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NACHRUF

Olaf Müller:
Vom Problem des Realismus besessen. Ein Nachruf auf Hilary Putnam

Aus: Heft 2/2016, S. 124-126

 
 
Am 13. März 2016 ist der amerikanische Philosoph Hilary Putnam im Alter von 89 Jahren gestorben. Bis nah an sein Lebensende hat er schreibend philosophiert, zuletzt in seinem Blog (Sardonic Comment). Er starb zu Hause in Arlington, unweit seiner jahrzehntelangen Wirkungsstätte Emerson Hall in Harvard.
 
In der Mitte seines Lebens hat David Hilbert, einer der wichtigsten Mathematiker aller Zeiten, eine Liste 23 vertrackter Probleme aufgestellt, deren Lösung er im Lauf des gerade begonnenen 20. Jahrhunderts für erreichbar hielt. Die Liste hatte es in sich. Unter Mathematikern löste sie innerhalb kurzer Zeit einen so großen Wirbel aus, dass derjenige seinen Lebtag von den Lorbeeren zehren konnte, der zur Lösung eines ihrer Probleme auch nur beigetragen hat. Hilary Putnam gehörte zum Kreis dieser illustren Mathematiker, und er hat sich auf den hilbertschen Lorbeeren keine Sekunde lang ausgeruht. Doch wird man sich seiner in erster Linie wegen ganz anderer Leistungen erinnern. Er war   einer der wunderbarsten Philosophen der letzten 50 Jahre – für mich der wunderbarste überhaupt.
 
In der ihm eigenen Mischung aus Bescheidenheit, Fröhlichkeit und Stolz hat er seinen Erfolg in Sachen Hilbert vor kurzem noch beschrieben. Und zwar hatte er im Studium nur einen einzigen Mathe-Kurs belegt, lehrte aber als Achtundzwanzigjähriger in Princeton mathematische Logik  – und fragte keck, ob es ihm wohl gelingen werde, ein mathematisches Originaltheorem zu beweisen. Er hatte sich mit dem Mathematiker Martin Davis angefreundet, der ihm das 10. Hilbert-Problem vorlegte. Einen Sommer lang trafen sie sich Tag für Tag. „I know that my brain was on fire that summer“, schrieb Putnam fünfzig Jahre später. Er blieb immer bis 3 Uhr nachts wach, um weiterzudenken, war am nächsten Morgen putzmunter und sprudelte über von neuen Lösungsideen – die der Freund allesamt für lächerlich erklären musste: bis sich darunter immer wieder auch eine Idee fand, mit der sie doch weiterarbeiten konnten. 
 
Der fast schon aberwitzige Ideenreichtum, der in dieser Anekdote aufscheint, war ebenso eine Konstante in Putnams Leben wie die charmante Lockerheit, mit der er sich von alten Ideen loszusagen wusste, und zwar ohne je an seiner Ernsthaftigkeit Zweifel aufkommen zu lassen. Auch die von ihm später verworfenen Ideen aus seiner philosophischen Arbeit waren raffiniert und allemal bedenkenswert; manche blieben schulbildend, nachdem sich ihr Urheber längst flink in entgegengesetzter Richtung aus dem Staub gemacht hatte.
 
Nicht alle seiner zunächst begeisterten Leser vermochten dem Tempo Putnams zu folgen, und so kann man eine Taxonomie seiner Rezipienten aufstellen, die einzig und allein vom Zeitpunkt bzw. vom Putnam-Text abhängt, bei dem sie aus der Kurve flogen. Für die einen bildet das Buch Meaning and the Moral Sciences (1978) den Höhepunkt der Ideenwelt Putnams, für die anderen den Beginn ihres Niedergangs; ähnlich teilt sich seine weltweite und stetig wachsende Leserschar bei späteren Werken wie Renewing Philosophy (1994) oder The Threefold Cord (1999).
 
Der rasanten Dynamik seines Meinungswandels verdanken wir einige der wichtigsten philosophischen Neuerungen des letzten Jahrhunderts. Putnam ging nicht nur mit     eigenen Ideen so unvoreingenommen um, dass er sie über Bord warf, wenn sie nicht mehr recht passen wollten; dasselbe tat er mit Ideen, die mehrere Philosophengenerationen für selbstverständlich gehalten hatten und mit denen Putnam (u. a. durch Hans Reichenbach und Rudolf Carnap) philosophisch sozialisiert worden war.
 
 
Zum Beispiel war man in der sprachanalytischen Philosophie stets davon ausgegangen, dass zwei Prädikate nur dann für ein und dieselbe Eigenschaft stehen könnten, wenn dieser Zusammenhang mit semantischer Notwendigkeit fixiert ist. Putnam hatte diese Voraussetzung in einem Vortrag aus dem Jahr 1959 benutzt, mit dem er schon kurz später nicht mehr zufrieden war; es war ihm nicht gelungen, auch nur eine einzige semantische Regel etwa für das Wort „Gold“ anzugeben, in der sich das sprachliche Wissen der Benutzer dieses Worts hätte dingfest machen lassen. Andere Philosophen hätten sich davon nicht aus der abstrakten Bahn werfen lassen, doch Putnam wollte die Sache in concreto durchgespielt haben. Und als das nicht funktionierte, brach er zu neuen Ufern auf: Es hat sich empirisch herausgestellt, dass Gold mit dem Element der Ordnungszahl 79 identisch ist, und doch (so der neue Gedanke) konnte man das Wort schon vor dieser Entdeckung kompetent benutzen – in genau derselben Bedeutung wie später. Dieser semantische Externalismus hat damals vielleicht in der Luft gelegen, denn unabhängig von Putnam kam Saul Kripke auf ganz ähnliche Überlegungen. (Es ist ein Zeichen für die Noblesse beider Denker, dass kein Prioritätsstreit ausbrach, dass vielmehr der eine den Beitrag des anderen stets zu würdigen wusste).
 
Putnam brachte die neue Einsicht auf die geniale Formel: „Bedeutungen sind nicht im Kopf“, und untermauerte dies durch eine Serie verspielter und scharfsinniger Gedankenexperimente (mit Zwillingserde voller Zwasser statt Wasser). Es dauerte einige Jahre, bis diese Überlegungen vollendet waren und veröffentlicht wurden. Das geschah im klassischen Aufsatz The Meaning of 'Meaning' aus dem Jahr 1975, worin so viele frische Ideen in die Luft geworfen werden, dass es für ein ganzes Semester reicht. Der sprachphilosophische Geniestreich wirkte sich auf die verschiedensten Gebiete der Philosophie aus, sowohl in Putnams eigener Forschung als auch in der seiner Kollegen und Kolleginnen. Einerseits führte er zu erheblichen Änderungen in Putnams zunächst funktionalistischer Philosophie des Geistes. Andererseits bereitete er die Bahn für den berüchtigten Beweis aus Reason, Truth, and History (1981), dem zufolge wir nicht seit Beginn unserer Existenz als Gehirne im Tank an    einen perfekten Weltsimulations-Computer angeschlossen sein können; die Matrix lässt sich wasserdicht widerlegen. Dass Putnams Präsentation der Widerlegung zu viele bewegliche Glieder hatte, also noch erheblich vereinfacht und verbessert werden konnte, hat er im Gespräch freimütig zugegeben – und darauf bestanden, dass es ihm in erster Linie nicht darum zu tun war, eine computertechnisch aufgemotzte Version des cartesischen Skeptizismus aus dem Spiel zu werfen. Das war nur ein kleines Nebenergebnis seines Beweises; ein anderes Nebenergebnis war der Existenznachweis fürs synthetische Apriori. Doch wollte Putnam mit dem Beweis zuallererst der metaphysischen Realistin das Wasser abgraben, also ausschließen, dass Wahrheit und wissenschaftlich gerechtfertigte Meinung ganz und gar auseinander liegen könnten. Hiergegen hatte er viele Pfeile im Köcher.
 
Vom Problem des Realismus war Putnam geradezu besessen – ums Verrecken nicht wollte er den Idealisten oder Antirealisten in die Arme laufen, und in der Naturwissenschaft lag ihm der Realismus am Herzen, seit er sich in den 1960er Jahren aus den Fängen positivistischer Wissenschaftsphilosophie befreit hatte. Gleichwohl fand er den metaphysischen Realismus unmenschlich und überdreht. So suchte er jahrzehntelang nach einer passablen Durchfahrt zwischen Skylla und Charybdis – zuerst als interner Realist, dann als naiver Realist, als direkter Realist, als Neopragmatist und so fort. Es ist alles andere als einfach, diese Vielfalt denkbarer Antworten auf das Realismus-Problem übersichtlich auseinanderzudividieren, und eine ganze scholastische Industrie hat sich damit abgemüht.
 
Bei aller Freude an den Details hat sich Putnam nicht den Blick fürs große Ganze verstellen lassen. Ihm war es wichtig, nicht allein der Mathematik und der Physik gerecht zu werden. Vielmehr war es ihm in den letzten Jahrzehnten immer stärker darum zu tun, auch mit Moral, demokratischer Politik und Religion in der Tiefe philosophisch klarzukommen. Es kam ihm auf die vielen Besonderheiten aller dieser Lebensbereiche an, die fürs gute Gedeihen unserer Kultur besser weder der Fuchtel blinder Wissenschaftsgläubigkeit unterworfen noch dem Relativismus anheimgestellt werden sollten. Dass er banalisierenden Vereinfachungen der Feinheiten unseres geistigen Lebenswandels widerstand, zog ihn zu den Schriften des späten Wittgenstein hin – ohne die Heldenverehrung, der manche Anhänger der Sphinx Wittgenstein verfallen sind.
 
Ganz anders als z. B. Willard V.O. Quine oder Donald Davidson war Putnam stark darin, sich für die philosophischen Errungenschaften anderer Autoren zu begeistern: von Hans Reichenbach zu Ludwig Wittgenstein, von Immanuel Kant zu John McDowell, von Aristoteles zu Amartya Sen. Mit untrüglichem Gespür wusste er das Beste aus den Schriften anderer von dem zu trennen, was irgendwie seltsam oder verstiegen, ja komisch wirkte, sobald man es mit frischem Blick betrachtete; mit von Putnam geöffneten Augen. Ausgelacht hat er niemanden, vielmehr schien er sich an derlei Seltsamkeiten (von denen es in der Philosophie wimmelt) deshalb so zu erfreuen, weil sie von ihm selber hätten stammen können. Ähnlich im Gespräch; er hat sein philosophisches Gegenüber geliebt wie sich selbst. Man kann auch sagen, er war ein unverbesserlicher, heiterer Optimist.
 
Die rauhe Wirklichkeit hat er dabei nie aus den Augen verloren. Just als er (Anfang der 1960er Jahre) seine eigene philosophische Stimme gefunden hatte und sich ihm ein riesiges Feld auftat, wurde ihm das Unrecht klar, das der amerikanische Krieg in Vietnam mit sich brachte. Der aktive Widerstand gegen diesen Krieg hat ihn jahrelang auf Trab gehalten. Dass er sich dabei mit dubiosen, weil totalitaristisch tickenden Bündnispartnern abgegeben hat, ist ihm rechtzeitig bewusst geworden, doch hat ihn diese bittere Desillusionierung nicht davon abgehalten, sich immer wieder in politische Angelegenheiten einzumischen – progressiv, liberal und pragmatisch zugleich. Sein messerscharfer Intellekt, sein ungetrübter Sinn für die Details, seine Übersicht, sein Humor, seine schwungvolle Sprache, sein engagierter Humanismus, sein Charisma und ja, seine Weisheit machten ihn zu einer Lichtgestalt der analytischen Philosophie. Es wird dort jetzt düster ohne ihn.
 
Olaf Müller lehrt Philosophie mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
 
Eine Fassung dieses Nachrufs mit Belegen und Literaturangaben findet sich auf
www.GehirnImTank.de