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INTERVIEW

Mall, Ram Adhar: „Philosophie ist nicht nur, sondern auch griechisch-europäisch.“

Ein Gespräch mit dem indischen Philosophen Ram Adhar Mall über Religion und Philosophie

Die Philosophie unserer Zeit hatte das Interesse an Antworten der Theologie verloren, diese galten für obsolet. Nun wird überraschend die Religion wieder zu einem Thema. Ist das wirklich so überraschend?

Das Thema des Verhältnisses von Philosophie und Religion ist uralt, und zwar nicht nur in der europäischen, sondern auch in der außereuropäischen Geistesgeschichte. Und auch ich stelle mir immer wieder die Frage: Kann Philosophie qua Philosophie ohne Bruch zur Religion, zur Theologie finden? Ich habe meine Zweifel, ob es je möglich sein wird. Ob wir wollen oder nicht: wir haben den Widerstreit zu tragen bzw. zu ertragen. Die größte Gemeinsamkeit zwischen Philosophie und Theologie besteht darin, dass sie Antworten sind, nicht mehr, nicht minder. Philosophie in Theologie und Theologie in Philosophie aufheben zu wollen, ist ein falscher Weg.
Worin besteht denn dieser Widerstreit?

Warum Philosophie qua Philosophie zur Theologie, zum theologischen Gott nicht gefunden hat, liegt darin begründet, dass Religion sich nicht zu einem Objekt der Philosophie machen lassen will. Das sagt uns, von der anderen Seite her, Paul Tillich. Umgekehrt will und kann Philosophie qua Philosophie ihre Denkautonomie nicht irgendeinem Anspruch der religiösen Wahrheit unterstellen. Die Frage ist und bleibt: wer oder was hat Primat? Geht die religiöse Wahrheit der philosophischen voraus (das möchte die Theologie), oder geht die philosophische Wahrheit der religiösen voraus (das möchte die Philosophie)? Wie kommt Philosophie zu Gott, falls dem so ist? Kann Philosophie aus eigener Kraft zum Gott der Theologie finden? Philosophie und Theologie sind zwei unabhängige Wege mit dem Ziel einer befreienden Erkenntnis. Oft wirft der westliche Fachphilosoph z. B. der indischen Philosophie vor, sie sei zu religiös. Der Fachtheologe wirft der indischen Religion vor, sie sei zu philosophisch. Beide irren sich, weil sie eine bestimmte historisch-kulturelle Gestalt der Philosophie und Religion in den absoluten Stand setzen.

Gibt es Botschaften der Religion(en), von denen die abendländische Philosophie der Gegenwart etwas lernen könnte?

Die Philosophie hat immer die Offenbarungsreligionen zum religionsphilosophischen Muster gemacht. Im heutigen Weltgespräch der Religionen ist das religionsphilosophische Modell der abrahamitischen Religionen zwar nicht falsch, aber zu eng. Denn Religionsphilosophie ist zwar mit, aber auch ohne Gott möglich. Wenn wir dies nicht akzeptieren, stellt sich die Frage: Was machen wir mit dem Buddhismus? Würde jemand sagen, Buddhismus sei keine Religion, wäre dessen Definition von Religion zu eng, denn auch der Buddhismus versteht sich als ein Weg zur Seligkeit. Es stellt sich dann die Frage, wie wir zwischen einer religiösen und einer spirituellen Erfahrung zu unterscheiden haben. Man kann gut sein mit dem Glauben an Gott, man kann aber ebenso gut sein ohne den Glauben an Gott. Der Buddha ist ein Beispiel dafür. Es ist ein selbstverschuldetes Vorurteil, Atheismus von vorn herein negativ zu besetzen.

 

 

Die Frage war aber nach der möglichen Bedeutung von religiösen Inhalten für eine sich als wissenschaftlich verstehende Philosophie.

Dass Philosophie als wissenschaftliche Philosophie mit dem Thema Gott nichts zu tun haben will und dieses Thema für obsolet erklärt, betrifft nur eine Art von Philosophie. Für diese geht eigentlich nichts verloren. Nur steht die Philosophie dann plötzlich in der politischen Praxis vor einem Phänomen, mit dem sie nichts anfangen kann und für welches sie dennoch eine Erklärung suchen muss. Philosophie muss zeigen können, was für eine Ideologie hinter einer Religion steckt, und dass Religion im Grunde das Ergebnis eines unaufgeklärten Denkens ist. Sie muss aber auch zeigen können, warum sich die Religion nicht nur nach der Aufklärung behaupten konnte, sondern sich auch stellenweise besser behaupten konnte als die Aufklärung. Ist Religion vielleicht doch auch eine Art Aufklärung?

Damit kommen wir auf die Eingangsfrage zurück: warum dieses neue Interesse an Religion – trotz Aufklärung?

Die Aufklärungsphilosophie definiert die Anthropologie zu stark von der Vernunft her und macht dabei einen Fehler: der Mensch ist nicht nur Vernunft. In dieser Frage sind die asiatischen Anthropologien realistischer. Sie gehen davon aus, dass Leidenschaften nicht bloß Privationen sind, Leidenschaften sind für sie ebenso real wie die Vernunft. Die indische Philosophie beispielsweise hat eine lange Tradition der Yoga-Philosophie, und diese ist verbunden mit einer Yoga-Praxis. In Europa hingegen neigen wir dazu zu sagen, die Vernunft soll die Leidenschaft besiegen und kommen damit nicht zurecht.

Wenn wir wissen, was gut ist, führt dieses Wissen nicht automatisch zur Tugend. Oft wissen Menschen, was gut ist; sie handeln aber nicht entsprechend. Woran liegt das? Die Antwort der indischen Philosophie lautet: Das Wissen ist höchstens eine notwendige Bedingung für das Tun des Guten, aber keine hinreichende. Damit es dazu kommt, muss die Person des Philosophierenden sich verändern. Das schreibt übrigens auch Jaspers immer wieder. Was Philosophie ist, so Jaspers, weiß ich nicht aus deren Definition, sondern indem ich in ihr lebe. Philosophie ist also nicht bloß eine Denkakrobatik, sondern Philosophie ist auch ein ernsthafter Denk- und Lebensweg.

Sie meinen mit Denkakrobatik die Philosophie, wie sie gegenwärtig in Deutschland betrieben wird?
Dies wäre nicht nur übertrieben, sondern auch in der Sache falsch. Die Wesensfrage der Philosophie ist und bleibt unentscheidbar. Ein Denken, das den Denkenden unverändert sein lässt, stellt nur die halbe Wahrheit dar. Selbst bei den Griechen, und wir sind ja bei den Griechen qua Philosophie, gibt es einen Weg der Befreiung über die ataraxia, die Seelenruhe, die Bedürfnislosigkeit. Eine Wahrheit, die befreit, kann ebenso eine philosophische sein. Mit dem Eintritt des Christentums in die europäische Geistesgeschichte mag Philosophie diese Funktion verloren haben. In Asien ist es anders. Man denke an Zen-Buddhismus.

Wenn der Philosoph den Dialog mit den Religionen sucht, braucht es eine gewisse Offenheit von beiden Seiten. Wie hat sich aus Ihrer Perspektive dieses Verhältnis in den letzten Jahren oder Jahrzehnten verändert?

Zur interkulturellen Philosophie und zum interreligiösen Ethos gehört es, sich eine gewisse Überzeugung, eine gewisse Attitüde zu eigen zu machen, und die besagt: Wenn es eine philosophia perennis gibt, und es gibt sie anscheinend, wenn es eine religio perennis gibt, und es gibt diese, dann darf die Tradition – weder die asiatische, noch die europäische – den Anspruch erheben, diese philosophia oder religio perennis alleine bzw. exklusiv zu besitzen. Zu einem offenen Denken gehört die Bejahung sowohl einer säkularen als auch einer sakralen Pluralität.

Was aber macht der interkulturelle Philosoph mit einer Religion, die nicht nur die Wahrheit für sich, sondern gleich für alle Menschen beansprucht?

Wenn eine Religion für sich den Anspruch erhebt, die einzig wahre Religion zu sein, wird es schwierig. Wenn die Aussage, meine Religion ist die absolut wahre Religion, bedeutet, dass diese Aussage die absolut gültige Aussage für mich ist, dann hat die interkulturelle Philosophie nichts dagegen. Wenn aber damit gemeint sein soll, meine Religion ist nicht nur für mich und für die Meinen die einzig wahre, sondern für die gesamte Menschheit, dann protestiert die interkulturelle Philosophie. Aber man muss hier wiederum differenzieren. Wenn die Aussage, meine Religion ist nicht nur für mich, sondern für die ganze Menschheit die wahre, als Angebot, als Vorschlag vorgebracht wird, dann kann die interkulturelle Orientierung dies diskutieren. Aber wenn diese Aussage ontologisch, als die Wahrheit, gemeint ist, ist mit solchen Religionen ein Gespräch nicht möglich. Absolutheit nach innen, ja, Absolutheit nach außen, nein.

Unterscheiden muss man zwischen einem theoretischen und einem praktischen Fundamentalismus. Wenn Sie sagen, meine Lesart von Hegel ist die einzig richtige Lesart, dann sind Sie nicht fähig, philosophische Dialoge zu führen. Denn es gibt unterschiedliche Lesarten und diese Lesarten sind inhaltlich manchmal konträr bis kontradiktorisch. Welcher soll ich nun glauben? Es ist eine Forderung der interkulturellen Philosophie, dass man unterschiedliche Lesarten qua Lesarten gleich behandelt, aber für die eigene Lesart mit Argumenten eintritt und sie so, aber nicht aus einer absolutistisch-exklusivistischen Gesinnung heraus, verteidigt. Auch der Gegner liest Hegel, aber er liest Hegel anders. Aber selbst dann, wenn die Lesarten konträr bis kontradiktorisch sind, handelt es sich zumindest um Lesarten von etwas, was wir gemeinsam haben. Gegenargumente sind auch Argumente, mögen sie noch so konträr sein.

Aber man kann doch auf der einen Seite pro forma – vielleicht um der politischen Klugheit willen – ein Gespräch führen, gleichzeitig aber inhaltlich nicht bereit sein, den Anspruch des anderen ernst zu nehmen.

Ihre Frage läuft darauf hinaus: Wie kann ich die Redlichkeit desjenigen, der mit mir in ein Gespräch tritt, sicherstellen? Dies können wir selten oder nie tun. Deswegen versucht die interkulturelle Philosophie den theoretischen Fanatismus, die theoretische Intoleranz loszuwerden. Vorige Woche habe ich in einer Vorlesung meinen Studenten gesagt, solange das Buch Mein Kampf in den Bücherregalen der Deutschen war, war auch die theoretische Gewalt, der theoretische Fanatismus da. Diese theoretische Gewalt wird aber nicht automatisch zu einer praktischen Gewalt: der Fanatismus bedarf der Machtposition. Wenn Hitler mit seinem Mein Kampf nicht bedingt durch andere Faktoren an die Macht gekommen wäre, wäre es nicht zu dem praktischen Fanatismus gekommen. Als Pädagoge habe ich die Pflicht, den Studenten – und das sollen wir vom Kindergarten bis zur Universität tun – zu sagen: Du sollst die Welt buchstabieren, aber wenn Dein Gehirn die Welt anders buchstabiert, musst du diese Differenz tragen. Das ist der Geist der interkulturellen Kommunikation. Gespräche mit einem Menschen, der sagt, „ich buchstabiere die Welt in der einzigen Sichtweise“, haben keinen Sinn.

Es kann durchaus sein, dass viele interreligiöse Gespräche als Lippenbekenntnisse ablaufen. Ich möchte hier Gandhi zitieren, der immer wieder gesagt hat: „Christus ist einer der Söhne Gottes, aber nicht der einzige; Mohammed ist ein Prophet, aber nicht der einzige“.

Nehmen wir den gegenteiligen Fall an, ein Dialog, der optimal verläuft. Wie könnte dieser aussehen?

Das ist möglich, wenn man sich die interkulturelle philosophische Einstellung zu eigen macht. Das bedeutet, dass philosophia perennis, dass die philosophische Wahrheit, die wir suchen, keinem Philosophen, keiner Sprache und keiner philosophischen Tradition privilegiert zukommt. Das bedeutet weiter, dass Universalität und Partikularität der Philosophie Hand in Hand gehen. Universalität heißt, dass Philosophie als Oberbegriff von vielen Adjektiven lebt: ein Pferd kann z. B. weiß sein oder schwarz. Aber Pferd ist Pferd. Das bedeutet, Philosophie mit dem Adjektiv chinesisch, französisch oder afrikanisch hat jeweils ihre Berechtigung, und da beginnt die Partikularität: französische Philosophie ist auch Philosophie, aber französisch. Bislang war aber die Philosophiegeschichte eine Einbahnstraße: Das Adjektiv „europäisch“ hat sich durchgesetzt – und zwar außerphilosophischer Faktoren wegen. Ich denke da an Kolonialismus und Imperialismus. Das Adjektiv „europäisch“ hat sich universalisiert und hat sich interkulturell philosophisch durchgesetzt, nicht weil die Nichteuropäer erkenntnistheoretisch ausschließlich von der Leistung dieses Adjektivs überzeugt waren, sondern weil ihre Ansicht nicht gefragt war. Was wir heute brauchen, ist erstens eine Kritik, zweitens eine Korrektur einer provinzialistischen Auffassung der Philosophie und Religion und drittens die Erarbeitung einer interkulturellen Konzeption einer Historiographie der Philosophie im weltphilosophischen Kontext.

Ich gebe Ihnen dazu ein Beispiel. Als die Universität Kalkutta (die Universität, an der ich studiert habe) im 19. Jahrhundert gegründet wurde, sind fast alle Fächer, die es in Cambridge oder Oxford gibt, dort eingerichtet worden, nicht aber ein Fach „indische Philosophie“. Die Begründung dafür war: Philosophie sei europäisch. Es gab aber auch kein Fach „Indische Kunst“, und die Begründung dafür war, indische Kunst sei zu erotisch. Die Inder bekamen einfach keine Stimme, sie hatten bei sich in Indien nichts zu sagen. Wer Dialoge im Geiste einer interkulturellen Orientierung führen will, muss sich von zwei gefährlichen Fiktionen, Illusionen befreien: von der des absoluten Textes und von der der absoluten Interpretation.

Als wie dominant beurteilen Sie die europäische Philosophie heute?

Philosophie im Vergleich der Kulturen, sprich interkulturelle Philosophie hat die traditionelle hermeneutische Einbahnstraße verlassen und thematisiert kritisch auch die europäische Philosophie und Religion aus der Sicht z. B. des indischen, chinesischen oder afrikanischen Denkens. Dieses Interpretierbargewordensein des europäischen Geistes durch die Nichteuropäer überrascht Europa mehr als Nichteuropa. Auch heute noch bestimmen die Europäer, wie etwas hermeneutisch zu verstehen ist. Selbst ein so bedeutender Philosoph wie Gadamer sah hermeneutische Philosophie als griechisch-europäische Philosophie. Karl Jaspers ist dem interkulturellen Geist viel näher als Gadamer oder gar Heidegger. Der großartige Religionsphilosoph Eliade, der in den dreißiger Jahren in Kalkutta studiert hat, spricht in dieser Hinsicht von einer missglückten zweiten Renaissance. Damit meint er, dass die hoffnungsvolle Entdeckung des indischen Geistes (des Buddhismus, der Upanishaden u. a.) im 18. und 19. Jahrhundert in Europa bis auf den Indologen und einigen Romantikern kaum von Fachphilosophen, Fachtheologen, Historikern, Literaten ernst genommen wurde.

Zum Schluss: Welches sind Ihre Zukunftsaussichten?

Die Dinge ändern sich. Es dauert nur sehr lange. Vorurteile haben ein langes und zähes Leben. Der Name „Philosophie“ ist zwar europäisch, nicht aber die Sache. Philosophie ist nicht nur griechisch und europäisch, sondern auch griechisch und europäisch. Philosophie im Geiste der Interkulturalität wird ihre Universalität und Partikularität argumentativ verteidigen. Philosophie ist ‚orthaft ortlos’, weil sie konkret an einem bestimmten Ort entsteht, aber in keinem Ort restlos aufgeht. Interkulturelle Philosophie protestiert gegen eine argumentativ mangelhafte europäische Aneignung der Philosophie. Andersdenken ist Andersdenken und nicht unbedingt Falschdenken bis auf das denken, das neben sich kein anderes duldet.

Die folgenden mahnenden Worte Tagores gelten nicht nur für die Religion: Wenn je eine solche Katastrophe über die Menschheit hereinbrechen sollte, dass eine einzige Religion alles überschwemmte, dann müsste Gott für eine zweite Arche Noah sorgen, um seine Geschöpfe vor seelischer Vernichtung zu retten.



Von Ram Adhar Mall ist zum Thema u.a. erschienen:

Essays zur interkulturellen Philosophie. Zusammengestellt, eingeleitet und herausge- geben von Hamid Reza Yousefi. 182 S., kt., € 30.--, Traugott Bautz, Nordhausen.

Intercultural Philosophy. 168 S., Ln. € 76.30, kt., € 22.10, 2000, Rowman & Littlefield.

Gadamers Hermeneutik interkulturell gelesen. 134 S., kt., € 10.—, Interkulturelle Bibliothek Band 19, 2005, Bautz, Nordhausen.

Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung. VIII, 194 S., kt., € 34.90, 1995, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.

Mensch und Geschichte. Wider die Anthropozentrik. X, 208 S., Ln., € 19.90, 2000, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt