PhilosophiePhilosophie

BERICHT

Barbara Bleisch, Magdalena Hoffmann und Jörg Löschke:
Ethik: Familienethik. Ein Forschungsbericht


aus: Heft 1/2015, S. 16-29

Jeder Mensch hat eine Familie. Anders als Arbeits-, Liebes- oder Freundschaftsbeziehungen ist die Zugehörigkeit zu einer Familie notwendiger Bestandteil der menschlichen Biographie. Familienbeziehungen bedingen jedoch nicht nur unsere biologische Existenz, sondern prägen auch unsere soziale Identität: Die Bindung an Eltern, Geschwister und eigene Kinder beeinflusst maßgeblich unsere Sicht auf die Welt, auf andere und uns selbst. Angesicht der fundamentalen Bedeutung von Familienbeziehungen für die menschliche Identität und das menschliche Wohl ist bemerkenswert, dass die Familie in der Moralphilosophie des 20. Jahrhunderts lange Zeit wenig Beachtung fand. Zwar wurden Familienbeziehungen insbesondere in der angewandten und politischen Ethik immer wieder tangiert, bspw. in der Reproduktionsmedizin, im Kontext von Fragen der Chancengleichheit von Kindern oder hinsichtlich der Anwendung von Gerechtigkeitsprinzipien in Familiengefügen. Die Familienbeziehungen selbst sowie deren normative Struktur sind jedoch erst in jüngerer Zeit und insbesondere im englischsprachigen Raum zum viel diskutierten Forschungsgebiet geworden.

Die Familie in der Philosophiegeschichte

Philosophiegeschichtlich betrachtet ist die Familie in erster Linie ein Thema der politischen Philosophie und der Sozialphilosophie. Im Unterschied zur Analyse des Verhältnisses von Familie und Staat, fanden die Binnenverhältnisse innerhalb einer Familie deutlich weniger Beachtung. Dabei wurde die Familie in der Antike zuweilen auch sehr kritisch gesehen: So hat sich etwa Platon in der Politeia für die Auflösung jeglicher Familienbande (zumindest für den Wächterstand) ausgesprochen (Buch V). Dies ist eine konsequente Weiterführung seiner Argumentation gegen das Privateigentum: Ebenso wie die Kategorien von ‘mein’ und ‘dein’ hinsichtlich Eigentum abgeschafft gehörten, um die Einheit des Staates garantieren zu können, bewertete Platon auch die familiäre Loyalität kritisch und plädierte für die denkbar radikalste Lösung: Unterhöhlung dieser Loyalität durch die Aufhebung der Familie – zum Schutze der einzigen Instanz, der man Loyalität schulde: dem Staat. In den Nomoi schwächt Platon diese Position freilich ab; gleichwohl bleibt die Familie in Platons Werk ein Ort starker staatlicher Regulierung.

Aristoteles hatte demgegenüber ein positiveres Familienbild: In der Politik spricht er von der Familie bzw. dem Haushalt, der drei Relationen (Mann-Frau, Vater-Kinder, Herr-Sklave) umfasst, als einer elementaren Gemeinschaft. Entsprechend lehnt Aristoteles die von Platon propagierte Auflösung der Familie ab, da sie Vernachlässigung der Kinder begünstige und sich niemand für sie verantwortlich fühle. Aristoteles misst aber auch dem Binnenverhältnis zwischen Eltern und Kindern viel Bedeutung bei: Die Familienbeziehung ist für ihn eine Art Freundschaft, wenn auch eine unter Ungleichen (Nikomachische Ethik VIII 8+14), was u.a. damit zusammenhängt, dass die Eltern ihr Kind als quasi wesensmäßige Erweiterung ihrer selbst mehr und zeitlich früher lieben als umgekehrt.

Auch wenn es in der Stoa und im christlichen Mittelalter einzelne Philosophen wie Thomas von Aquin gab, die sich zur Familie und Kindern geäußert haben, ist es insbesondere John Locke, der mit seinen Ausführungen zur begrenzten elterlichen Autorität in Two Treatises of Government viel zum neuzeitlichen Verständnis der Familie beigetragen hat. Locke kritisiert Auffassungen elterlicher Autorität wie die von Sir Robert Filmer, der den Eltern kraft natürlicher Erzeugung absolute Autorität über die eigenen Kinder zumisst. Kinder dürften laut Locke nicht als Eigentum ihrer Eltern betrachtet werden. Vielmehr haben letztere eine Art treuhänderische Pflichten gegenüber ihrem Kind, da dieses nicht für sich selbst sorgen könne und den Eltern lediglich in Obhut gegeben werde.

In der Folge wurde das Thema Familie insbesondere im Hinblick auf erzieherische Maßnahmen aufgegriffen, so z. B. von Rousseau in seinem Émile, in dem er für eine Anerkennung der Kindheit als einen vollwertigen Zustand sui generis plädiert. Die Natur eines Kindes sei in der Erziehung zu respektieren und nicht voreilig mit gesellschaftlichen Erwartungen zu befrachten, damit das Kind sich ungehindert zu einer autonomen Person entwickeln könne. Auch für Kant ist die Autonomie das Ziel jeder Erziehung, auch wenn er sich in der Einschätzung der Kindheit deutlich von Rousseau unterscheidet: Für Kant ist die Kindheit aufgrund der noch unausgebildeten Rationalität nur eine Übergangsphase zum Erwachsen-Sein, die es mithilfe pädagogischer Maßnahmen bestmöglich zu überwinden gelte, wobei die öffentliche Erziehung vorteilhafter sei als die private. Denn die öffentliche Erziehung – so Kant in seiner Schrift Über die Pädagogik – garantiere die Entwicklung des Kindes zu einem guten, aufgeklärten Bürger besser als die von Parteilichkeit geprägte elterliche Erziehung.


Hegels Ausführungen zur Familie wiederum betreffen weniger konkrete Fragen zur Familienethik, als den Status der Familie selbst: In seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts bezeichnet er die Familie als “der unmittelbare oder natürliche sittliche Geist” (§ 157), dessen Bestimmung die Liebe ist, die er als ein Bewusstsein einer Einheit versteht. Kinder sind bei Hegel an sich frei. Sie haben ein Recht auf Erziehung zur Selbständigkeit und freien Persönlichkeit, wobei dieses Ziel in erster Linie durch "Zucht" erreicht werden solle, die den natürlichen, instinkthaften Eigenwillen des Kindes brechen solle. Sobald das erwachsene Kind selbständig ist und als Rechtsperson gilt, die eigenes Eigentum erwirbt und eine eigene Familie gründet, kommt es zur sittlichen Auflösung der Familie.

Was ist eine Familie?

Während die Familie, historisch betrachtet, immer wieder Eingang in philosophische Debatten gefunden hatte, reißt die Auseinandersetzung mit der Familie in der Philosophie des 20. Jahrhunderts ab und wird erst gegen dessen Ende hin wieder aufgenommen. Mit den neuartigen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin ab den 1970er Jahren, mit der Erfindung der Pille, die Sexualität von Reproduktion zu trennen vermag und die Familiengründung zur Option macht, und mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die zu einer Erweiterung und einer Liberalisierung von Lebensentwürfen führen, ist das Konzept der Familie weitaus weniger klar konturiert als zuvor. Bereits die Frage, wie eine Familie eigentlich zu definieren sei, ist in einer post-traditionellen, post-patriarchalen Gesellschaft, die beiden Geschlechtern, Hetero- wie Homosexuellen und verheirateten wie unverheirateten Paaren gleiche Rechte zugesteht, strittig.

Ein liberaler Vorschlag definiert die Familie funktional als eine multigenerationelle Gruppe, deren erwachsene Mitglieder in erster Instanz für die abhängigen Kinder sorgen ([10], [3]). Dabei wird ganz bewusst offen gelassen, wie viele Erwachsene sich die Verantwortung für die Kinder teilen, welche sexuelle Orientierung die Erziehungsberechtigten haben und ob die Kinder mit ihnen genetisch verwandt sind. Das Modell ist damit weltanschaulich neutral und scheint hinreichend inklusiv, um der Pluralität an Lebensentwürfen und Familienbildern gerecht zu werden. Es wurde aber dahingehend kritisiert, dass es den eigentlichen 'Wert' der Familie unterlaufe, indem es die Familie zur Wahlverwandtschaft degradiere, wohingegen Familie nicht eine Angelegenheit von Wählbarkeit sei ([18]).

Elternschaft – Biologie vs. Intention

Die reproduktionsmedizinischen Neuerungen und die sozialen Veränderungen machen auch eine Neudefinition von Elternschaft notwendig. Während Elternschaft lange Zeit biologisch definiert wurde (wobei Elternschaft im Rahmen eines Adoptionsverfahrens oder der Stiefelternschaft immer schon abgetreten respektive rechtlich zugesprochen werden konnte), ist die Bestimmung von Elternschaft heute weitaus komplexer. Sie ist zu einer gewichtigen Frage der Familienethik geworden, weil Elternschaft nicht nur mit einer sozialen und legalen Rolle einhergeht, sondern auch eine moralische Dimension aufweist: Wer ist für ein Kind in erster Instanz verantwortlich – wer gilt als dessen Vater und Mutter? Welche Pflichten und Rechte haben Väter und Mütter? Gegenwärtig werden insbesondere genetische, gestationale sowie intentionale Konzepte von Elternschaft diskutiert:

Genetische Ansätze verstehen Elternschaft weiterhin primär als Abstammungsverhältnis ([21]). Mit Verweis auf John Lockes Vorstellung von Selbsteigentümerschaft haben die genetischen Erzeuger Anspruch auf Elternschaft gegenüber ihren Kindern so wie sie Verfügungsrechte gegenüber anderen Teilen ihrer selbst haben. Diese Argumentation wird aus verschiedenen Gründen zurückgewiesen: Zum einen wird die Subsumption von Elternrechten unter Eigentumsrechten als inadäquat kritisiert, nicht zuletzt, weil dabei die elterlichen Pflichten im Vergleich zu den elterlichen Rechten zu wenig Gewicht bekommen ([30]). Zum andern bleibt unklar, weshalb allein der Umstand, dass zwei Personen in ihrer DNA übereinstimmen, erklären soll, dass sie in einer moralisch bedeutsamen Beziehung zueinander stehen. Dies versucht David Velleman insofern zu beantworten, als er das Aufwachsen bei den biologischen Eltern als zentral für die eigene Identitätsbildung sowie für den Erwerb von Selbstkenntnis anführt ([50]). Das Kindeswohl leistet also die Begründung dafür, weshalb die genetischen Eltern auch die sozialen Eltern eines Kindes sein sollen. Dagegen wendet etwa Sally Haslanger ([22]) ein, dass Identität im Wesentlichen ein soziales Konstrukt und keine genetische Größe sei und Velleman die Bedeutung der biologischen Eltern für die eigene Identitätsbildung in seiner Tendenz zur ‚Bionormativität’ überschätze, womit er zugleich andere Formen der Elternschaft wie Adoption diskriminiere.

Eine weitere biologische, wenn auch nicht genetische Quelle von Elternschaft propagiert das gestationale Modell, das der Schwangerschaft die zentrale normative Bedeutung zumisst (u.a. [19]). Zum einen ist eine Schwangerschaft mit erheblichen physischen, psychologischen, sozialen und finanziellen Kosten verbunden, die man nur zu tragen bereit sei, wenn man dem geborenen Kind gegenüber auch Eltern sein dürfe. Zum anderen würden werdende Eltern bereits während der Schwangerschaft eine nicht nur körperliche, sondern auch emotionale Beziehung zum Fötus aufbauen. Gegen diesen Ansatz wird insbesondere eingewendet, dass er zwar für Mütter überzeugen könne, Väter aber diskriminiere, insofern für Väter diese Begründung nicht anwendbar ist [31]. Dem gegenüber lässt sich anmerken, dass werdende Väter zwar nicht alle Kosten einer Schwangerschaft tragen können – natürlicherweise insbesondere die physischen nicht –, dass sie aber nichtsdestoweniger ihre Partnerin unterstützen und eine Bindung zum Ungeborenen aufbauen können; dies gilt laut Gheaus prinzipiell auch für Adoptiveltern. Fraglich bleibt aber, ob die normative Asymmetrie zwischen Mutter und Vater bzw. zwischen Mutter und Adoptiveltern in diesem Ansatz gänzlich aufgehoben werden kann. Läge Gheaus richtig, hätte dies weitreichende Konsequenzen für die Bewertung der Leihmutterschaft: Der austragenden Frau käme die primäre Mutterschaft zu, obgleich die sozialen Eltern möglicherweise die genetischen Eltern des Kindes sind.

Intentionale Ansätze hingegen, welche Elternschaft als Absicht, Vater resp. Mutter eines bestimmten Kindes sein zu wollen, interpretieren, fokussieren auf die Tätigkeit des Eltern-Seins, auf die tatsächliche Beziehung zum Kind statt auf biologische Tatsachen ([49]). Wer demnach Eltern eines Kindes zu sein beabsichtigt, sollte entsprechende Rechte und Pflichten übertragen bekommen. Das intentionale Modell trägt damit auch Fällen Rechnung, in denen nicht-biologische Eltern durch entsprechende Absichten und Engagement als Eltern anerkannt werden (z.B. Adoptiveltern oder homosexuelle Eltern, deren Kind von einer Leihmutter ausgetragen wird), und vice versa, Fällen, in denen genetische Eltern(teile) wie etwa Eizellspenderinnen und Samenzellspender keine elterlichen Rechte und Pflichten erhalten, weil sie mit ihrer Spende Elternschaft auch gar nicht beabsichtigt haben. Normative Grundlage des intentionalen Ansatzes ist ein Voluntarismus von Beziehungspflichten, demzufolge Beziehungen nur dann Pflichten generieren, wenn sie freiwillig eingegangen wurden. Ob der Voluntarismus in Familienbeziehungen eine angemessene Forderung ist, ist allerdings strittig (s. u.).

Kindheit – Zustand vs. Phase

Auch die Frage, worin der Wert der Kindheit besteht und wie diese Epoche im Leben eines jeden Menschen am besten zu definieren sei, beschäftigt Familienethiker. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine inhaltliche Bestimmung parentaler Rechte und Pflichten sich am Wohl des Kindes zu orientieren hat, was wiederum die Frage aufwirft, was ein Kind eigentlich genau ist und worin eine glückliche Kindheit besteht. Debattiert wurde dabei vor allem, ob die Kindheit als Zustand oder als Phase zu definieren sei, ob das Kind also in erster Linie als ein ‚Seiendes’ oder als ein ‚Werdendes’ zu verstehen ist (vgl. [2]: 92, [4]). Jene, die Kindheit als Zustand verstehen, reduzieren das Kind nicht auf ein unreifes Wesen, das in erster Linie erwachsen werden muss, sondern verstehen es bereits als eigenständige Persönlichkeit (vgl. dazu schon Rousseau in Émile). Vertreter einer solchen Konzeption erachten erzieherische Maßnahmen stets als rechtfertigungsbedürftig: Das Kind ist nur insofern zu erziehen, als es der physischen Fürsorge bedarf und es darin gestärkt werden muss, die eigenen Ressourcen zu entdecken. Kritiker dieses Ansatzes haben eingeworfen, die Kindheit werde dadurch als magischer Moment der Unschuld mystifiziert. Dabei werde übersehen, dass die Kindheit auch eine Zeit der Abhängigkeit und der besonderen Verletzlichkeit sei, die sich eben gerade daraus ergebe, dass Kinder noch nicht erwachsen und mündig sind. Kindheit sei deshalb treffender als Phase auf dem Weg zum Erwachsenalter zu bestimmen, die es zu überwinden gelte. Diese teleologische Bestimmung der Kindheit als Vorbereitung aufs Erwachsenenalter findet ihre Entsprechung in der Entwicklungspsychologie, wie sie von Jean Piaget vertreten wurde. Das Kind ist demzufolge unvollständig – aber offen für eine Vervollständigung, die in der Erziehung schrittweise erfolgt. Erziehung ist also unweigerlich dynamisch, was die Frage aufwirft, wie man diese Dynamik im Sinne einer zunehmenden Befähigung des Kindes positiv unterstützt. Monika Betzler ([6]) argumentiert in diesem Kontext für eine Elternpflicht der Erziehung des Kindes zur Autonomie. Dabei kämen persönlichen Projekten wie etwa Hobbys eine große Rolle zu, insofern als sie dem Kind helfen würden, eigene evaluative Einstellungen wie Wertschätzung – die für Autonomie erforderlich sind – zu entwickeln und sich daran über die Zeit hinweg zu orientieren.

Die beiden skizzierten Positionen finden eine analoge Entsprechung in der jüngst begonnenen Diskussion um den Wert von Kindheit (vgl. [7]). In dieser Debatte geht es etwa um die Frage, ob Kindheit als Lebensabschnitt im Vergleich zu anderen Lebensphasen einen intrinsischen oder einen instrumentellen Wert besitzt. Angenommen, man könnte die Phase der Kindheit überspringen und direkt das Leben eines Erwachsenen führen: Wäre dies erstrebenswert? Geht man von einem instrumentellen Wert der Kindheit aus, müsste man diese Frage bejahen – schließlich leitet sich in dieser Konzeption der Wert von Kindheit von dem des Erwachsenen-Seins ab, insofern sie ‚vorbereitenden’ Charakter auf letzteren Zustand hat. Doch diese derivative Auffassung dürfte der gängigen Intui-tion, dass Kindheit über eigene intrinsische Güter verfügt, die sie zu einer genuin wertvollen Phase mache, widersprechen. Als solche intrinsischen Güter werden etwa freies Spiel, Spaß, das Entdecken der Natur sowie Unbekümmertheit angeführt, die unabhängig von ihrer Funktion für das spätere Erwachsenenleben wertvoll sind. Gleichwohl sind es Güter, die auch Erwachsene für genuin erstrebenswert halten könnten (und es tun), was die Frage aufwirft, was diese Güter so wertvoll in der Kindheit macht.

Parentale Pflichten

Die Frage, wie die Kindheit zu definieren sei und worin ihr Wert bestehe, ist, wie bereits erwähnt, relevant für die Bestimmung der elterlichen Pflichten. Da Kindern oft die Fähigkeit abgesprochen wird, ihre informierten Interessen zu erkennen und zu äußern, wurden sie in der philosophischen Tradition selten als moralische Subjekte, sondern oft als Objekte elterlicher Fürsorge betrachtet. Diese Fürsorge hat sich dabei am Wohl des Kindes auszurichten ([1]; [37]). Je nach zugrunde gelegtem Ansatz von Kindheit – als Zustand oder als Phase (s.o.) – wird das Kindeswohl dabei als Wahrung der aktuellen kindlichen Interessen ausgelegt oder als Respekt vor den Interessen des zukünftigen Erwachsenen, zu dem das Kind erst werden wird. Viele Autorinnen und Autoren haben freilich Mischformen vertreten. Eine mittlere Position nimmt auch Joel Feinberg ein mit seinem Postulat eines kindlichen Rechts auf eine offene Zukunft ([17]), das die Wahrung der kindlichen Autonomie bei der Wahl von Lebensplänen als zentral herausstreicht. Diese liberale Haltung gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen steht in Spannung zur These, dass Tradition und Gemeinschaft für das menschliche Wohl von zentraler Bedeutung seien. Demzufolge sollten Kindern jene Werte vermittelt werden, die es ihnen ermöglichen, sich mit der Gemeinschaft und der Familie, in der sie heranwachsen, auch als Erwachsene zu identifizieren. Definitionen der elterlichen Fürsorgepflichten spiegeln somit immer auch Ansichten darüber, worin geglücktes menschliches Leben besteht und welche Rolle die Autonomie respektive die Einbettung in gesellschaftliche Werthaltungen in ihm spielt.

Für das kindliche Wohl unbestritten (und auch massenhaft mit psychologischen Studien belegt) sind das Vorhandensein verlässlicher Bezugspersonen sowie elterliche Liebe. Aus diesem Grund wurde die Frage aufgeworfen, ob Kinder das Recht haben, geliebt zu werden bzw. ob Eltern die Pflicht haben, ihre Kinder zu lieben. Gestützt auf empirische Studien, argumentiert etwa Matthew Liao ([34]), dass die Erfahrung (insbesondere von den eigenen Eltern) geliebt zu werden, eine fundamentale, unerlässliche Bedingung für ein gutes Leben sei, woraus sich das entsprechende Kinderrecht bzw. die Elternpflicht ableiten lasse. Dem gegenüber hat MhairiCowden ([12]) u.a. eingewandt, dass eine solche Pflicht zur Liebe verfehlt sei, da Liebe nicht ‚angeordnet’ werden könne, was Liao insofern bestreitet, als dass eine hinreichende Kontrolle über Emotionen wie Liebe bzw. deren Kultivierung möglich sei ([35]). Letztlich dürfte die Plausibilität der diskutierten Pflicht zur Liebe auch stark vom zugrundeliegenden Verständnis von Liebe und deren Kultivierungspotential abhängen.

Fürs Kindeswohl unbestritten wichtig ist, dass es in stabilen Beziehungsnetzen aufwachsen kann. Vor diesem Hintergrund wird das Modell 'geteilter Elternschaft' diskutiert, das Eltern insbesondere in ihrer Erziehungsfunktion, und nicht so sehr in ihrer fragilen Paarbeziehung als zentralen Bezugspunkt für Kinder herausstreicht ([53]). Die elterliche Pflicht besteht demnach insbesondere darin, langfristig für ein Kind zu sorgen und verlässlich für dieses da zu sein.

Kinderrechte, Elternrechte

Die Fokussierung der Familienethik auf die elterliche Fürsorge und auf das Kindeswohl wurde aber auch kritisiert. So meinen etwa die Liberationisten, dass eine solche Fokussierung den Kindern als Gruppe unrecht tue, indem sie primär als unmündige, schutzbedürftige, entwicklungsfähige Wesen betrachtet würden und nicht denselben moralischen Status zugesprochen erhielten wie Erwachsene. Liberationisten verlangen demgegenüber gleiche Rechte für Kinder wie für Erwachsene ([24], [11]). Damit gehen sie über die Forderungen der politischen Kinderrechtsdebatte hinaus, die vor allem eine Ausweitung der kindlichen Fürsorge- und Wohlfahrtsrechte fordert. Konkrete Anwendung findet sie beispielsweise in der Debatte über ein Recht des Kindes, sich von seinen Eltern trennen zu dürfen - analog zum Erwachsenenrecht auf Scheidung (vgl. [40]).
Die sog. Protektionisten argumentieren dagegen im Anschluss an John Lockes Two Treatises of Government, dass Liberationisten die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern übersehen würden, die zu berücksichtigen notwendig sei, damit Kinder im Erwachsenenleben ihre Freiheitsrechte dereinst überhaupt sinnvoll nutzen könnten (vgl. [39]: 217). Die Debatte zwischen Protektionisten und Liberationisten hat in jüngster Zeit vor allem in der Diskussion um die Frage Widerhall gefunden, wie das Prinzip des ‚informed consent’, demzufolge etwa medizinische Behandlungen nicht gegen den informierten Willen des Patienten erfolgen dürfen, auf Kinder angewendet werden kann und soll (vgl. [13]).

Auch die Frage, wie sich parentale Rechte und Pflichten zueinander verhalten (s.o.), ist nach wie vor eine offene Frage. Kindes-zentrierte Ansätzen zufolge sind die elterlichen Rechte abhängig von deren Pflichten, d.h. letztere besitzen moralisch gesehen Priorität (sog. Prioritätsthese, vgl. [8]: 104-114). Demnach haben Eltern parentale Rechte – wie beispielsweise ihren Kindern Wertvorstellungen zu vermitteln, sie religiös zu erziehen, ihre Schule zu wählen, zu entscheiden, ob das Kind geimpft wird, etc. – um ihren Pflichten nachkommen zu können. So haben Eltern etwa das Recht über die medizinische Behandlung ihres Kindes zu bestimmen, weil sie die Pflicht haben, sich um das Wohl ihres Kindes zu kümmern und es zu befördern. Eltern-zentrierte Ansätze fundieren elterliche Rechte dagegen im parentalen Interesse am Eltern-Sein ([10]): Elternschaft sei ein Projekt, das Eltern einmalige und unersetzliche Güter bereitstelle wie die Verantwortung für ihr heranwachsendes Kind übernehmen zu dürfen oder das innige Vertrauen ihres Kindes zu genießen. Ohne adäquate Berücksichtigung dieses parentalen Interesses könne man nicht begründen, warum Kinder nicht von anderen, als besser geeignet erachteten Erwachsenen oder einer staatlichen Institution erzogen werden sollten (vgl. [10]: 86).

Neben der Frage, was die Quelle elterlicher Rechte ist und wie sich diese zu parentalen Pflichten verhalten, ist darüber hinaus umstritten, was genau der Inhalt dieser Rechte ist und wie extensiv diese Rechte auszulegen sind [vgl. [47], Kap. 8]. Letztere Frage wird insbesondere im Kontext von religiöser Erziehung und/oder medizinischen Eingriffen kontrovers diskutiert. Ein aktuelles Beispiel wäre die Debatte um die Legitimität der Beschneidung von muslimischen Jungen oder des christlichen Rituals der Kindstaufe.

Bei der Frage nach elterlichen Rechten und Pflichten geht der Diskurs verständlicherweise zumeist von unmündigen, minderjährigen Kindern aus. Dass aber Eltern auch ihren erwachsenen, selbständigen Kindern gegenüber Pflichten haben könnten, zeigt etwa Norvin Richards (vgl. [43], Kap. 10) auf. So dürften (erwachsene) Kinder erwarten, dass ihre Eltern ihnen auch weiterhin helfen, sofern diese es bislang getan haben und nicht eine Abkehr von dieser Praxis kommuniziert haben.

Lizenzierung von Eltern

Bei aller scharfsinnigen Analyse von elterlichen Rechten und Pflichten darf nicht vergessen gehen, dass in der Realität eine erschreckende Anzahl von Kindern unter elterlicher Vernachlässigung und Misshandlung zu leiden hat. In schweren Fällen von Misshandlung besitzt der Staat zwar ein Interventionsrecht, doch dann ist die Misshandlung bereits geschehen. Vor diesem Hintergrund hat sich eine Debatte darüber entsponnen, ob Eltern nicht – analog zu zahlreichen Berufsständen wie Ärzte oder Anwälte – lizenziert werden müssten, bevor sie das elterliche Erziehungsrecht ausüben dürfen. So argumentiert etwa Hugh LaFollette ([33]), dass eine Lizenzierung einer bestimmten Tätigkeit immer dann gefordert sei, wenn es a) um eine Aktivität gehe, bei der Drittpersonen zu großem Schaden gelangen könnten, wenn b) (lizenzierte) Kompetenz eine Schädigung verhindern könnte und wenn c) die Vorteile einer Lizenzierung deren Nachteile überwiegen. Diese drei Bedingungen sieht LaFollette im Fall der Lizenzierung von Eltern als erfüllt an, wobei er insbesondere auf die hohe Verletzlichkeit von Kindern und deren Abhängigkeit von den Eltern hinweist. Eine Bestrafung der Eltern (oder eine Fremdplatzierung des Kindes) erst nach geschehener Misshandlung oder Vernachlässigung verfehle den Zweck, nämlich den Schutz des Kindes vor Misshandlung bzw. Vernachlässigung (vgl. [33]: 9]). Allein eine Lizenzierung könne letzteres hinreichend gewährleisten.

LaFollettes Argumentation ist auf viel Widerstand gestoßen – sowohl was die ethischen als auch die praktischen Aspekte einer Lizenzierung betrifft. De Wispelare und Weinstock (vgl. [15]) beispielsweise kritisieren die Analogie zwischen Elternschaft und anderen zu lizenzierenden Tätigkeiten wie die Ausübung des Arztberufs, insofern als es zu letzteren stets Alternativen gebe, nicht aber zur Elternschaft. Elternschaft sei nämlich nicht nur eine wertvolle, sondern auch eine unersetzliche Tätigkeit dank der einzigartigen Beziehung zwischen Eltern und Kinder (s. u.). Das Recht auf Elternschaft habe zwar Grenzen und müsse bestimmte Bedingungen erfüllen, gleichwohl sei es zunächst einmal basal und dürfe entsprechend nicht schon im Vorfeld in Frage gestellt werden, zumal die Gefahr bestehe, dass zu viele Eltern als inkompetent eingestuft würden, ohne es tatsächlich zu sein (vgl. [44]: 59-60). Dann würden aber die Nachteile einer Lizenzierung nicht mehr die Vorteile überwiegen. Außerdem stelle sich die praktische Frage, was mit den Kindern geschehe, die bereits geboren sind, deren Eltern aber nicht die erforderliche Lizenzierung erhalten haben. Unzweifelhaft für beide Seiten ist jedoch, dass eine externe Unterstützung von Eltern durch Fachpersonen zu begrüßen sei, so dass ein Kompromiss darin bestehen könnte, anstelle eines prospektiven Lizenzierungsverfahrens begleitende Elternkurse zum Obligatorium zu erklären.

Filiale Pflichten

Die Frage nach der Begründung und inhaltlichen Bestimmung filialer Pflichten ist mit Blick auf das minderjährige Kind bisher kaum diskutiert worden (eine Ausnahme bildet [38]). Mit Blick auf das ‚erwachsene Kind’ existiert jedoch eine aktuelle Diskussion darüber, was Kinder ihren Eltern schulden (vgl. [28]), die bisher insbesondere durch die sog. ‚Überalterung’ unserer Gesellschaft motiviert war. Die Moralphilosophie konzentrierte sich in der Folge auf die Frage nach filialen Hilfspflichten, den eigenen Eltern im Alter beizustehen und sie ggf. sogar zu versorgen (vgl. dazu kritisch [14]). Dabei wurden insbesondere drei Modelle der Begründung filialer Pflichten diskutiert:

● Das Reziprozitätsmodell versteht die spezifischen Pflichten, die Kinder gegenüber ihren Eltern haben, als Pflichten zur Rückzahlung einer Schuld, die Kinder aufgebürdet erhalten durch die mannigfachen Mühen und Aufwendungen, welche die Erziehungsarbeit für die Eltern mit sich bringt (vgl. bereits Aristoteles EN IX 1-2). Das Reziprozitätsmodell beruht jedoch auf einer Analogie, die mit Blick auf das erwachsene Eltern-Kind-Verhältnis schief ist: Sobald der Schuldner die bestimmbare reziproke Leistung erbringt, sind er und sein Gläubiger 'quitt'. Filiale Pflichten sind jedoch nicht derart, dass wir sie irgendwann erfüllt hätten, weil wir ausreichend Güter erstattet haben (vgl. [16]: 354). Außerdem fehlt in der Beziehung zwischen Eltern und Kinder ein entsprechender 'Vertrag', auf dem Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse beruhen. Anders gesagt ist der entsprechende Voluntarismus nicht gegeben, der in vertraglichen Schuldbeziehungen eine eminente Rolle spielt, denn das Kind hat weder um die Fürsorge, noch um das Leben, das ihm 'geschenkt' wurde, gebeten.

● Das Dankbarkeitsmodell versteht filiale Pflichten demgegenüber als Dankbarkeitspflichten, die aufgrund des Umstands geschuldet sind, dass Eltern ihren Kindern vieles geschenkt haben (vgl. [52]; [25]). Allerdings ist es einem weit geteilten Verständnis zufolge die elterliche Pflicht, ihre Kinder mit den entsprechenden Gütern zu versorgen (s.o.). Haben Eltern mit ihrer Sorge um das Kindeswohl allerdings bloß ihre Pflicht getan, ist nicht einsichtig, weshalb Kinder ihnen aufgrund dieser Pflichterfüllung Dank schulden (vgl. [8]; [5]).

● Das Freundschaftsmodell filialer Pflichten versucht diese nicht transaktional, sondern relational, also mit Blick auf die aktuelle Beziehung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern zu begründen. Es behauptet, dass Kinder ihren Eltern gegenüber genau dann speziell verpflichtet sind, wenn sich die jeweilige Eltern-Kind-Beziehung analog zu einer Freundschaftsbeziehung verhält ([16]; [26]). Die Quelle filialer Pflichten besteht demnach nicht in dem, was Eltern für ihre Kinder getan haben, sondern im aktuellen freundschaftlichen Verhältnis zwischen den erwachsenen Kindern und deren Eltern. Das Freundschaftsmodell vermeidet das Problem des Reziprozitätsmodells, indem es keine Grenzen in der Erfüllung von Pflichten vorsieht. Werden die entsprechenden Güter nicht mehr bereitgestellt, besteht die Freundschaft vielmehr nicht mehr (vgl. [16]: 354ff.). Allerdings ist das Freundschaftsmodell mit dem Problem konfrontiert, dass die Analogie der Eltern-Kind-Beziehung zur Freundschaft aus verschiedenen Gründen schief scheint. Vornehmlich der Umstand, dass Freundschaften gewählt sind, während Familienbeziehungen 'unfreiwillig' erscheinen, wird in der Literatur diskutiert. Andere haben versucht, aus dem speziellen Wert, den die Familie für die meisten darstellt, entsprechende Pflichten abzuleiten. Simon Keller ([28]) versteht filiale Pflichten bspw. als Pflichten, die eigenen Eltern mit den speziellen Gütern zu versorgen, die für eine Elternkindbeziehung typisch sind und deren Beschaffung sich nicht an andere Personen delegieren lässt, also etwa mit der ganz speziellen Fürsorge und dem Interesse aneinander, wie sie zwischen Eltern und erwachsenen Kindern möglich sind. Claudia Mills ([36]) geht dem gegenüber von der bedingungslosen Liebe aus, die normalerweise nahe Familienmitglieder verbindet, und attestiert gerade dieser Bedingungslosigkeit speziellen Wert. Mills wie Keller stehen aber vor der Herausforderung, von der Behauptung eines speziellen Wertes der Familienbeziehung zur Begründung einer filialen Pflicht zu gelangen, diese Beziehung auch weiter zu pflegen. Außerdem wurde in jüngster Zeit auch die These in Zweifel gezogen, dass Familienbeziehungen überhaupt speziell seien und sich von anderen persönlichen Beziehungen unterscheiden ([20]).

Familie und Parteilichkeit

Neben der Binnendiskussion darüber, was Familienbeziehungen normativ von anderen persönlichen Beziehungen unterscheidet und welche Pflichten und Rechte Familienmitglieder als solche haben, sind Familienbeziehungen auch aus einer moralphilosophischen Außenperspektive diskutiert worden. Da Familien paradigmatische Formen von intimen Nahbeziehungen sind, deren Mitglieder einander offenbar mehr schulden als Außenstehenden, steht eine moralphilosophische Auseinandersetzung mit der Familie immer auch im Kontext der weiteren Debatte um gerechtfertigte Formen von Parteilichkeit: Ist es mit der moralischen Gleichwertigkeit aller Personen als Mitglieder der moralischen Gemeinschaft vereinbar, den Interessen einiger Personen Vorrang einzuräumen – womöglich auf Kosten der Interessen anderer Personen (vgl. dazu etwa die Debatte um Privatschulen und Chancengerechtigkeit)? Welche Gründe können für eine solche Bevorzugung angeführt werden, und woher erhalten diese Gründe ihre normative Kraft?

Modelle gerechtfertigter Parteilichkeit wurden und werden dabei oft mit Blick auf Eltern-Kind-Beziehungen diskutiert: Eltern, die ihre Kinder nicht in bestimmten Situationen bevorzugen, scheinen einen moralischen Fehler zu begehen ([41]). Eine klassische Begründung elterlicher Parteilichkeit liefert der Utilitarismus: Elterliche Parteilichkeit führt im Allgemeinen zu einer Maximierung des Nutzens und ist daher aus unparteilicher Perspektive geboten ([48], [23]). Solche instrumentalistischen Auffassungen von elterlicher Parteilichkeit scheinen allerdings dem Einwand ausgesetzt, dass sie die normative Bedeutung von Eltern-Kind-Beziehungen nicht angemessen fassen können: Die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern wird nur mit Blick auf das unpersönlich verstandene Gute gerechtfertigt, nicht mit Blick auf die konkreten Individuen, die in der Beziehung zueinander stehen.

Überzeugender scheinen Ansätze zu sein, die der Beziehung zwischen Eltern und Kindern direkte normative Relevanz einräumen. Die dominierende Auffassung in der Literatur besteht darin, Beziehungen selbst als Quelle von Gründen der Parteilichkeit zu betrachten ([32], [46], [27], [51]): Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern wird als wertvoll betrachtet, und dieser Wert generiert Gründe zu seiner Realisierung. Solche beziehungszentrierte Ansätze sehen sich aber u. a. dem Einwand ausgesetzt, ihrerseits den Wert einer Beziehung auf Kosten ihres Werts für die Beteiligten überzubetonen (vgl. [29], Kap. 3). Eine Alternative besteht darin, Gründe für Parteilichkeit im Wert der Person zu verorten, zu der eine Beziehung besteht – im Fall von Eltern und Kinder wäre dies der Wert der Kinder, der den Eltern Gründe gibt, ihre Interessen bevorzugt zu behandeln ([29]). Die Eltern-Kind-Beziehung hat in dieser Auffassung insofern normative Relevanz, als sie den besonderen Wert der Kinder für die Eltern zugänglich macht.

Die Frage, die Parteilichkeitsskeptiker bewegt, ist an dieser Stelle allerdings noch nicht beantwortet: Die Frage, ob die Familie und die ihr inhärente Parteilichkeit nicht Ungerechtigkeiten fortschreibt. Auch wenn bisweilen darauf hingewiesen wird, dass Parteilichkeit den Beteiligten nicht nur Vorteile bringt, sondern auch zusätzliche Lasten aufbürden kann ([45]), scheint die Familie doch aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive Probleme mit sich zu bringen ([3]). Eine Rechtfertigung von familiärer Parteilichkeit könnte dann dadurch geschehen, dass ihr selbst gerechtigkeitsrelevante Funktion zugeschrieben wird, etwa indem darauf hingewiesen wird, dass Personen erst innerhalb familiärer Strukturen einen stabilen Gerechtigkeitssinn erwerben ([42]). Ob diese Überlegung ausreicht, um weitreichende Formen von familiärer Parteilichkeit zu begründen, ist allerdings fraglich, da es dazu tendiert, Familien gerechtigkeitstheoretisch als (instrumentell begründetes) notwendiges Übel aufzufassen.

Ausblick


In den letzten Jahren hat sich die Familienethik immer stärker etablieren können, zunächst im englischsprachigen Raum, seit wenigen Jahren aber auch im deutschsprachigen. Entsprechend gibt es Fortschritte im Verständnis von Elternschaft und Kindheit, elterlichen und filialen Pflichten sowie der besonderen Eltern-Kind-Beziehung zu verzeichnen. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich der Forschungsbedarf in anderen Bereichen immer stärker ab: Bislang fokussierte die Familienethik (ausschließlich) auf Eltern und ihre Kinder, ohne Familienmitglieder wie Geschwister, Großeltern, Tanten und Onkel etc. zu berücksichtigen. Eine normati-ve Analyse weiterer Familienverhältnisse steht noch aus bzw. wird erst ansatzweise in Angriff genommen.

Rechtsethische Debatten zur Frage, wie die einzelnen innerfamiliären Beziehungen rechtlich, aber auch moralisch zu regeln sind, gewinnen außerdem zunehmend an Brisanz. Erwähnt seien an dieser Stelle beispielsweise die Debatte in der Schweiz um eine Neuregelung des Eherechts (vgl. dazu auch die Debatte in der Philosophie um die Abschaffung der Ehe, z.B. [9]), die Frage der Legitimität des familiären Pflichtanteils im Erbrecht oder das als „Rabenvater-Urteil“ in die Presse eingegangene Urteil des deutschen Bundesgerichtshofs, in dem ein erwachsener Sohn zur nachträglichen Unterhaltszahlung für seinen verstorbenen Vater verpflichtet wurde, obwohl der Vater den Kontakt zu seinem Sohn längst abgebrochen hatte (BGH XII ZB 607/12).

Auch die moderne Reproduktionsmedizin wird weiterhin familienethische Debatten notwendig machen. Während die Vaterschaft bis zur Entwicklung von Vaterschaftstests stets mit einer gewissen Unsicherheit behaftet war (Stichwort ‚Kuckuckskinder’), wird mit dem Aufkommen von Eizellspende, Mitochondrienspende und Leihmutterschaft auch der rechtliche Grundsatz 'mater sempercertaest' in Frage gestellt. Ein Kind kann heute außerdem mehr als zwei biologische Elternteile haben. Die Debatte darüber, wer als Eltern eines Kindes zu gelten hat und welche Rechte und Pflichten mit der Elternschaft einhergehen, steht deshalb in vielerlei Hinsicht noch ganz am Anfang.

Ein weiteres Gebiet, das neue Aufmerksamkeit fordert, ist das Enhancement von Kindern: Welche Rechte und Pflichten haben Eltern, ihre Kinder mithilfe der Medizin in ihrer Leistungsfähigkeit zu verbessern? Und soll entsprechendes Enhancement auch auf der Ebene der Genetik im Rahmen von Präimplantationsverfahren zugelassen werden? Diese Fragen werfen Philosophen zurück auf die Debatten darum, was eine gute Kindheit ist, welche Rechte ein (ungeborenes) Kind hat und welche Rechte und Pflichten erblich vorbelasteten Paaren zukommen. Kurzum: Es bleibt noch einiges zu tun.

UNSERE AUTOR(INN)EN:

Barbara Bleisch, Magdalena Hoffmann und Jörg Lösche sind promovierte Philosoph(inn)en und haben im Rahmen eines Nationalfondprojektes an der Universität Bern zum Thema gearbeitet. Barbara Bleisch und Monika Betzler geben im Frühjahr 2015 einen Band “Familiäre Pflichten” bei Suhrkamp heraus. Ferner erscheinen 2015 zwei Themenschwerpunkte zur Familienethik in folgenden Zeitschriften: 1) In der Zeitschrift für Praktische Philosophie (hrsg. v. Magdalena Hoffmann und Monika Betzler), 2) Im Journal of Moral Philosophy (hrsg. v. Jörg Löschke und Monika Betzler).

Zitierte Literatur:

[1] Archard, David (1990): Child Abuse: Parental Rights and the Interests of the Child, Journal of Applied Philosophy 7, 183-194.
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