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ESSAY

Figal, Günter: Gibt es wirklich etwas draußen? – Skizze einer realistischen Phänomenologie

aus: Heft 1/2016, S. 8-17
 
Die Phänomenologie – eine Kontrastfolie zum Realismus?
 
Die Phänomenologie ist nicht gerade berühmt oder berüchtigt dafür, ein Beitrag zum philosophischen Realismus zu sein. Eher konnte und kann sie als Kontrastfolie dienen, wenn der philosophische Realismus Konturen gewinnen soll. In diesem Sinne hat sich Quentin Meillassoux gegen die Phänomenologie gewandt und die phänomenologische Überzeugung, dass Entitäten in Korrelation mit ihrer Erfahrung verstanden werden müssen, als subjektivistisch zurückgewiesen, mit dem Argument, das Objektive werde derart allein in seinem subjektiven Erscheinen bedacht. Werden Entitäten und Sachverhalte so verstanden, sind seien sie gefärbt durch die Weise, in der man sich auf sie wahrnehmend oder begrifflich und möglicherweise sprachlich bezieht. Das beeinträchtige, wie Meillassoux denkt, ihren Realitätswert. Als subjektive Realität sei die Realität eingeschlossen und versteckt in subjektiven Repräsentationen gleich welcher Art, und so keine wirkliche Realität – nichts wirklich Äußerliches jenseits der Repräsentationen.
 
Es ist nicht schwierig, Meillassouxs Verdacht zu bekräftigen. Der Begründer der modernen Phänomenologie selbst, Husserl, bestimmt die Korrelation zwischen der Bezugnahme auf etwas und dem, worauf man Bezug nimmt, als subjektiv. Das geschieht an einer der wenigen Stellen seiner Schriften, an denen er die Phänomene als solche bestimmt, und es ist, wenn man Jean-Luc Marion folgt, eine kanonische Bestimmung. Wie Husserl sagt, sei „das Wort Phänomen doppelsinnig vermöge der wesentlichen Korrelation zwischen Erscheinen und Erscheinendem“. Doch auch wenn das griechische Wort φαινόμενον eigentlich das Erscheinende bedeutet, werde das Wort „vorzugsweise gebraucht für das Erscheinen selbst“, für „das subjektive Phänomen“, wenn, wie Husserl hinzufügt, „dieser grob psychologisch mißzuverstehende Ausdruck gestattet“ sei. (1)
 
Diese Bestimmung, sie findet sich in einer Vorlesung aus dem Jahr 1907, ist wirklich kanonisch. Sie nimmt das Verständnis der Phänomene vorweg, das Husserl in Ideen I entwickelt, indem er die Phänomene dem „immanenten Sein“ des reinen Bewusstseins zuordnet, das, wie Husserl, Descartes zitierend, sagt, nichts anderes braucht, um zu existieren. (2) Damit bestimmt Husserl die Phänomene allerdings nicht als mentale Präsentationen ohne jede Realität. Phänomene sind für ihn keine empirisch feststellbaren mentalen Ereignisse; das anzunehmen wäre das grobe psychologische Missverständnis, gegen das Husserl sich wendet. Phänomene, wie Husserl sie versteht, sind vielmehr das ‚immanente’ Erscheinen von etwas Realem, zumindest dann, wenn sie keine bloßen Vorstellungen oder Träume sind. Als Erscheinen von etwas Realem wiederum sind die Phänomene in ihrer Immanenz ‚transzendent’. Wie Husserl in den Cartesianischen Meditationen betont, sei die „Transzendenz in jeder Form [...] ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender Seinscharakter“. (3)
Demnach ist die Realität des Transzendenten für Husserl in der Tat eine subjektive Realität im Sinne von Meillassoux’ Kritik.
 
Trotzdem sollte man Meillassoux’ Einwänden gegen die Phänomenologie nicht allzu bereitwillig folgen; Husserls Überlegungen, wie sie skizziert wurden, sind zumindest in einer Hinsicht einleuchtend: Realität, die als Transzendenz verstanden wird, ist allein von Bedeutung, sofern sie erfahren wird, und diese Erfahrung mag durchaus mit Husserl als eine die Realität ‚konstituierende’ verstanden werden. Um zu wissen, was Realität ist, muss sie in ihrer Bedeutung für die Erfahrung und in der Erfahrung präsent sein. Aber, und was dies angeht, trifft Meillassoux das Wesentliche, es ist problematisch die Transzendenz auf ihre subjektive Bedeutung und so auf etwas Immanentes zu reduzieren. Immanente Transzendenz ist überhaupt keine Transzendenz, und so ist es auch im Hinblick auf die Realität, wenn die Realität transzendent ist. Wahrhafte Realität geht in der Subjektivität ihrer Erfahrung nicht auf.
 
Gibt man Meillassoux in dieser Weise Recht, so muss man freilich nicht auch die Konsequenzen übernehmen, die er aus seiner Kritik des phänomenologischen Realitätsverständnisses zieht. Auch wenn man mit ihm den Gedanken einer immanenten Transzendenz, also einer allein subjektiven Realität für problematisch hält, kann man bezweifeln, dass der Gedanke eines „Großen Außen“ (Grand Dehors), einer realen Realität, wie Meillassoux ihn einführt, sinnvoll ist. Wie soll man etwas extern Reales ohne jedes ‚subjektive’ Korrelat verstehen? Was soll eine Realität ohne „subjektives Erscheinen“ im Sinne Husserls sein? Meillassoux’s Beispiele, zum Beispiel der Anfang des Universums oder die Entstehung der Erde,6 entziehen sich in der Tat der Erfahrung und so auch der „wesentlichen Korrelation zwischen Erscheinen und Erscheinendem“. Aber genau darum können sie nur in ihren Repräsentationen gegenwärtig sein. So sind sie umso mehr durch die Möglichkeiten der Bezugnahme gefärbt als wahrgenommene Realitäten. Da man zum Beispiel über den Anfang des Universums nur ohne einen Rückhalt in der unmittelbaren Erfahrung sprechen kann, ist der Anfang des Universums allein indirekt gegenwärtig und dabei meist in den verschiedenen Weisen, über ihn zu sprechen – in der theoretischen Physik oder im Mythos.
 
Die Äußerlichkeit der Realität
 
Wenn es sich so verhält, erweist sich ein phänomenologisches Verständnis der Realität aufs Neue als attraktiv; wie es scheint, ist die Realität als solche philosophisch am besten zu verstehen, indem man die Korrelation zwischen Erscheinen und Erscheinendem bedenkt, zwischen der Bezugnahme und dem, worauf man Bezug nimmt. Doch um der Realität als solcher gerecht zu werden, wird man nicht einfach Husserls Verständnis dieser Korrelation, wie es in der ‚kanonischen’ Bestimmung der Phänomene zur Sprache kommt, folgen können. Im Gegenteil, die Realität als solche darf nicht als immanente Realität verstanden werden. Vielmehr gilt es, ihre Äußerlichkeit zu bedenken.
 
Husserl selbst hat einige Schritte in diese Richtung getan, so wenn er in Ideen I sagt, die Welt als Wirklichkeit sei „immer da“. (4) Das heißt doch wohl, auch dann, wenn sie in der Immanenz des reinen Bewusstseins betrachtet wird. Die Realität wird in der phänomenologischen Betrachtung nicht negiert, noch nicht einmal bezweifelt, sondern nur ‚eingeklammert’; sie gilt nicht länger als vertraut und selbstverständlich und so auch nicht länger als Gegenstand praktischer oder wissenschaftlicher Interessen. Diese Einklammerung der Realität, die Husserl auch ἐποχή nennt, ist noch nicht einmal eine Reduktion der transzendenten Realität auf das subjektive und damit immanente Erscheinen. Schon in seiner Vorlesung von 1907 und im Gegenzug zu seiner ‚kanonischen’ Bestimmung der Phänomene macht Husserl die für ihn selbst erstaunliche und rätselhafte Entdeckung, dass Bewusstseinsakte „allerlei Transzendenzen“ bergen. (5) Das müssen Transzendenzen sein, die nicht als ‚immanente’ domestiziert sind, denn wie könnten sie sonst erstaunlich und rätselhaft sein?
 
Als ein Beispiel für solche Transzendenzen beschreibt Husserl die Verschiedenheit eines Tons von seiner Erfahrung im Hören. (6) Die Hörerfahrung, so zeigt sich dabei, ist vom gehörten Ton zunächst darin verschieden, dass in ihr nur ein Teil des Tons gegenwärtig ist, nämlich der Teil, der aktual gehört wird, während der Ton als solcher identisch mit der gesamten Dauer des Tönens ist. Die Hörerfahrung und der gehörte Ton sind außerdem verschieden, weil in der Hörerfahrung gegenwärtig bleibt, was real nicht mehr gegenwärtig ist, nämlich der Ton, sofern er bereits vergangen ist; gegenwärtig sind, in Husserls Terminologie gesagt, auch die Retentionen des Tons. Wie man hinzufügen kann, ist die Hörerfahrung, anders als der Ton selbst, außerdem durch die Aufmerksamkeit der Person bestimmt, die diese Erfahrung macht, ebenso durch ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten, ihre Assoziationen und ihre Möglichkeiten, das Gehörte zu verstehen. Und schließlich ist die Erfahrung, das subjektive Erscheinen von etwas wie einem Ton nur deshalb möglich, weil der reale Ton in seiner Erfahrung nicht aufgeht. Was erfahren wird, ist ja der Ton in seiner Realität; anders wäre das Erlebte keine Erfahrung, sondern eine bloße Vorstellung, eine Phantasie oder eine Halluzination. Die Erfahrung lebt aus der Differenz von Erscheinung und Erscheinendem; in dieser hat die Erscheinung ihre Wirklichkeit, in ihr hat das Erscheinende seine Realität.
 
Husserl hat der Differenz von Erscheinen und Erscheinendem nicht nur beiläufig Aufmerksamkeit geschenkt. Vielmehr hat er sie in Ideen I sorgsam ausgearbeitet und terminologisch als die Differenz von ‚Noesis’ und ‚Noema’ fixiert. Trotzdem bleibt er bei seiner Überzeugung, wie er sie in der Vorlesung von 1907 artikuliert hatte, dass diese Differenz in den Bereich wahrhafter Gegebenheit, das heißt: in die wahrhafte Immanenz des reinen Bewusstseins gehöre. (7)
 
Der Grund dafür, dass Husserl so denkt, ist freilich kein Cartesianischer Dogmatismus. Der Grund erschließt sich vielmehr über die ‚kanonische’ Bestimmung der Phänomene, genauer über Husserls Überzeugung, dass nur diese Bestimmung als Fundament der Phänomenologie geeignet sei. Phänomene müssen, wenn man Husserl folgt, subjektiv sein, weil sie nur so in ihrer Verschiedenheit von der Realität verstanden werden können, wie sie in der „natürlichen“, nicht-phänomenologischen Einstellung erfahren wird. Allein im subjektiven Erscheinen kann etwas anders als im alltäglichen Bezugnehmen erfahren werden, das als solches durch das Interesse an den Dingen und ihrer Realität bestimmt ist – dadurch, dass die Dinge da sind und erkannt, gebraucht, verändert oder hergestellt werden können. Während man in der „natürlichen Einstellung“ begreifend, erfassend und zugreifend auf die Dinge zugeht, sind die Dinge im subjektiven Erscheinen nur indirekt, eben als im Erscheinen erscheinende gegenwärtig. Das subjektive Erscheinen, und das ist der entscheidende Punkt, ist außerdem reflektierbar; es kann, wie Husserl diese Reflektierbarkeit versteht, zum Korrelat eines Bewusstseinsaktes gemacht werden.
 
In der Reflexion hat das Bewusstsein demnach nicht direkt mit den Dingen, sondern mit sich selbst zu tun; es kann, statt an den Dingen interessiert zu sein, das Erscheinen der Dinge in der Beschreibung von Bewusstseinsakten, die sich auf Dinge beziehen, beschreiben und aufklären. Diese beschreibende Aufklärung ist, wenn man Husserl folgt, Phänomenologie.
 
Husserls Abgrenzung der Phänomenologie von der natürlichen Einstellung sollte einleuchtend sein. Nur wenn die Phänomenologie von praktischer oder wissenschaftlicher Erfahrung grundsätzlich verschieden ist, kann sie einen besonderen Klärungsanspruch im Hinblick auf die Welt und ihre Erfahrung erheben. Außerdem spricht viel für die Annahme, dass dieser Klärungsanspruch wesentlich reflexiv ist. Sogar in nichtphilosophischen und also auch nichtphänomenologischen Zusammenhängen versteht man den eigentümlichen Stellenwert der Erfahrung und des Erfahrenen in Reflexion; reflektierend erfährt man nicht einfach etwas, sondern versucht zu klären, wie etwas Erfahrung zulässt und wie seine Erfahrung sein kann.
 
Phänomenologie als raumhafte Reflexion
 
Aber das heißt nicht, man wende sich in der Reflexion von der Realität ab und blicke nur noch auf das subjektive oder immanente Erscheinen. Reflexion, genauer bedacht, ist keine Meta-Erkenntnis, sondern vielmehr ein Wechsel in der Erkenntnis selbst. Indem man beispielsweise den Versuch, etwas zustande zu bringen, reflektiert, verwandelt man diesen Versuch nicht zu einem Meta-Korrelat der Erkenntnis, sondern bedenkt und prüft ihn als eine Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten. Man bedenkt zum Beispiel, wie das, was man tun will, auch anders getan werden könnte.
 
In der Reflexion, die derart verstanden wird, besinnt man sich auf das Mögliche. Sie ist Besinnung auf das, was getan werden kann und was sein kann, wobei auch das, was getan wird und was faktisch ist, in den Kontext von Möglichkeiten gerückt und so als Möglichkeit gesehen wird.
 
Das skizzierte Verständnis der Reflexion lässt sich nun phänomenologisch interpretieren, so dass man den reflexiven Charakter der Phänomenologie anders als Husserl verstehen kann. Im Anschluss an Husserls ‚kanonische’ Bestimmung der Phänomene kann man die phänomenologische Betrachtung als Reflexion der Korrelation zwischen Erscheinen und Erscheinendem fassen. Indem beide reflektiert werden, kommen dann beide in ihrer wechselseitig aufeinander bezogenen Möglichkeit in den Blick. Doch anders als bei Husserl wäre die Korrelation nicht mehr auf das subjektive oder immanente Erscheinen reduziert. Vielmehr kann sie als wesentlich transzendent verstanden werden und so erst als wahrhafte Korrelation, in der das subjektive Erscheinen ebenso wesentlich ist wie das, was real erscheint. Die eigentümliche Aufgabe der Phänomenologie ist es demnach, diese wahrhafte und wahrhaft phänomenologische Korrelation in ihrer wesentlichen Transzendenz zu reflektieren. Zusammen mit der transzendenten Realität des Erscheinenden ist die wahrhafte Realität, die reale und nicht nur immanente Realität, ein originär phänomenologisches Thema. Dabei ist die reale Realität allerdings nicht einfach nur so Realität, wie sie es für interessegeleitete Bezugnahmen in ‚natürlicher Einstellung’ ist. Vielmehr wird sie als Realität in der Möglichkeit ihrer Transzendenz gesehen, indem sie phänomenologisch reflektiert wird.
 
Wie diese phänomenologische Reflexion der Transzendenz zu vollziehen ist, ergibt sich aus dem Begriff der Transzendenz selbst. Transzendenz im Sinne Husserls ist gleichbedeutend mit Äußerlichkeit, und Äußerlichkeit ist ein räumlicher Begriff. Demnach ist die Phänomenologie wesentlich Reflexion des Raumes – derart, dass Raum und Räumlichkeit nicht ein beliebiges phänomenologisches Thema unter anderen ist, sondern das, was die Phänomenologie selbst ermöglicht. Sofern die Korrelation zwischen Erscheinen und Erscheinendem, zwischen Noesis und Noema als solche raumhaft ist, ist Raum die Ermöglichung phänomenologischer Reflexion.
 
Phänomenologie ist raumhafte Reflexion und als solche kann sie überhaupt nur Reflexion des Raumes sein. Was das heißt, lässt sich zunächst an Husserls Beispiel für die Differenz von Noesis und Noema illustrieren, also an der Verschiedenheit von akustischer Erfahrung und Ton. Töne können nur dann wirklich gehört werden, wenn sie das Ohr affizieren; ohne solche Affektion können sie nicht gehört, sondern nur vorgestellt werden. Eine solche Vorstellung ist jedoch abhängig von Erfahrung. Wie sollte man sich etwas als wirklichen Ton vorstellen können, ohne je wirkliche Töne gehört zu haben? Um erfahren zu werden, müssen Töne irgendwo sein; sie müssen von irgendwo her kommen, und dabei sind sie äußerlich gegenüber dem affizierten Sinn. Auch müssen sie als Töne durch räumliche Bedingungen des Tönens ermöglicht werden. Diese Bedingungen werden miterfahren, indem man Töne erfährt; mit jedem Ton erfährt man auch den Raum, in dem er tönt. Es ist der Freiraum seines Tönens.
 
Im Anschluss an Husserls Beschreibung würde man Töne allerdings nicht primär als räumlich, sondern als zeitlich verstehen. Töne haben eine bestimmte Dauer, und sie haben Phasen, die man voneinander unterscheiden kann. Sie sind, mit einem Wort, sukzessiv, und in ihrer Sukzessivität kommen sie an und gehen sie vorbei, so dass immer nur eine ihrer Phasen wirklich gehört werden kann. Die Phasen, die man nicht wirklich hört, muss man im Gedächtnis bewahren und in der Erwartung antizipieren.
 
Natürlich ist der zeitliche Charakter von Tönen und akustischen Erfahrungen, wie er gerade skizziert wurde, nicht ernsthaft zu bestreiten. Aber dieser zeitliche Charakter kann als solcher ohne den Raum nicht verstanden werden. Raum und Zeit sind keine verschiedenen, wesentlich voneinander unabhängigen und in ihrer Unabhängigkeit einander ergänzenden Formen oder Bedingungen von Tönen und ihrer Erfahrung. Raum und Zeit und ebenso der räumliche und zeitliche Charakter von Tönen und ihrer Erfahrung sind nicht gleichberechtigt. Damit ein Ton eine bestimmte, unter Umständen messbare Zeit dauern kann, muss er vor allem irgendwo sein, und ein Freiraum muss ein Tönen gewähren.
 
Es sollte noch einmal betont werden, dass dieses Tönen nicht subjektiv ist. Es ist real. Andere Hörer können oder könnten es ebenso erfahren, auch wenn man selbst es nicht erführe, so dass es unabhängig vom eigenen hörenden Erfahren ist. Dasselbe gilt für die Unterscheidung verschiedener Phasen in der zeitlichen Sukzession eines Tons. Diese ist eine reale Sukzession, doch ihre Realität ist nicht zeitlich, sondern räumlich. Die Unterscheidung verschiedener Phasen eines Tons ist nur möglich, weil diese Phasen einander äußerlich sind. Diese Äußerlichkeit ist nicht wesentlich anders als die von Trittsteinen in einem japanischen Garten. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass die Trittsteine einfach da sind und gleichsam darauf warten, dass man sie nacheinander betritt, während die Phasen eines Tons nur im realen Tönen da sind. Doch hätte ein Ton nur zwei Phasen, zum Beispiel eine höhere und eine niedrigere, die als solche gleich blieben und einander abwechselten, so träte die Sukzession alsbald zurück, und die Äußerlichkeit, also die Räumlichkeit der Tonphasen wäre vorherrschend. So näherten sich die Tonphasen dem einfachen, wartenden Dasein der Steine an. Sie erfüllten räumlich einen Klangraum.
 
Was für Töne gilt, lässt sich auch und vielleicht noch anschaulicher an sichtbaren und berührbaren Dingen und an Gebäuden zeigen. Der räumliche Charakter von Dingen und Gebäuden ist evident, ebenso wie der räumliche Charakter ihrer Erfahrung. An Dingen und Gebäuden wird außerdem deutlich, dass die Korrelation zwischen Erscheinen und Erscheinendem Raumcharakter hat; die Differenz von Noesis und Noema ist eine Differenz des Raumes und im Raum. Das mag sich an einem Gebäude am besten illustrieren lassen. Um ein Gebäude zu erkunden, muss man es von weiter entfernt und aus der Nähe betrachten, von verschiedenen Seiten, von außen und innen. Je nach der Perspektive der Erfahrung erscheint ein Gebäude anders. Doch alle diese verschiedenen Möglichkeiten des Erscheinens sind solche des Gebäudes. Das Gebäude hat sie wirklich; sie können noematisch als solche des Gebäudes bestimmt werden. Das Gebäude bietet diese Möglichkeit, und zwar denen, die es erfahren können oder wirklich erfahren, und wenn jemand einige dieser Möglichkeiten wahrnimmt, so erscheint das Gebäude in ihrer oder seiner Erfahrung.
 
Diese Erfahrung könnte auch anders sein, als sie ist, und sie wird niemals alle Möglichkeiten der Erscheinung im subjektiven Erscheinen wahrnehmen können. Das Gebäude wird außerdem immer durch die Erfahrungsmög-lichkeiten, Fähigkeiten und Präferenzen der erfahrenden Person eingefärbt sein. Aber das Gebäude selbst ist so nicht eingefärbt. Andere Personen mit anderen noetischen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Präferenzen werden es anders erfahren. Aber sie würden nicht sagen, dass das von ihnen Erfahrene ein anderes Gebäude sei. Es ist dasselbe, von vielen erfahrbare Gebäude.
 
Die Raumhaftigkeit der Phänomenalität
 
Im Anschluss an diese Überlegung lässt sich auch sagen, wie die Korrelate noematisch bestimmter Erfahrung in ihrer transzendenten Realität zu verstehen sind. Diese Realität ist keine Tatsache; sie kann nicht einfachhin in Aussagesätzen festgestellt werden. Vielmehr ist die transzendente Realität ein Ensemble von Möglichkeiten, von denen einige in der jeweiligen Erfahrung aktualisiert werden, während andere, oft unzählbar viele, latent bleiben – wie zum Beispiel die Seiten eines Gebäudes, die man nicht gesehen hat. Dennoch sind sie als Möglichkeiten real. Sie sind wirklich Möglichkeiten zum Beispiel eines Gebäudes, das sich als solches nicht auf seine Erfahrungen reduzieren lässt – so wie die Regeln eines Spiels nicht auf die Aktivitäten und Erfahrungen der Spieler reduziert werden können. Allein in zweiter Linie sind sie Möglichkeiten subjektiven Erscheinens, und zwar, weil das subjektive Erscheinen abhängig von ihnen ist – wie die Spielzüge von Spielern von den Regeln des Spiels. Allein weil zum Beispiel ein Gebäude auf bestimmte Weise zugänglich ist, kann es in dieser Zugänglichkeit erfahren werden. Oder, um es phänomenologisch zu sagen: Etwas wie ein Gebäude kann nur in bestimmter Weise subjektiv erscheinen, weil es sich selbst zeigt und in diesem Sichzeigen das subjektive Erscheinen bestimmt. Die realen Möglichkeiten eines Gebäudes, sich zu zeigen, tragen und leiten seine Erfahrung; sie sind die subjektive Erfahrung ermöglichende Möglichkeiten. Aber das subjektive Erfahren ist von seinem Korrelat, dem Sichzeigenden oder Erscheinenden, nicht in jeder Hinsicht bestimmt. Ebenso hat es seine eigenen Bestimmtheiten. So kann es durch Kurzsichtigkeit eingeschränkt sein; es mag hinter der architektonischen Subtilität eines Gebäudes zurückbleiben, und es mag durch Voraussetzungen und Vorurteile eingefärbt sein. Doch insofern das subjektive Erscheinen die Erfahrung von etwas ist, ist es sein Korrelat, was diese Erfahrung ermöglicht.
 
Diese Ermöglichung sollte genauer betrachtet werden. Wie genau ist die Erfahrung durch ihr Korrelat bestimmt? Wie gehören die beiden Relata der phänomenalen Korrelation, Noesis und Noema, zusammen? Um diese Fragen zu beantworten, mag das Beispiel eines Gebäudes erneut hilfreich sein. Die Erfahrung eines Gebäudes ist nämlich als solche die Erfahrung einer räumlichen Struktur, und es ist diese Struktur, was die Erfahrung in einer Hinsicht möglich macht und objektiv bestimmt. Große lichte Räume mit hohen Decken und großen Fenstern können nicht als eng und dunkel erfahren werden; ein Gebäude mit vielen Räumen und langen Fluren und Treppenhäusern braucht einen anderen Erfahrungsaufwand als eine Hütte mit nur einem Raum; es ist schwieriger, sich in einem labyrinthartigen Gebäude
zurechtzufinden als in einem, dessen Struktur auf den ersten Blick gegenwärtig ist.
 
Was bei jedem dieser Beispiele erfahren wird, ist ein Gebäude in seiner Räumlichkeit oder, was dasselbe ist, der Raum des Gebäudes. Gebäude sind gebauter Raum, und das heißt auch: Raum, der mit dem Gebäude in seiner Materialität, seiner Offenheit oder Geschlossenheit erfahren werden kann. Die Erfahrung von Raum ist als solche räumlich. Indem man einen Raum erfährt, unterliegt man dessen räumlichen Bedingungen, und das wiederum ist nur möglich, weil man selbst als leibhaftes Lebewesen in vielfacher Hinsicht räumlich bestimmt ist. Indem man aufrecht steht und imstande ist, den Kopf zu drehen, die Arme auszustrecken und zu gehen oder zu laufen, um sich zu schauen, nach unten oder nach oben, ist man für objektive räumliche Bestimmungen auf verschiedene Weise disponiert. Diese Bestimmungen sind im Allgemeinen nicht starr, als ob man in jeder Bewegung gelenkt wäre, sondern gestatten ein Ensemble verschiedener Aktivitäten und Passivitäten. Es sind Bestimmungen des freien Raums, die einen Freiraum geben; so geben sie räumliche Freiheit, auch dazu, Erfahrungen zu machen.
 
Wie ist der Raum als solcher zu begreifen?
 
Es ist also der Raum, zum Beispiel der Raum eines Gebäudes, worauf die Ermöglichung des Erfahrens durch Gebäude und also dessen Realität zurückgeführt werden kann. Weil Dinge und Lebewesen ebenso räumlich sind, gestatten auch sie ihre räumliche Erfahrung. An Gebäuden wird freilich der ermöglichende Charakter des Raums besonders deutlich – deutlicher vielleicht als an Dingen und Lebewesen. Obwohl man Gebäude wie Dinge, außergewöhnlich große Dinge, betrachten kann, zeigen sie sich normalerweise nicht wie Dinge. Nicht ihr Objektcharakter lässt sie Gebäude sein, sondern dies, dass sie betreten werden können und man sich in ihnen aufhalten kann – ihr Raumcharakter also. Dinge und Lebewesen sind räumlich, aber Gebäude, das darf wiederholt werden, sind gebauter Raum. Indem sie wie Dinge sind, haben Gebäude noematische Aspekte, doch als gebauter Raum gehen sie in diesen nicht auf. Vielmehr lassen sie den ermöglichenden Charakter des Raumes selbst zur Erscheinung kommen. Gebäude nehmen auf, sie umgeben und umschließen – Lebewesen, unter diesen Personen, und Dinge, und entsprechend wird mit ihnen auch die Möglichkeit des Erfahrens erfahren und ebenso die Möglichkeit dessen, was erfahren werden kann. So wird mit und in Gebäuden offenbar, dass die beiden Seiten der phänomenalen Korrelation, Noesis und Noema, raumhaft und im Raum zusammengehören. Die phänomenale Korrelation ist als solche Raum, und so ist auch die Phänomenalität als solche in ihrem Zusammenspiel von Noesis und Noema raumhaft. Der Raum ermöglicht die Phänomene und mit ihnen die Phänomenologie.
 
Vor allem am Beispiel von Gebäuden könnte und sollte dies deutlich geworden sein. Es mag sich jedoch die Frage gestellt haben, wie der Raum als solcher zu begreifen sei, und wie entsprechend die phänomenale Bedeutung des Raumes, die Ermöglichung von Phänomenalität und Phänomenologie genauer beschrieben werden kann. Es ist nicht leicht, diese Frage zu beantworten, kurz und knapp wird das kaum möglich sein. Für eine hinreichend genaue Antwort muss man klären, wie sich das, was man ‚Raum’ nennt, begrifflich bestimmen lässt. Dazu wiederum sollte man sich als erstes klarmachen, dass ‚Raum’ ursprünglich kein Wort für den ‚Raum überhaupt’ ist. Geht man dem nach, so wird man darauf stoßen, dass das im Deutschen ‚Raum’ Genannte in anderen Sprachen ganz anders bezeichnet wird. So hat das entsprechende englische Wort ‚space’ eine ganz andere Bedeutung; es kommt von lateinisch spatium, Zwischenraum, während ‚Raum’ der Freiraum ist – der Raum, der etwas oder jemandem Raum gibt.
 
Die Vielfalt der Raumausdrücke hat philosophische Konsequenzen gehabt; es gibt keine einheitliche terminologische Bestimmung des Raumes. Während, von Aristoteles bis Heidegger, alle bei der Zeit grundsätzlich über dasselbe sprechen, sind die Erörterungen dessen, was ‚Raum’ genannt werden kann, recht heterogen. Die Passage über χώρα in Platons Timaios handelt nicht vom selben wie die Passage über τόπος, den Ort in der Physik des Aristoteles. Das Leere (τὸ κενόν) ist für Demokrit wichtig und ebenso für Laozi, während Descartes wie Aristoteles zu zeigen versuchen, dass der Gedanke des Leeren sinnlos sei. Für Descartes und ebenso für Husserl ist das ‚Raum’ Genannte wesentlich Ausdehnung, extensio. Wenn man außerdem die verschiedenen Aspekte des Abstands berücksichtigt, räumliche Ordnungen und Orientierungsmöglichkeiten, so sieht man leicht, dass das ‚Raum’ Genannte außerordentlich komplex ist und einer ausführlichen, weit ausgreifenden Erörterung bedarf.
 
Hier mag und muss jedoch ein kürzerer Weg reichen. Er besteht darin, noch einmal auf die drei Raumcharaktere zurückzukommen, die bei der Erörterung des Tons und seiner Erfahrung eingeführt worden sind. Töne, um daran zu erinnern, müssen irgendwo sein; sie müssen einen Ort haben, wie alles andere, das stattfindet – eine Statt findet oder gefunden hat, indem es geschieht. Außerdem muss das Tönen der Töne ermöglicht sein; Töne brauchen einen Freiraum, um zu erscheinen. Schließlich müssen Töne verschieden von den Lebewesen und ihren Sinnen sein, die sie affizieren, und, damit sie als Töne wahrnehmbar sind, verschieden voneinander. Sie müssen ertönend getrennt voneinander sein, und das sind sie nur, sofern sie äußerlich voneinander sind. Ort, Freiraum und Äußerlichkeit sind demnach Raumcharaktere, auf die man bei der Beschreibung von Tönen als Erscheinendem nicht verzichten kann. Dasselbe gilt für die Beschreibung des Hörens. Man hört etwas an einem bestimmten Ort, und davon, wie dieser Ort sich zu dem des Gehörten verhält, hängt es ab, ob dieses entfernt oder in der Nähe ist, kaum zu hören oder laut und überwältigend. Außerdem muss die Erfahrung des Hörens durch einen Freiraum ermöglicht sein; sie braucht akustisch geeignete Räume, die sie zulassen. Und schließlich, wie bereits erwähnt, muss die Hörerfahrung außerhalb der erfahrenen Töne sein und so selbst, als solche, in der Äußerlichkeit.
 
Diese Charakterisierungen lassen sich verallgemeinern, indem man sie auf die phänomenale Korrelation als solche bezieht. Was man ‚Korrelation’ nennt, erweist sich als bestimmt durch die Raumcharaktere von Ort, Freiraum und Äußerlichkeit.
 
Diese Charaktere gestatten jeweilige phänomenale, phänomenologisch beschreibbare Konkretionen dessen, was formal als noetisches Erscheinen wie als noematisch Erscheinendes bestimmt werden kann. Erscheinen und Erscheinendes sind nur möglich, indem sie räumlich ermöglicht sind. Auch wenn das einleuchtet, mag man fragen, wie die Ermöglichung des Phänomenalen genauer und dabei phänomenologisch zu beschreiben ist. Eine solche Beschreibung im angedeuteten Sinne ist nur möglich, wenn der Raum als solcher wesentlich zur Phänomenalität des Phänomenalen gehört und nicht nur eine ihrer Bedingungen unter anderen ist, so dass die Phänomene als solche nicht räumlich wären. Doch an den eingeführten Raumcharakteren lässt sich zeigen, dass Phänomene als solche räumlich sind. Ort, Freiraum und Äußerlichkeit sind, je auf ihre Weise, unscheinbar. Im Allgemeinen schenkt man dem Ort von etwas keine Aufmerksamkeit, anders als dem, was an einem Ort ist. Ebenso erfährt man nicht den Freiraum von etwas, das äußerlich ist, sondern etwas in seinem Freiraum und in seiner Äußerlichkeit. Raum, in welchem der genannten Charaktere auch immer, wird nicht direkt erfahren, sondern immer nur zusammen mit etwas, das räumlich ist.
 
Etwas Räumliches erfährt man umgekehrt als Erscheinung und Erscheinendes zusammen mit dem Raum in seiner Unscheinbarkeit. Auch den Raum zwischen zwei Dingen erfährt man mit diesen, wobei diese als besondere Dinge wiederum mit dem Raum zwischen ihnen das Erscheinende sind, das sie sind. Das lässt sich verallgemeinern, indem man sagt, das Phänomenale als Spiel zwischen Erscheinen und Erscheinendem gehe wesentlich mit Unscheinbarkeit einher. Phänomenologie ist dann Phänomenologie des Unscheinbaren, in jenem doppelten Sinne, dass man bei der Beschreibung der Phänomene mit der Unscheinbarkeit zu tun hat und die Beschreibung zugleich durch diese ermöglicht ist.
 
Der realistische Charakter der Phänomenologie
 
Zum Abschluss sei die Frage nach der Realität und dem realistischen Charakter der Phänomenologie noch einmal aufgenommen. Wie sich gezeigt hat, gehört die Realität als solche nicht als „Seinscharakter“, wie Husserl sagt, zur Immanenz des reinen Bewusstseins. Die Realität ist äußerlich, aber nicht außerhalb des Bewusstseins, das entsprechend ‚innen’ wäre. Es gibt kein mentales ‚Innen’, aus dem heraus man sich auf die Dinge beziehen würde – so wie man sich aus einem Gebäude durch ein Fenster auf etwas ‚dort draußen’ bezieht. Bezugnahme und Realität sind beide ‚außen’. Subjektives Erscheinen und objektiv Erscheinendes sind beide Möglichkeiten des Raums.
 
Stellennachweis der Husserl-Belege:
 
(1) Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Husserliana II, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1958, 14.
 
(2) Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, Husserliana III.1, hrsg. von Karl Schuhmann, Den Haag 1976, 104.
 
(3) Cartesianische Meditationen, in: Cartesianische Meditationen und Pariser Vortrag, hrsg. von Stefan Strasser, Husserliana I, Den Haag 1963, 41-183, 117.
 
(4) Ideen I, Husserliana III.1, 61.
 
(5) Die Idee der Phänomenologie, Husserliana II, 11.
 
(6) a. a. O.
 
(7) a. a. O.
 
UNSER AUTOR:
 
Günter Figal ist Professor für Philosophie an der Universität Freiburg. Von ihm ist kürzlich erschienen: Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie (Mohr Siebeck 2015).