PhilosophiePhilosophie

BESPRECHUNG

Helmut Holzhey:
Pathische Urteilskraft. Gedanken zum Leiden im Anschluss an ein Buch von Hartwig Wiedebach

aus: Heft 4/2015, S. 44-53

 

Wiedebach, Hartwig: Pathische Urteilskraft. 272 S., Ln., € 25.—, 2015, Karl Alber, Freiburg.

Es ist ein anderer als der philosophisch vertraute Geist, der in diesem Buch weht: nicht der Geist der transzendentalen Grundlegung oder einer auf produktiver Negativität aufbauenden Dialektik und auch nicht der Geist des Abwägens von Argumenten auf der Basis fragloser Rationalität. Fern jeder Dogmatik läuft das Buch aber auch nicht auf Lebenskunst hinaus oder liefert dafür eine „bündige Methodenlehre“ (34). Sein Geist lässt sich nur durch Stichworte wie „Befangenheit im Menschlichen“ (26), „Hingabe“ (als „Kraft in der Befangenheit“, 19), „denkendes Erleiden des Lebens“ u. ä. andeutend umreißen. Es beginnt mit dem Satz: „Dies ist ein Versuch, aus Befangenheit im Menschlichen heraus in eben dieser Befangenheit Orientierung zu verschaffen.“ Orientierung wird für den Umgang mit menschlichem Leiden gesucht. Dabei ist Leiden jedweder Gestalt (das „Pathische“) nicht nur das Thema der Gedankengänge des Buches, es prägt auch ihre stilistische „Form“. 

Wiedebach legt keine Abhandlung vor und gleichwohl keinen philosophischen Roman. Das Buch erwächst vielmehr aus in philosophischer Strenge (28) fortgehenden Überlegungen, die wohl der Theorie verpflichtet sind, aber nicht auf streng allgemeine Urteile führen. Wiedebach spricht von einer „Einkehr in die Beschränkung“ (10), die er teils üben, teils thematisieren will. Dazu gehören ein „Wechselspiel“ (34) von Sowohl – Als auch, die Anerkennung zweier Formen von Wissenschaftlichkeit (31), ein „fragmentarisches Begreifen“, in dem es um ein „Sichtbar-Werden“ geht, oder das Aushalten von Widersprüchen im Selbstverständnis eines Menschen. „In pathischer Gebundenheit über das Pathische zu reflektieren, ist mein Ziel.“ (10) Reflektierendes Erkennen erscheint so selbst als ein „pathisches Geschehen“, das in „Urteile mit Zügen des Erleidens und Gehorchens“ mündet (11). Die ernste Anstrengung, das pathische Moment im menschlichen Leben und dessen Reflexion bzw. Erkenntnis angemessen zur Sprache zu bringen, macht das Besondere und Auszeichnende dieses Buches aus. 

Zentriert auf das Thema des Leidens gehe ich im Folgenden weder auf Wiedebachs Ausführungen zu einer aus „leidenschaftlicher Befangenheit“ entspringenden situationsbezogenen Sachlogik (69) ein noch auf den „pathischen Konnektionismus“ (107ff.) noch auf die der pathischen Wissenschaftlichkeit zugeordnete abdukrive Logik (215ff.). Ebenso wenig sind diejenigen Teile des Buchs, in denen Wiedebach in kritischer Interpretation der einschlägigen Schriften insbesondere Viktor von Weizsäckers auf die Praxis medizinisch-ärztlichen Handelns eingeht, Gegenstand dieses Beitrags. 

Pathisches Urteilen 

Um aber nun zunächst dem gewohnten Stil einer Buchanalyse zu fröhnen: Was besagt, genauer besehen, „pathisches Urteilen“ bzw. „pathische Urteilskraft“? Die ungewöhnliche Verknüpfung des sprachlich kaum vertrauten „pathisch“ mit der aus Kants Werk bekannten „Urteilskraft“ ist erklärungsbedürftig. 

Urteilen ist, erkenntnislogisch betrachtet, eine Handlung des Verstandes, in der Begriffe oder Sätze mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit des Urteilsinhalts verbunden werden. Eine spezifische Urteilskraft ist hierbei insofern vonnöten, als diese Verknüpfung unter allgemeinen Regeln steht, die richtig angewandt werden wollen. Mit Hilfe der Urteilskraft bestimmen wir, ob ein Gegebenes unter eine Regel zu subsumieren ist oder nicht. Neben der Subsumtion unter eine gegebene allgemeine Regel oder, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft neu formuliert, der Subsumtion eines Besonderen unter das gegebene Allgemeine, die von der bestimmenden Urteilskraft geleistet wird, führt Kant auch für das in umgekehrter Richtung vom Besonderen aufs Allgemeine zielende Urteil ein „Vermögen“ ein, das er reflektierende Urteilskraft nennt. Den Leitfaden, an dem sich die reflektierende Urteilskraft orientiert, ist der Gedanke der „Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit“ (Akad.-Ausg. V, 179f.).

 

In beiden Fällen ist kein „pathisches“ Moment zu erkennen. Doch blieb die bisher gegebene Beschreibung wesentlich unvollständig. Denn Erkenntnis, auf die es das Urteil abgesehen hat, ist für Kant nicht Resultat einer Denk- bzw. Urteilstätigkeit allein. Erkenntnis hat vielmehr zwei „Quellen“, die Quelle des begrifflich-urteilenden Denkens und die Quelle der raum-zeitlichen Anschauung der Dinge, in welcher Passivität oder, wie Kant sagt, Rezeptivität waltet. Aus dieser letzteren Quelle stammt das Material des Urteils: die raum-zeitlichen „Erscheinungen“, d.h. die in Raum und Zeit geordneten Widerfahrnisse („Empfindungen“), anders ausgedrückt: die „pathischen“ Erfahrungen, die in die empirische Erkenntnis eingehen. 

Auf diesem kantischen Hintergrund hat „pathische Urteilskraft“ den Anschein einer in sich widersprüchlichen Begriffsbildung: Urteilskraft und Urteil haben es wohl mit Widerfahrenem (Empfundenem, Erlittenem) zu tun, sind aber nicht selbst von pathischer Art. Wo und wie erfolgt der Brückenschlag zum „Pathischen“? Er drängt sich bei der Thematisierung menschlichen Leidens auf. Denn wo dessen Erkenntnis gesucht wird, kann diese Suche – außer bei einer bloß kausalen Analyse – nicht unberührt von ihrem Gegenstand bleiben, sondern wird zu einem „nachfühlenden Mit-Denken, das sich dem Leidenseindruck hingibt und sein Inneres auszuloten strebt“ (21). Das ist die Ausgangsthese von Wiedebachs Buch – eine These oder besser eine Haltung, mit der das Buch an Viktor von Weizsäckers „Pathosophie“ anknüpft. Bei der Entfaltung dieser These bzw. Haltung sind zu unterscheiden: einerseits das pathische Moment im theoretischen und praktischen Umgang mit menschlichem Leiden, andererseits das pathische Moment in der sprachlichen Darstellung dieses Umgangs. Bevor ich darauf eingehe, wie Wiedebach diese pathischen Momente in der 'Arbeit' pathischer Urteilskraft am Werk sieht und ins Werk setzt, will ich historische Sichtweisen des Verhältnisses von Denken und menschlichem Leiden einblenden. 

Durch Leiden lernen 

Eine Verknüpfung von Denken und Leiden zeigt das geflügelte griechische Wort „Durch Leiden lernen“ (pathei mathos). Es ist literarisch in der um 460 v. Chr. aufgeführten Tragödie „Agamemnon“ von Aischylos zu finden. Was besagt es? Nicht so sehr, dass Leiden eine Einsicht vermittelt, als vielmehr, dass Leiden beim Betroffenen ein Nachdenken über sich selbst in Gang setzt, dass Leiden ein Lernen gewissermaßen am eigenen Leibe ist. Die Belehrung des Leidens betrifft die Existenz des leidenden Menschen als solche. Für den Dichter bietet das Leiden die Chance, dass sich der wegen seines Frevels Leidende zu einem einsichtigen Menschen (sophron) wandelt, bekommt er doch in und mit dem Leiden Einsicht in die von ihm verletzte Ordnung und fügt sich so dieser Ordnung wieder ein. Das meint aber nicht, dass er nachträglich – gemäß dem Sprichwort „Durch Schaden wird man klug“ – eine Lehre aus dem Schicksalsschlag zieht. 

Von dieser Sinnbestimmung menschlichen Leidens sind theoretische Erklärungen zu unterscheiden, die nicht dem Leiden selbst entspringen und also nicht in ihm ‚gelernt‘ werden, etwa Zuweisungen der Urheberschaft insbesondere unbegreiflichen Leidens an den Gott oder die Götter. In solchen Erklärungen ist Denken über eigenes oder fremdes Leiden am Werk, ob es sich nun in mythisch-erzählender Form oder philosophisch-rational artikuliert. Sobald eine derartige theoria auftaucht, ist sie auch schon umstritten. Gegen sie erhebt bereits Platon seine Stimme, indem er im Staat (379) dafür argumentiert, dass Gott nur Ursache des Guten sein kann, nicht des Schlechten. Schlechtes zu erleiden, das dürfe nur heißen, bestraft und durch die Strafe gefördert zu werden. Letzteres kann allerdings Unterschiedliches meinen, je nachdem ob der Betroffene selbst sein Leiden so zu verstehen lernt oder ob es als eine allgemeine Erklärung für Leiden daherkommt. 

Dass Leiden als Strafe aufzufassen sei, das ist bei aller Kritik bis in unsere Tage ein vertrautes Erklärungsmuster. Es findet sich neben anderen Begründungen, mit denen Leiden verstehend zu bewältigen gesucht wird, auch in der Bibel – hier aber, insbesondere bei den Propheten, verbunden mit dem Bußruf zur Umkehr. Für das Neue Testament ist es der Gott vertrauende Glaube, mit dem allein Leiden bewältigt werden kann. Dieser Glaube beinhaltet keine Erklärung oder Rechtfertigung des Leidens. Die Evangelien berichten, wie leidende Menschen Jesus gläubig vertrauen und aufgrund ihres Glaubens geheilt werden. Dieser Glaube hat nicht den Charakter einer theoretischen Einstellung, er ist vielmehr Vertrauen (vgl. 27), mit dem das eigene oder fremdes Leiden Gott anheimgestellt werden. Diese Form der Bewältigung menschlichen Leidens erhält dadurch eine ganz neue Dimension, das für die Freunde Jesu an dessen Kreuz sichtbar wird: Gott selbst ist das Leiden nicht fremd. Sie ‚lernen‘ in der Teilhabe an Jesu Leiden, dass ihrem Leiden und menschlichen Leiden überhaupt der Stachel gezogen ist: Es widerspricht nicht mehr der göttlichen Güte, es bleibt nicht mehr letztlich unverständlich, es wird für Christen sogar Bestandteil ihrer Nachfolge. Wieder ist es ein Lernen ‚am eigenen Leibe‘. In eine Kurzformel gepresst: im Leiden glauben lernen, im Glauben leiden lernen. Dieses Lernen untersteht dem christlichen Paradox: „die Kraft erreicht ihre Vollendung in Schwachheit“ (2. Kor. 12,9). 

Radikal entgegengesetzt bietet Seneca, Zeitgenosse von Paulus, philosophisches Denken gegen das „schwer zu Tragende“ auf: „Tragt es tapfer. Das ist es, worin ihr dem Gott überlegen seid: er steht außerhalb des Erleidens von Unglück, ihr über dem Erleiden“ (De providentia VI-6). Der Gott selbst rät, Schmerz, Tod und Schicksal zu verachten. Und schließlich „steht der Weg aus dem Leben offen“, der Suizid. Seneca tritt dem Leiden mit philosophischen Argumenten entgegen, er zieht diese nicht aus der Erfahrung des Leidens. Er begegnet dem Leiden aber auch, formal verwandt mit Paulus, nicht mit bloßer Theorie, sondern mit ‚Lebenskunst‘, d. h. mit einem logosgemäßen Leben in der Haltung der Freiheit von allen pathe oder Gemütsbewegungen (apatheia). 

Die Versuche zur philosophisch-theoretischen Bewältigung des Leidens mündeten in die Theodizee der frühen Neuzeit, die dann mit Kants Kritik ihr Leben aushauchte. Am Ende seines Nachweises, dass „alle philosophischen Versuche in der Theodicee“ misslingen müssen, liefert er jedoch einen späten Beitrag zum Lernen durch Leiden, indem er von der erledigten doktrinalen Theodizee den Vorgang einer authentischen Theodizee abhebt. Eine solche Theodizee ist für ihn dadurch charakterisiert, dass nicht hermeneutische Vernunft, sondern Gott selbst – wenn auch durch unsere Vernunft – als „der Ausleger seines durch die Schöpfung verkündigten Willens“ in Anspruch genommen wird (Akad.-Ausg. VIII, 264). Hiob ist für Kant Zeuge dieser authentischen Rechtfertigung Gottes angesichts unverschuldeten Leidens. „Der Mensch wird gemahnt durch Schmerz auf seinem Lager“ (Hiob 33,19). 

Welche Einsicht empfängt Hiob durch das fast unerträgliche Leiden? Nur die, dass Gottes Wille und Wirken unerforschlich sind. Er überlässt damit das Verständnis göttlichen Wirkens allein Gott selbst – und bewahrt sich so seine Frömmigkeit. Er versteht Gott nicht, seine Vernunft ist bei der Suche nach Gründen für sein Leiden überfordert: „ich habe im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind“ (42,3) – das ist seine Einsicht, keine bloße Aporie, aber auch keine (negative) Theologie, sondern? In Kants Sicht ist Hiobs Bekenntnis, unverständig über den Ursprung und Grund seines Leidens geredet zu haben, Ausdruck seiner Moralität, genauer: seiner Aufrichtigkeit und Redlichkeit „in Bemerkung des Unvermögens unserer Vernunft“ (VIII, 267). 

Pathische Erfahrung 

Im pathischen Urteil geht es aber nun nicht bloß um ein Lernen durch Leiden, also die Immanenz des Denkens im Leiden, sondern um Immanenz des Leidens im Denken. Was macht ein solches Leiden im bestimmenden oder reflektierenden Denken aus? Bislang ging es in der Erinnerung an Modi philosophischer Bewältigung des Leidens vornehmlich um Übel und Unglück. Doch der Bedeutungshorizont des Wortes ist ein viel weiterer. Der deutsche Sprachgebrauch kennt Leiden als Erleiden von etwas (z. B. eines epileptischen Anfalls) und als Leiden an etwas (z. B. an den Folgen eines Unfalls); ersteres Leiden (Erleiden) hat häufig den Charakter eines Widerfahrnisses, letzteres Leiden erstreckt sich in der Zeit, wird bewusst wahrgenommen, veranlasst zu Nachdenken und kontrolliertem Umgang. Beide Weisen des Leidens gehören dem subjektiven Erleben zu, dem Erleben eines mir und dir Zustoßenden oder Zugestoßenen, und markieren keinen objektiven Tatbestand, wie wir ihn im Wort „Leid“ oder – präzisiert und zugleich eingeengt – im Wort „Schmerz“ ansprechen. Insgesamt fällt die semantische Nähe von „leiden“ und „erfahren“ auf, insbesondere von „erleiden“ und „erfahren“. Wiedebach hebt wohl den Widerfahrnischarakter von Leiden hervor, arbeitet aber diesen Befund konzeptuell nicht weiter aus, sondern spürt in erster Linie dem Umgang mit leidenden Menschen nach, dem praktischen Umgang und Theorien dieses Umgangs. Beim einen wie beim anderen sieht er Urteilskraft am Werk, die er als pathisch qualifiziert. Diese Qualifikation wird ihr nicht schon deshalb zugesprochen, weil ihre Rolle in der Beziehung zu leidenden Menschen untersucht wird, sondern weil sie und das ihr entspringende Urteil selbst am Leiden teilhaben und damit Züge pathischer Erfahrung tragen. Wie ist das zu verstehen? 

Gehen wir davon aus, welche Phänomene Wiedebach unter dem Titel der „pathischen Urteilskraft“ zur Sprache bringt. Deren Einsatz wird zunächst an Beispielen aus der Praxis, vornehmlich des ärztlichen Handelns, sichtbar gemacht. Das Loslassen der Hand eines eben verstorbenen Menschen (40ff.) ist ebenso exemplarisch für ein pathisches Urteil wie die Entscheidung über die Amputation eines Beines. Die hier gefragte „Urteilskraft“ ist nicht mit dem Talent identisch, das ein guter Richter oder Politiker besitzen sollte, d. h. nicht mit einer Naturgabe zu verwechseln, deren Mangel Dummheit heißt (Kant, KrV A 133f.). Sie lässt sich auch nicht im System der Erkenntnisvermögen einordnen. Die Fokussierung auf das Pathische bei den zu fällenden Urteilen macht vielmehr die Bedeutung sichtbar, welche dabei die Person in ihrer Betroffenheit hat. Die hier gemeinten Urteile haben darüber hinaus, dass ihr Subjekt eine betroffene (mitfühlende) Person ist, insofern pathische Züge, als sie einer zwischenmenschlichen Kommunikation entspringen (11). Es sind praktische Urteile, „praktisch“ im doppelten Sinne des Wortes: Urteile, die wir im alltäglichen Leben fällen, und 'ethische' Urteile. Gegenüber dem Leiden gehört beides zusammen: das Betroffensein vom Faktum und die Negation des Faktums: „Das Leiden soll nicht sein!“ (22). 

Das ganze Buch hindurch kämpft Wiedebach mit der Frage der angemessenen Situierung des pathischen Urteils „zwischen der Notwendigkeit, allgemeine Begriffe des Leidens in Geltung zu setzen, einerseits, und der Notwendigkeit, das Allgemeine abzustoßen, es geradezu als falsch zu entlarven und ganz ins Einzelne einzukehren, andererseits“ (24). Keine dieser zwei Seiten soll vernachlässigt werden; es kommt also darauf an, wie es gelingt, dieses Zwischen aufzuhellen. Die Aufgabe wird selten so ernst genommen wie in diesem Buch. Wo und wie wird das „Zwischen“ gelebt? Leichter lässt sich sagen, wo und wie es nicht gelebt wird: beispielsweise dort, wo sich der Arzt um eine therapietechnisch orientierte Erklärung bemüht oder der Philosoph eine existenziale Analyse vorlegt, „an allen teilhabend, sich keinem überlassend“ (21). Von Ansprüchen der Theorie her betrachtet ist das „Zwischen“ durch Unschärfe, Zeitabhängigkeit, Personverhaftetheit und Mangel an Allgemeingültigkeit gekennzeichnet, von der individuellen Erfahrung her gesehen durch Ungewissheit, Trotz, bisweilen durch vertrauenden Glauben, vor allem aber durch Entscheidungen. An genau diesen Betreffnissen im „unwirklichen Zwischen“ (29) haftet „das Pathische“. Und sofern überhaupt von einem pathischen Wissen die Rede sein kann, muss es hier lokalisiert werden. 

Pathisches Wissen 

Wenn Wiedebach die „Gesten und ihre subtilen Schwankungen“, die feinen Nuancen, in denen sich ein leidender Mensch ausdrückt, als Anlässe „pathischer Urteilsarbeit“ hervorhebt (20), mit der auf ein – am Leiden selbst erwachsendes – Begreifen abgezielt wird, stellt sich die Frage, wie überhaupt Denken im Leiden einsetzt, zugespitzt: wie Leiden „Verankerung des Lebens im Denken“ (23) sein kann. Jeder leidende Mensch macht sich Gedanken über Warum und Wozu seines Leidens. Denken hat mit der Eruierung von Gründen zu tun. Wie am Theodizeeproblem deutlich wurde, gelingt die Begründung bzw. Erklärung gerade im Falle physischen oder psychischen Leidens häufig nicht. 

Dass Wiedebach das Denken angesichts von Leiden bei der Bildung eines allgemeinen Begriffs des Leidens beginnen lässt, hat mit der Ausrichtung seines Buches auf das medizinisch-ärztliche Wissen zu tun. „Das Allgemeine stiftet Regel und Nüchternheit.“ (24) Allgemeine Regeln für den Umgang mit Leiden auch im ärztlichen Handeln ergeben sich schon aus Erfahrung und Übung. Wie Aristoteles mustergültig dargelegt hat, „steht die Erfahrung zum Zweck des Handelns der Kunst nicht nach; vielmehr sehen wir, dass die Erfahrenen mehr das Richtige treffen als diejenigen, die ohne Erfahrung nur den Begriff (logos) besitzen“. Das liegt daran, dass „Erfahrung Erkenntnis des Einzelnen ist“, auf die es ankommt – wie am Handeln des Arztes belegt wird. Die Kunst (techne) und erst recht die Wissenschaft (episteme) sind der Erfahrung aber darin überlegen, dass sie das Warum kennen (Metaphysik A 1. 981a), also Begründung bzw. Erklärung bieten. Wie jeder leidende Mensch sucht auch der Arzt nach Erklärung für ein Leiden. Da er heute dabei nach modernen Kriterien von Wissenschaftlichkeit verfahren muss, kann die Untersuchung der Struktur pathischen Wissens (37ff.) nicht bei der „Weisheit in Lebensentscheidungen“ (26) stehenbleiben, sondern muss pathischem Wissen in Gestalt „pathischer Wissenschaftlichkeit“ nachgehen. Wiedebach definiert letztere wie folgt: „Pathische Wissenschaftlichkeit ist eine Erkenntnisform, in der eine Person, die das Leben in der Reflexion zu erleiden vermag, zu allgemeinen Einsichten kommt. Ihr Denken ist seinerseits ein leidendes Geschehen“ (194).

Festzuhalten ist zunächst: Pathisch zu sein wird dem Wissen, auch dem wissenschaftlichen Wissen, auf seiner subjektiven, besser: personalen Seite zugeschrieben. Es geht – in Husserls Terminologie ausgedrückt – um die noetische, nicht die noematische Seite dieser „Erkenntnisform“. Zu ihr gehört insbesondere der „Verzicht auf Autarkie in Denken und Gebaren“, d. h. der Verzicht auf „Selbstherrschaft der Vernunft über sich“. Man könnte diesen Verzicht im Denken, genauer im Leiden des Denkens an sich selbst verorten. Ich skizziere in einem an Kant orientierten Exkurs, was ich darunter verstehe. 

Denkerfahrung als Leiden des Denkens an sich selbst 

Wer an sich selbst leidet, leidet an seiner Endlichkeit. Derartiges Leiden kann durch ein besonderes Erleben ausgelöst werden, kann aber auch ein Dauerzustand sein. Kants Besinnung auf die Grenzen menschlicher Vernunft wurde nicht zuletzt dadurch veranlasst, dass er sich selbst dabei ertappte, gegen alle Einsicht seinem eigenen spekulativen Interesse gewissermaßen besinnungslos nachgegeben und die Arcana Coelestia des „Geistersehers“ Emanuel Swedenborg studiert zu haben, „acht Quartbände voll Unsinn“, wie er danach beschämt feststellen musste. In mühsamer Kleinarbeit ging er diesem Befund auf den Grund und machte dabei aus, woran unser Denken, woran menschliche Vernunft leidet. Vernunft ist für ihn jenes Denkvermögen, mit dem wir es auf metaphysische Erkenntnis abgesehen haben. Woran leidet unsere Vernunft? Sie leidet daran, dass sie „durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“ (KrV A VII). Menschliche Vernunft ist bei der Beantwortung der Fraugen, die sich ihr aus ihrer Vernunftnatur heraus stellen, überfordert; unser Denken, das im Aufschwung zur Metaphysik den Boden der Erfahrung verlässt, leidet an sich selbst, leidet an Fehlschlüssen, schlechten Beweisen und vor allem an den Widersprüchen, in die jeder Versuch führt, das der Vernunft eingeschriebene metaphysische Bedürfnis zu befriedigen. Vernunftgeleitetes oder – wie wir auch sagen – spekulatives Denken leidet an den Widersprüchen, in die es führt, an einem dialektischen Blendwerk, das ihr „unhintertreiblich anhängt“ (A 298), an den „Auftritten des Zwiespalts und der Zerrüttungen“ (A 407). Ich spreche deshalb von einer pathischen Denkerfahrung bei Kant, weil dem geschilderten Leiden der menschlichen Vernunft ein zweifaches Widerfahrnis zugrundeliegt: das Widerfahrnis der Überwältigung durch das spekulative Interesse der menschlichen Vernunft und das Widerfahrnis, beim Versuch der Befriedigung dieses Interesses auf Abwege zu geraten. 

Wie geht Kant selbst mit dieser seiner Denkerfahrung um? Er trägt sie als Selbstkritik der Vernunft aus. In diesem selbstkritischen Prozess werden die Grenzen menschlicher Einsichtsfähigkeit in einer Logik der Wahrheit abgesteckt. Dass diese Grenzen aber immer wieder überschritten werden, lässt sich nicht verhindern. Dazu sind Antworten auf jene metaphysischen oder Sinnfragen zu wichtig, dazu ist der Fragedruck, der vom metaphysischen Sinnbedürfnis ausgeht, zu groß und unser Denken gegenüber der condition humaine zu willfährig. Obwohl unser Vernunftvermögen durch die Bestimmung seiner Grenzen desillusioniert sein sollte, jagt es weiter der Illusion nach, Erkenntnisse über Gott, Welt und Seele gewinnen zu können – einer, wie Kant unterstreicht, „natürlichen und unvermeidlichen Illusion“, die „der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt“. Der seinem Vernunftgebrauch gegenüber kritische Philosoph muss immer wieder gegen sie ankämpfen, prinzipiell vermeidbar ist sie nicht. 

Metaphysische Fragen stellen sich nicht nur in der akademischen Philosophie, sondern gerade auch für die „Weltweisheit“ unseres alltäglichen Lebens. Sie stellen sich hier – gewöhnlich in der Form von Sinnfragen – meist in den Grenzsituationen der Schuld, der Angst, der Verzweiflung, des schweren körperlichen oder seelischen Leidens, des Sterbens und des Todes. Und sie lassen Menschen (wie in der akademischen Philosophie die Vernunft) leiden, wenn sie keine befriedigende, das ‚gewöhnliche‘ Leiden mildernde Antwort finden. Wenn man sich im Blick auf das Leiden der Vernunft fragen kann, ob deren Widerfahrnisse es wirklich verdienen, als Leiden bezeichnet zu werden, so steht das für den Kampf mit der Sinnfrage in jenen Grenzsituationen außer Frage. Gibt es für das Leiden an der Brüchigkeit aller philosophischen Antworten auf meine ‚letzten‘ Fragen eine Therapie? Die Weltweisheit bietet dafür dies und jenes an. Etwa, philosophisch gesprochen, die Sinnfragen mitsamt ihren immer wieder hinterfragbaren Antworten prinzipiell als Ausdruck der Last des Menschseins hin- und anzunehmen, d.h. sich durch sie an die ontologische Verfassung menschlichen Daseins, „dass es ist und zu sein hat“, erinnern zu lassen und sich dabei, wie Sisyphos bei Camus, in „verschwiegener Freude“ seinem Schicksal überlegen zu wissen. 

Pathische Wissenschaftlichkeit 

Wiedebach schlägt einen anderen Weg ein. Er fokussiert auf den pathischen Wissenschaftler als Person, die sich in „leidendem Empfangen [...] dem in fortwährenden Entscheidungen spielenden Leben“ öffnet. Dann stellt sich die Frage, ob das Empfangen als solches (Rezeptivität) das pathische Moment im Prozess des Erkennens ausmacht oder ein spezifisch „leidendes“ Empfangen gemeint ist, wie es sich gegenüber dem leidenden Menschen aufdrängt, aber nicht generell gegenüber dem „Leben“. Dass diese Frage unbeantwortet bleibt, die Unterscheidung also angesichts des Umstandes, dass Leiden zum Leben gehört, verschwimmt, zeugt von einem sehr weiten Begriff pathischen Urteilens und Handelns. 

Wie ist nun diese pathische Haltung mit den üblichen Anforderungen zu verbinden, denen ein Wissenschaftler genügen muss? In Teil I des Buches, wo Wiedebach zuerst auf das Problem zu sprechen kommt, konstatiert er, dass nicht nur für pathische Wissenschaftlichkeit eine reife „Naivität“ konstitutiv ist. Eine „andere Form“ wissenschaftlicher Naivität waltet in der Forderung nach „Vollständigkeit in der Erfassung und Kontrolle“ der Wissensquellen. Mit dieser Art von Naivität werden Reichweite und Stil wissenschaftlichen Erkennens festgelegt (32). Zu ihr gehört es, dass für den Wissenschaftler als solchen der fundamentale „Daseinszweifel“ ausgeschlossen und so jedwede Differenz im „Sein“ der wissenschaftlichen Objekte ausgeblendet wird. Nun kann und will Wiedebach beide Haltungen nicht gegeneinander ausspielen, sondern muss sie so verbinden, dass innerhalb pathischer Wissenschaftlichkeit auch der durch die scientific community anerkannten wissenschaftlichen Haltung Raum gegeben wird, und zwar mindestens dort, „wo es um quantifizierbare Ergebnisse und vor allem um logistische Organisation geht“ (33). Das scheint in allem praktischen Umgang „mit dem Leben“, insbesondere aber mit dem Leiden vernünftig, und ebenso im medizinisch-ärztlichen Handeln und Denken, worauf Wiedebach abhebt. Doch bleibt diese Lösung unbefriedigend, weil offen ist, ob man überhaupt zur selben Zeit „eine pathische Urteilskraft kultivieren“ und „Wissenschaft treiben kann“ (193), ob sich also das eine mit dem anderen in derselben Person verträgt. Das Problem stellt sich verschärft angesichts der heute stark zunehmenden Tendenz zur Verwissenschaftlichung nicht nur der Medizin und der damit verbundenen, nicht zuletzt ökonomisch bedingten Einschränkung der Freiheit im Sichöffnen gegenüber dem „Leben“. Unklar bleibt auch, wie es um das „Wechselspiel“ zwischen den beiden Formen von Wissenschaftlichkeit steht. 

Erwünschte Auskunft gibt es gegen Ende des Buches (191ff.). Wiedebach bezeichnet hier die pathische Haltung unter dem Einfluss seiner Weizsäcker-Lektüre als ein Gehorchen. Statt mir Autarkie einzureden, unterziehe ich mich in pathischer Haltung einem „Befehl“, d. h. einer „Entscheidung, die erlitten wird“ (195). Anders und weniger militärsprachlich – meiner Ansicht nach auch phänomennäher – formuliert: Ich folge einer Stimme, die eine Anweisung ('das Gebot der Stunde') ausspricht; ich lasse mir sie entgegenkommen. Das Hören wie das Lassen implizieren eine Wahl bzw. eine „Entscheidung“. Mit diesem letzteren Ausdruck will Wiedebach darauf hinweisen, dass sich das Lassen nicht von selbst ergibt, dass es weder aus Regeln ableitbar noch im Lebensvollzug selbstverständlich ist. Aber die Charakterisierung der pathischen Haltung als „Befehlsempfang“ und „Gehorsam“ hat ihre Tücken. Denn neben den militärischen Assoziationen, die solche Worte nolens volens bei sich führen, kommen sofort sachliche Bedenken auf. Sie beziehen sich erstens darauf, dass der die pathische „Zwischen“-Haltung definierende „Gehorsam“ sowohl gegenüber dem „unvordenklichen 'ich bin schon da'“, also der Faktizität menschlichen Daseins, als auch gegenüber der „Gesetzlichkeit der allgemeinen Naturwissenschaft“ gefordert wird (195-196). Beide Faktoren pathischer Wissenschaftlichkeit haben nicht den gleichen anthropologischen Rang, der erste ist existenzialontologischer Art, der zweite historisch bedingt; der Wissenschaftler wird also ganz unterschiedlich gefordert. Und zweitens kann die Anerkennung naturwissenschaftlicher Gesetze kaum als ein Gehorchen ausgegeben werden, auch wenn man nur – und sei es metaphorisch – von der persönlichen Akzeptanz des Wissenschaftlers spricht. 

Das „Wechselspiel“ zwischen Allgemeinem und Einzelnem, zwischen Begriff und Gestus, zwischen Neutralität und Engagement, in dem sich der pathische Wissenschaftler bewegt, lässt sich jenseits der Benennung solcher Polbegriffe schwerlich auf einen Begriff bringen. Wiedebach widersteht konsequent der naheliegenden Versuchung, das pathische Urteil in einem philosophischen System zu verankern oder die pathische Haltung sei es aus einer Wesensbestimmung des Menschen sei es aus einem Begriff guten Lebens herzuleiten. „Die pathisch geleitete Vernunft beherrscht oder kontrolliert die Setzung ihrer eigenen Faktizität nicht.“ (194) Das anzuerkennen ist schon Ausdruck pathischer Haltung, wird aber auch durch einen unverstellten Blick auf das Faktum unterstützt, dass jeder Arzt, ja jeder Mensch im Leben bei aller Verfügungsmacht immer wieder von lebenspraktisch Unverfügbarem eingeholt wird. 

Ein Weg zum Frieden 

So wie ich die philosophischen Gedankengänge des Buches 'analytisch' wiedergegeben habe, verfährt Wiedebach nicht. Er versucht vielmehr, nicht nur das pathische Urteil in seinen Vollzügen sprechen zu lassen, sondern ebensosehr die Reflexion darauf in einer pathischen Stimmlage zu Gehör zu bringen. Das heißt: Bei der Beschreibung der vielfältigen Facetten des „Wechselspiels“ der pathischen Urteilskraft in concreto prägt eine „pathische Haltung“ denkerischer Zurückhaltung, ja Demut die sprachliche Darstellung („Exposition“, 236) auch der – den denkenden Vollzug des „Zwischen“ begleitenden – Reflexion. 

Lebenspraktisch bedeutsam scheint mir, dass die pathische Haltung wiederholt als ein Weg zum Frieden beurteilt wird, zum Frieden „mit dem Leben“ (237) und damit auch im Leben. Sehr schön kennzeichnet Wiedebach „pathische Wissenschaftlichkeit“ als ein Werben, ein „Werben um die Übersetzbarkeit der eigenen Befangenheit in die Unbefangenheit des für alle Geltenden“ (236). Er bringt damit zum Ausdruck, wie pathische Urteilskraft „Grundlage der Humanität“ (37) sein könnte: als Kraft, ein Leben zwischen Fundamentalismus und Beliebigkeit zu bestehen. 

UNSER AUTOR:

Helmut Holzhey ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Zürich. 

Hartwig Wiedebach ist Privatdozent für Philosophie; er lehrt an der ETH Zürich.