziert, sagen eigentlich sehr viel: sie sind die extreme, maßlos gewalttätige Verwandlung des Anderen in das Selbe, die letzte Episode des westlichen Kannibalismus, bei der das Selbe sich endgültig von dem Anderen absolviert.

Und da, wo kein Sprechen mehr existiert, ist auch kein Übersetzen mehr nötig. Man braucht keinen Dolmetscher mehr. Im Lager von Mauthausen wird der Gummiknüppel „Dolmetscher“ genannt. Denn die „Sprache“ des Gummiknüppels wird von allen kapiert. Dolmetschen, übersetzen und interpretieren ist hier nutzlos und sogar dumm geworden. Von hier ausgehend sollte man deshalb mehr denn je über den Wert der Übersetzung und der Interpretation für das menschliche Leben nachdenken. Dieser Gummiknüppel ist das in die Sache vertilgte Wort; er ist das tote Wort, ja eigentlich der Tod des Wortes, die Vernichtung der Sprache und damit des Menschen. Deshalb bemerkt Levi: „da, wo dem Menschen Gewalt zugefügt wird, wird auch der Sprache Gewalt angetan“ (100).

In der Erinnerung der Überlebenden – und ganz besonders von Levi – sind die ersten Tage im Lager „wie ein unscharfer, hastig abgespulter Film, voller Lärm und Hektik und ohne jeden Inhalt“, ein grauschwarzer Tonfilm ohne Worte (100). Aus dem Hintergrund des kontinuierlichen, ohrenbetäubenden Getöses taucht kein menschliches Wort mehr auf. Was man dem Ununterscheidbaren und Unsinnigen entreißen kann, sind nur Bruchstücke, Fragmente. Levi vergleicht diese Wortfragmente mit den Kartoffelschalen: sie dienen dazu, den Sprachhunger, das gewaltige Bedürfnis der Kommunikation zu stillen.

Im grausamen Labor des Lagers wird mit diesem Bedürfnis auf eine extreme Weise experimentiert. Man stirbt an unzureichender Information. Es sterben diejenigen, die nicht informiert sind, die nichts von Befehlen, Verboten und Vorschriften wissen. Man stirbt aber vor allem am Fehlen der Kommunikation. Und die Kommunikation ist sagen und sich sagen lassen, sprechen und verstehen. Man stirbt am Fehlen von Gespräch. Levi denkt hier an dem fast unübersetzbaren deutschen Ausdruck „Angesprochensein“ (95), den er ins Italienisch übersetzt. „Dieses Nicht-angesprochen-Werden hatte rasch verheerende Auswirkungen. An den, der einen nicht anspricht oder sich mit unartikuliert erscheinendem Brüllen an einen wendet, wagt man nicht das Wort zu richten. Wenn man das Glück hat, neben sich jemanden zu finden, der die gleiche Sprache spricht, ist manches gewonnen: Man kann Eindrücke austauschen, sich mit ihm beraten, sein Herz ausschütten. Wenn man niemanden findet, verdorrt die Sprache binnen weniger Tage und damit auch die Fähigkeit zu denken“ (95). Nicht alle leiden auf dieselbe Weise an dieser Wortverfinsterung. Sie hinzunehmen ist aber ein verhängnisvolles Zeichen: Es deutet auf den Anfang des Endes, auf das Herannahen einer endgültigen Indifferenz – vor dem Tode des „Muselmanns“. Wer kann, versucht sich zu wehren – der eine, indem er um Informationsfetzen bettelt oder indem er neue Gerüchte erfindet – Vorwand der Information zur Kommunikation – und der andere schließlich, indem er „die Augen schärft und die Ohren spitzt und alle Zeichen, die ihm von den Menschen, von der Erde und vom Himmel zugetragen werden, zu deuten versucht“ (104).

In Auschwitz stirbt man durch den Stoß gegen die totale Sprachbarriere, gegen die Sprache, die zum Instrument von Macht, Unterdrückung und Tod gemacht wird. Man stirbt wegen des Nicht-Verstehens. Und man stirbt deshalb auch wegen des Nicht-Sprechens. Das schreckliche Beispiel, das von Levi angeführt wird, ist das des drei Jahre alten Kindes Hurbinek, das in Heimlichkeit im Lager zu Welt gekommen war und das niemand sprechen gelehrt hatte. Mit seinem intensiven und explosiven Bedürfnis zu sprechen, das in seinem ganzen erbarmungswürdigen Körper drängt, durch sein Röcheln, durch sein verzweifeltes und unterdrücktes Stammeln, gibt Hurbinek viel mehr als alle wissenschaftlichen Experimente und alle philosophischen Spekulationen zu verstehen, dass der Mensch des Wortes bedarf. Notwendig ist nicht nur das an den Anderen gerichtete Wort; notwendig ist auch das von dem Anderen empfangene Wort – Zeichen der Aufmerksamkeit und der Aufnahme – notwendig ist das gehörte Wort. Kurzum – und das ist der entscheidende Punkt –. wo der absolute Vokativ fehlt, da geht auch das Leben aus. So sagt Levi: „Die Verweigerung der Kommunikation ist Schuld“ (91).

Was von der Sprache in Auschwitz übrig bleibt, ist einerseits das ohrenbetäubende Getöse des fast unartikulierten Brüllens, andererseits das unterdrückte Stammeln, fast ein Röcheln, das auszugehen droht. Es ist dieses Stammeln, dieses Röcheln, das Paul Celan in seiner Dichtung aufgelesen, aufgenommen, widerhallen lassen und damit in die deutsche Sprache – in die Sprache der Mutter und in die Sprache des Todes – eingeschrieben hat. Seine ist wohl die am überzeugendste Weise, Auschwitz zu sagen und zu verstehen. Es ist ein „Gegen-Wort“, das Gegen-Wort der Dichtung und der Kunst, ein Wort gegen jeden Versuch, aus Auschwitz ein unverstehbares Unsagbares zu machen, Auschwitz in das Nichts zu zersetzen, es nochmals zu vernichten. Celans Gegen-Wort könnte auch für die Philosophie wegweisend sein, damit sie endlich und trotz alledem Auschwitz sagt und versteht – von Auschwitz ausgehend.

Man soll aber nicht in der Gegen-Welt stehen bleiben. Wenn auch nicht ohne Schwierigkeit soll man von der Gegen-Welt in die Welt übergehen, um diese Welt, d. h. unsere Welt im Lichte von Auschwitz zu sehen. Es ist dann möglich, dass viele der philosophischen Fragen neue, ungewöhnliche, vielleicht auch nur präzisere Konturen annehmen.

So kann etwa die Gegen-Welt des Planeten Auschwitz dazu beitragen zu klären, wie vital das Verstehen auch für unsere Welt ist. Denn auch in den Grenzsituationen der Welt kann das Nicht-Verstehen und das Nicht-Verstanden-Werden die Grenze zwischen Leben und Tod markieren, kann den Tod bedeuten. Eine Nachricht auf dem Handy nicht interpretieren können, ein Straßenschild nicht erkennen, die Hinweise an einer Maschine nicht entziffern, kann sterben bedeuten. Diese wenn auch nur banalen Beispiele füllen unser alltägliches Leben aus. Aber auch den eigenen Liebeskummer nicht zu verstehen kann bedeuten, daran zu sterben. Die Literatur, und nicht nur die romantische, weist eine Fülle von solchem Unverstehbarem und tragisch Unvorhersehbar-Gewesenem auf. Mehr noch: Die Angst des Lebens nicht verstehen kann tödlich sein. Und in solcher Angst kann das Wort des Anderen rettend und heilend sein.
In allen Lebensfällen ist das Verstehen deshalb vital, weil im Verstehen das Leben auf dem Spiel steht. Das Leben steht im Verstehen aber nicht nur in dem Sinne auf dem Spiel, dass es über die bloße Möglichkeit zu sein oder nicht zu sein entscheidet. Wie aus dem Zeugnis Levis hervorgeht, ist das Verstehen vital nicht nur in dem Sinne, dass es „lebensnotwendig“ ist, sondern auch in dem Sinne, dass es „Leben gibt“, auf das Leben einwirkt, d.h. es ermöglicht und aufbaut. Verstehen ist das Verstehen seiner selbst und des Anderen durch den Anderen und mit dem Anderen – Verstehen ist immer Anders Verstehen. Verstehen bedeutet dann Anderswerden, bzw. Über-sich-selbst-Hinausgehen. Deshalb ist das Verstehen eine zentrifugale Bewegung, die ständig das Selbst über sich hinaus drängt und außer sich sein lässt. So wirkt das Verstehen auf das Leben. Was wäre das Leben ohne dieses „Über“? Denn das Leben, um über-leben zu können, muss immer ein Leben über sich hinaus sein. Das Verstehen wirkt auf das Leben und auf das Überleben, weil beim Verstehen die Grenze der Angst überschritten wird, an der das Leben stehen geblieben und in sich verschlossen zu sein scheint. Die Bewegung des Verstehens unterstützt so die Bewegung des Lebens, das über sich hinausgeht, um zu überleben. Das Verstehen ist eigentlich das Leben in seinem Vollzug. Denn aus dem Sprechen und dem Verstehen ernähren sich der Atem und der Hauch des Lebens.

Man könnte dann eine Umkehrung vorschlagen, und sich fragen, was leben, um zu verstehen bedeutet. Leben, um zu verstehen, bedeutet dem ‚Über’ des Wortes folgen, das auch das ‚Über’ des Lebens in dem Atemzug ist, in dem es sich über sich hinausgeht. Der Weg, um weiter zu kommen, besser: um zu überleben, ist für das Leben nicht der des Sich-erhaltens, des Sich-konservierens, sondern viel mehr sich anders, auf differente Weise verstehen, ist also Sich-differieren bei seinem Sich-Überwinden. Wenn das Verstehen vital ist, wie es sich in der Gegen-Welt von Auschwitz so deutlich gezeigt hat, aber wie es auch bei dem Übergang von der Gegen-Welt in die Welt zum Vorschein gekommen ist, d.h. indem die Welt bis an die Grenze der Gegen-Welt geführt worden ist, wenn es also beim Verstehen um Leben oder Tod geht, dann können wir die Begriffe von Leben und Verstehen umkehren. Und auf eine radikalere Weise können wir sagen, dass man, um zu verstehen, lebt. Wir können sagen, dass sogar das Du der Texte verlangt, verstanden und sogar interpretiert zu werden, damit klar wird, dass es hier, bei der Interpretation dieses Gedichtes, um Leben und um Tod geht. Wir können sagen, dass es ohne dieses Gedicht, das zu Dir spricht, für Dich spricht, in Deinem Namen spricht, das ein Wort ist, das auf der Suche nach Dir war, sich nicht gelohnt hätte zu leben, sich nicht lohnen würde zu leben.

UNSERE AUTORIN:

Donatella Di Cesare ist Professorin für Philosophie an der Universität “La sapienza” in Rom. Sie lehrt auch Jüdische Philosophie am Collegio Rabbinico Italiano in Rom.