PhilosophiePhilosophie

INTERVIEW

Kemmerling, Andreas. Begriff und Begriffsanalyse.

aus: Heft 2/2018, S. 76-85

Um was geht es in Ihrem Buch, um den Glauben als Phänomen oder um den Begriff des Glaubens?
 
Andreas Kemmerling: Zunächst einmal, besser paßt das Glauben als der Glaube. Letzteres erweckt zu leicht den Gedanken speziell an religiöses Glauben, und dieses hat vielfältige Besonderheiten, die einer eigenen Untersuchung bedürfen und wohl auch einer ganz anderen Herangehensweise als meiner in diesem Buch. Mir geht es um Glauben im allerallgemeinsten Sinn von: etwas für wahr halten. Und dabei um beides: sowohl um das Phänomen als auch um den Begriff, den wir davon haben, und in gewisser Weise um beides in einem. Eine Leitfrage meiner Betrachtungen ist: Was von dem, das Philosophen über die Natur, oder das Wesen, des Glaubens behaupten, läßt sich mit Hinweis darauf untermauern, es ergebe sich aus dem Begriff des Glaubens?
 
Bei einer begrifflichen Untersuchung, wenn wir nachdenken, ob etwas unter einen Begriff fällt, was machen wir da?
 
Dann denken wir darüber nach, welche Grün-de es rechtfertigen, das betreffende Etwas unter den betreffenden Begriff zu subsumieren. Derartige Gründe sind von sehr unterschiedlicher Art und auch von unterschiedlichem Gewicht. Von besonderem philosophischen Interesse sind begrifflich hinreichende Grün­de. Sie sind die besten, die wir haben können, denn sie garantieren, daß die betreffende Sache unter den betreffenden Begriff fällt. Wer einräumte, daß solche Gründe vorliegen, aber dennoch bestritte, daß jene Sache unter diesen Begriff fällt, würde damit nicht einfach nur einen Fehler in der Sache begehen. Es wäre der Hinweis auf einen grundsätzlicheren Defekt – etwa, daß er den Begriff nicht erfaßt hat, oder auch, daß er nicht willens ist, das be-treffende Wort in seinem gewöhnlichen Sinn zu verwenden.
 
Wenn Sie sagen, Sie seien ein Realist in Bezug auf die Begriffe, was meinen Sie damit?
 
Das Etikett Begriffsrealismus hätte ich am besten gar nicht verwendet. Alles, was (im philosophischen Sprachschatz zumindest) auf „-ismus“ endet, erweckt ja leicht den Eindruck, als stecke dahinter so etwas wie eine leidlich elaborierte Theorie. Die habe ich allerdings nicht.
 
Um zu erklären, was ich mit diesem Terminus meine, muß ich zunächst einmal sagen, wie ich das Wort „Begriff“ verwende. Und zwar nicht, um damit etwas Psychisches zu bezeichnen, wie z. B. eine mentale Repräsentation. Ich meine damit etwas, das keine Repräsentation ist, wohl aber der Inhalt von Repräsentationen sein kann. Begriffe in diesem zweiten Sinn sind Bestandteile wahrheitswertfähiger Inhalte, sogenannter Propositionen. Und gewöhnlich sind sie etwas Intersubjektives: etwas, das von mehreren Subjekten erfaßt wird oder zumindest erfaßt werden kann.
 
Beide Weisen der Wortverwendung, nennen wir sie die psychologische bzw. die logische, sind in der heutigen Philosophie gebräuchlich. Dahinter steckt kein inhaltlicher Dissens; man kann ohne weiteres anerkennen, daß es Begriffe in beiderlei Sinn gibt. Wichtig ist nur, daß in dieser Hinsicht Klarheit besteht. Mir geht es um Begriffe nur im ‚logischen‘ Sinn dieses Wortes: um Komponenten des Inhalts dessen, was wir denken, nicht um das psychische Material, mit dem wir denken. Frege macht eine entsprechende Unterscheidung zwischen dem, was er als Vorstellung bzw. als Sinn (eines Begriffsworts) bezeichnet, wobei er übrigens mit letzterem nicht die sprachliche Bedeutung des Worts meint.
Manche Begriffe, so auch der des Glaubens, sind Grundbegriffe: nicht durch explizite Definitionen auf grundlegendere Begriffe zurückführbar. Wodurch sind sie bestimmt? Die beste Antwort, die ich kenne, besagt: durch die Verbindungen, in denen sie zu anderen Begriffen, insbesondere zu anderen Grundbegriffen, stehen. Diese Verbindungen lassen sich mit Hilfe von Aussagen charakterisieren, die sog. begriffliche Wahrheiten sind. Heute sagt man gewöhnlich, Grundbegriffe seien durch derartige Wahrheiten ‚implizit definiert‘.
 
Manche von diesen sind völlig trivial. Andere sind es nicht, und gelegentlich bedarf es einiger Ingeniosität, solche Wahrheiten zu entdecken. Bei manchen Aussagen ist es auch nach Jahrhunderten immer noch kontrovers, ob sie begriffliche Wahrheiten sind oder nicht. Und das geht insbesondere die Philosophie an. Es ist geradezu ein Charakteristikum genuin philosophischer ‚Meinungsverschiedenheiten‘, daß ihnen ein Dissens darüber zugrunde liegt, ob diese oder jene Aussage begrifflich wahr ist oder nicht.
 
Mit ‚Realismus‘ in puncto Glaubensbegriff meine ich nun dies: daß er ist, was er ist, und sich nicht darin erschöpft, was wir (derzeit) von ihm wissen. Zwar kennen wir ihn leidlich gut. Das tut ja jeder, der mit dem Wort „glauben“ semantisch kompetent umgeht. Dennoch haben wir – selbst die, die lange über diesen Begriff nachgedacht haben – nur unvollständige Kenntnis von seiner impliziten Definition. Anders gesagt, es dürfte wohl so sein, daß es begriffliche Wahrheiten über das Glauben gibt, die uns bisher unbekannt sind, und wohl auch solche, die wir nicht entdecken werden.
 
Wohlgemerkt, mein ‚Realist‘ ist kein Obskurantist. Er sagt nicht, jeder Grundbegriff sei prinzipiell, sozusagen von Haus aus, unausschöpflich, seinem Wesen nach dem vollständigen Begreifen entzogen. Sondern nur: De facto sind manche Begriffe, die wir haben, durch unsere sprachliche Kompetenz im Umgang mit den Wörtern, die wir für sie haben, nicht vollständig erfaßt. – Das klingt jetzt vielleicht allzu harmlos, um überhaupt der Erwähnung wert zu sein. Aber in der zeitgenössischen Philosophie ist das eine Sichtweise, die oft eher belächelt wird. Verbreiteter scheint die Auffassung, an einem Begriff, der von einem bestimmten Wort ausgedrückt wird, könne nicht mehr dran sein als das, was sich in der kompetenten Verwendung dieses Worts manifestiert – eine Auffassung, der ich früher selbst zuneigte.
 
Für einen ‚Begriffsrealisten‘ ist also, trotz ihres engen Zusammenhangs, zu trennen zwischen der sprachlichen Bedeutung des Wortes „glauben“ und dem Begriff, den das Wort ausdrückt. Meines Erachtens gibt es – zumindest bei Grundbegriffen des menschlichen Denkens – oft so etwas wie einen begrifflichen Überschuß gegenüber dem, was sich im semantisch kompetenten Umgang mit dem betreffenden Wort manifestiert.
 
Wer das so sieht, der wird – wenn er versucht, einen vorfindlichen Grundbegriff in genaueren Betracht zu nehmen – keine deskriptive Sprachanalyse betreiben. Jedenfalls wird er sich nicht damit begnügen. Vernünftigerweise muß er die Ergebnisse der Bemühungen um logico-semantische Analysen der einschlägigen Wörter ernstnehmen und sollte seine begrifflichen Hypothesen an solchen Befunden messen.
 
Dieser Realismus – der manchen Begriffen sozusagen ein Eigenleben über den Gebrauch der Wörter hinaus zubilligt, die wir für sie haben – ist keine Lehre, die ich predige, sondern eher so etwas wie eine Grundeinstellung, die ich gegenüber manchen Begriffen einnehme. (Begriffe wie Wahrheit, Existenz, Zeit, gut, ich sind prominentere Beispiele als der Begriff des Glaubens.) – Wie ich über diese Dinge nachdenke, das ist getragen von so einer ‚begriffsrealistischen‘ Einstellung. Ob das, was ich im einzelnen über das Glauben und unsern Begriff von ihm sage, richtig ist, ist, soweit ich sehe, unabhängig davon.
 
Was sind die Gründe dafür, dass sich aus einem „reinen“ Begriff, einem apriorisch gewonnenen Begriff, wenig folgern lässt?
 
Was ein ‚apriorisch gewonnener Begriff‘ ist, weiß ich nicht. Ihre Frage bezieht sich, vermute ich, darauf, daß ich im ersten Teil des Buchs auch auf einen uneingeschränkt allgemeinen Begriff (des ‚Glaubens-schlechthin‘) eingehe, der jede denkmögliche Form des Glaubens umfassen soll, nicht nur das menschliche Glauben, das uns als einziges gut genug bekannt ist, um mit Bestimmtheit etwas darüber zu sagen. Ihn bezeichne ich gelegentlich als ‚reinen‘ Begriff des Glaubens. Aus dessen Untersuchung ließe sich, so denke ich, in der Tat nicht viel gewinnen. Kaum mehr als ein paar sehr dürre Bestimmungen, wie zum Beispiel: daß das Geglaubte wahrheitswertfähig ist und daß das Subjekt des Glaubens in irgendeinem Sinn ‚über Begriffe verfügt‘ und ‚minimal rational‘ ist. Kurz, ein reiner Begriff des Glaubens ist, und eigentlich nur darum geht es mir, derart arm an näheren Bestimmungen, daß er (im Hinblick auf fast alle in der Philosophie diskutierten Fragen zum Thema Glauben) völlig unergiebig ist. Mit ihm läßt sich nichts anfangen.
Das ist aber nicht weiter schlimm. Denn auch wo Philosophen so klingen (und das tun sie fast immer), als ginge es um das Glauben-schlechthin, meinen sie, so vermute ich, stets das Glauben-à-la-Mensch. Daran habe ich nichts auszusetzen. Im Gegenteil. Es ist ja die einzige Ausprägung von Glauben, mit der wir vertraut sind. Nur vom menschlichen Glauben kann Nachdenken über ‚das‘ Glauben und auch über unsern Begriff von ihm vernünftigerweise seinen Ausgang nehmen.
 
In diesem Punkt stimme ich Donald Davidson zu, der dann jedoch meines Erachtens zu weit geht, wenn er die Beherrschung einer (logisch strukturierten) Gemeinsprache zu einer begrifflichen Voraussetzung für das Glauben deklariert. Ihn kontrastiere ich mit Daniel Dennett, der auf eine erfrischend provokative Weise daran erinnert, wie luftig hingegen der reine Begriff des Glaubens eben ist. Nach Dennett trifft er schlankweg auf jede Sache zu, auf deren Benehmen wir uns dadurch einen prognostisch brauchbaren Reim machen können, daß wir ihr passende Überzeugungen (und Wünsche) zubilligen. Doch auch Dennetts Auffassung ist philosophisch unbefriedigend, vornehmlich deshalb, weil sie selbst dem menschlichen Glauben letztlich keine volle Realität zubilligt, sondern es als bloßes Konstrukt einer Interpretation erscheinen läßt, die zwar überaus nützlich sein kann, aber strenggenommen weder wahr noch falsch ist.
In der zweiten Hälfte meines Buchs lasse ich Fragen zum ‚reinen‘ Begriff völlig außer Betracht und behandle solche, die ausschließlich den des menschlichen Glaubens betreffen. Dieser ist nun zwar erheblich ergiebiger, aber dafür zugleich auch durch und durch ‚unrein‘. Jedenfalls solange der Mensch, der in ihn einbegriffen ist, nicht gemäß philosophischen Wunschbildern, speziell in puncto Rationalität, idealisiert wird. – Mir geht es dabei um begriffliche Wahrheiten über das Glauben, die sich immerhin auf ‚normale‘ Menschen und ‚normale‘ menschliche Gegebenheiten erstrecken. Sie sind, denke ich, der Kern dessen, was wir über das Glauben wissen.
 
Das ist natürlich ein heikles Unterfangen. Denn offenkundig ist die merkwürdige
Einschränkung auf das ‚menschlich Normale‘ hoffnungslos unbestimmt. Dennoch ist sie unumgänglich, wenn wir versuchen, unsern einzig operativen Begriff des Glaubens genauer zu verstehen.
 
Dieser Idee gehe ich in den letzten zwölf Kapiteln nach. Zum einen versuche ich, sie überhaupt einleuchtend zu machen. Zum andern dient sie mir als Ausgangspunkt zur Behandlung einiger erkenntnistheoretischer Fragen – speziell in Bezug auf die eigentümlichen epistemischen Beziehungen, in denen jeder Mensch zu seinem eigenen Glauben steht.
 
Manche Philosophen halten die Begriffsanalyse für die Hauptaufgabe der Philosophie. Wird die Begriffsanalyse damit nicht doch überschätzt?
 
Und wie sie damit überschätzt würde! Was genau ‚die Hauptaufgabe‘ der Philosophie auch immer sein mag, Begriffsanalyse ist es nicht. (Sprachanalyse schon gar nicht.) Aber, oder lauter und deutlicher: ABER, ohne Begriffsanalyse kommt philosophisches Nachdenken nicht aus. Ohne sie gäbe es keine Orientierung in einem Denken, das sich gelegentlich anmaßt, etwas als ‚a priori einsichtig‘ zu erweisen. Bei der Suche nach einer Antwort auf eine philosophische Frage kommt man oft nicht um die weitere Frage herum: Worüber muß ich eigentlich nachdenken, wenn ich mir in allem Ernst die Frage stelle, die ich mir hier stelle?
 
Wer wissen will, wie spät es ist, braucht sich keine derartige ‚Meta-Frage‘ zu stellen. Wer wissen will, was Zeit eigentlich ist, kommt nicht um sie herum. Und wer eine solche Nachfrage zum eigenen Fragen zu beantworten versucht, gerät unweigerlich in das Metier der Begriffsanalyse.
 
Solcherlei ‚Analyse‘ betreiben Philosophen in sehr unterschiedlicher Manier. Manche zielen auf höchstmögliche deskriptive Adäquatheit und setzen feinste Nuancen des Sprachgebrauchs gegeneinander ab. Oft ergibt sich dann, daß ein und dasselbe Begriffswort, obwohl es nicht mehrdeutig ist, verschiedene (wiewohl miteinander verwandte) Begriffe beinhaltet.
 
Analysen anderer Art zielen auf möglichst glatte Formalisierung in einem vorgegebenen Logiksystem; in ihnen kommt es auf feinere Nuancen oft nicht an. Letzteres trifft auch auf die Art von Analyse zu, die man als rationale Rekonstruktion bezeichnet. In ihr geht es dar-um, aus einem vorgegebenen Begriff das herauszuschälen, was in Hinblick auf bestimmte theoretische Zielsetzungen (die natürlich von sehr unterschiedlicher Art sein können) zweckmäßigerweise als sein Kern erachtet werden sollte. Gute Rekonstruktionen dieser Art sind zumeist keine Analysen im engeren, bloß deskriptiven Sinn; oft münden sie in der Explikation eines neuen Begriffs, der höheren Ansprüchen an Deutlichkeit und Präzision genügt.
 
Die Bildung neuer Begriffe kann jedoch auch bei der strikt ‚konservativen‘, erst einmal auf bloße Deskription abzielenden, Analyse eines vorgegebenen Grundbegriffs (wie auch dem des Glaubens) von Nutzen sein. In einer Analyse dieses Schlags geht es darum, aufschlußreiche Beziehungen freizulegen, in denen dieser zu andern vorhandenen Grundbegriffen steht. Dabei ist es oft von Wert, semi-technische Begriffe einzuführen, die zumindest insofern neu sind, als es bisher kein eigenes Wort für sie gab. Solche neuen, hinzukonstruierten Begriffe können analytische Aufschlußkraft besitzen, und zwar dadurch, daß sie in der Analyse als Verbindungsglieder zwischen den ‚alten‘ Begriffen fungieren: es gestatten, manche der zu erfassenden Beziehungen einfacher, transparenter und systematischer zu charakterisieren als dies ohne sie möglich ist. Analysen dieses Schlags lassen die alten Begriffe intakt, können aber das Verständnis der Beziehungen zwischen ihnen vertiefen.
 
Und schließlich gibt es auch ‚Analysen‘, die gar nicht auf Einklang mit dem gewöhnlichen Gebrauch des Begriffsworts abzielen, sondern dezidiert idiosynkratisch sind: letztlich nur dazu gedacht, den Leser ahnen zu lassen, in welch extravagantem Sinn ein grundbegriffli-ches Wort der gewöhnlichen Sprache in der Lehre des Autors verwendet wird. Und natürlich gibt es zahllose Mischformen. – Wie auch immer: Zum Philosophieren gehört das Bemühen, sich darüber ins Klare zu setzen, welche Begriffe es sind, die eine Frage zu einem Problem machen, und welche Begriffe es sind, in denen sich das eigene Nachdenken über dieses Problem bewegen soll.
 
Wenn wir nachdenken, ob etwas unter einen bestimmten Begriff fällt, müssen wir dann schon inhaltlich wissen, was unter den Begriff fallen könnte oder reicht es, wenn wir den Sprachgebrauch genau kennen?
 
Ich bin nicht sicher, ob ich Ihre Frage richtig verstehe. Aber vielleicht ist dies eine Antwort: Um zu beurteilen, ob etwas – irgendein konkretes x – unter einen bestimmten Begriff, B, fällt, reicht es natürlich nicht aus zu wissen, daß B weit genug ist, um Dinge wie x einbegreifen zu können. Und genaue Kenntnis des Sprachgebrauchs hilft da auch nicht weiter. Im Gegenteil, oft ist es ja so: Je genauer wir den sprachlich korrekten Gebrauch eines Wortes kennen, desto besser wissen wir, wie leicht er uns – gerade in Hinblick auf philosophisch interessante Fragen – im Stich läßt.
 
Wie hängen Begriff und Sprache zusammen?
 
Oha. Fast möchte ich zurückfragen: Geht’s auch ne Nummer kleiner? – Nun ja, eines scheint klar: Eng sind diese Zusammenhänge immer da, wo eine Sprache Wörter hat, deren Sinn es gestattet, den betreffenden Begriff in ihr, der betreffenden Sprache, auszudrücken. Daß jemand ein Begriffswort versteht (wozu oft ja einiges gehört), ist jedenfalls das beste Indiz dafür, daß er den von ihm ausgedrückten Begriff erfaßt. Aber, wie bereits gesagt, viele Begriffe erfassen wir auch dann nicht vollständig, wenn unser Wortverständnis makellos ist – gar nicht besser sein könnte. Vielmehr gibt es Begriffe, die uns – obwohl wir das entsprechende Wort bestens verstehen – geradezu rätselhaft werden, sobald wir über sie nachdenken. (Ab einem gewissen Alter beherrscht jedes Kind das Wort „ich“ so gut wie jeder Philosoph, der jahrelang über den Begriff nachgegrübelt hat.)
 
Der Begriff ist bei Ihnen etwas Geistiges. Was aber ist der Geist, was sollen wir darunter verstehen?
 
Erst einmal: Nein. Unter einem Begriff verstehe ich, wie oben bemerkt, gerade nicht etwas Geistiges. Zwar werden Begriffe, wie man sagt, geistig erfaßt. Aber das heißt nicht, daß sie selbst etwas Geistiges sind. Sie gehören – jedenfalls so, wie ich dieses Wort als Terminus technicus gebrauche – nicht dem Bereich der geistigen Phänomene an, sondern dem Bereich der wahrheitswertfähigen Inhalte von geistigen Akten, Zuständen und Vorgängen.
 
Was ich als geistig bezeichne, das ist insbesondere das Denken, Fühlen, Gestimmtsein eines Individuums, seine Vorlieben, Abneigungen und außerdem einiges von dem, was seiner ‚Persönlichkeit‘ zuzurechnen ist (so z. B. sein Temperament, sein Charakter und so weiter).
 
Wenn Sie nun fragen, was ‚der‘ Geist ist, was man darunter verstehen soll, dann habe ich zunächst einmal eine Empfehlung dazu, was man nicht darunter verstehen sollte: jedenfalls nicht ein eigenständiges Etwas, etwa einen körperlosen Akteur oder eine Art Raum („im Geist“ wörtlich genommen), in dem geistige Aktivitäten stattfinden; aber auch nicht ein ‚Denkorgan‘, wie das menschliche Gehirn. – Beim Reden über ‚den Geist‘ sollte man nicht aus dem Blick zu verlieren, daß jeder Geist jemandes Geist ist. Die geistigen Eigenschaften eines Menschen sind nicht Eigenschaften, die sein Geist hat, sondern solche, die er – der betreffende Mensch – hat; er ist es, der denkt, empfindet und so weiter.
 
Somit könnte man, dies nun als eher konstruktive Empfehlung, unter dem Geist eines Menschen die Gesamtheit seiner geistigen Eigenschaften verstehen, und entsprechend unter dem menschlichen Geist die Gesamtheit der geistigen Eigenschaften, die Menschen haben können. ‚Geist-schlechthin‘, wenn man so sprechen mag, wäre dann die Gesamtheit aller geistigen Eigenschaften überhaupt, wer oder was auch immer sie haben mag (nicht nur Menschen und andere Lebewesen, sondern sozusagen Gott und die Welt).
 
Eine derartige, ‚vereigenschaftlichende‘ Erläuterung hat meines Erachtens eine Reihe von Vorzügen, von denen ich zwei nennen möchte. Zum einen verweist sie uns unmittelbar auf die Frage: Wonach bemißt sich denn, ob eine bestimmte Eigenschaft eine geistige ist? Diese Frage halte ich für hilfreicher als, zum Beispiel, eine Frage wie diese: Wonach bemißt sich, ob eine bestimmte Entität ein Geist ist? – Zum zweiten ist diese Erläuterung in einer wichtigen Hinsicht philosophisch unbelastet. Denn es wird keine bestimmte Metaphysik des Geistes favorisiert. Es bleibt offen, in welche ontologischen Schubfächer die Entitäten gehören, die solche Eigenschaften haben können.
 
Warum reicht es nicht, „nur“ den Begriff des „Glaubens“ zu behandeln, warum muss der Begriff des „menschlichen Glaubens“ speziell behandelt werden – es gibt doch nur „menschliches Glauben“ (bei Gott müsste man wohl von „Wissen“ sprechen)?
Zum letzten Punkt nur eine kleine Rückfrage: Wenn Gott allwissend ist, wie viele Gläubige sagen, wie sollte es zugehen, daß er das, was er weiß, nicht für wahr hält? Warum nicht lieber so: Das Glauben Gottes ist von besonderer Art, nämlich zugleich vollkommenes Wissen? ­– Aber lassen wir alles Übernatürliche hier lieber beiseite.
Sie sagen, es gebe nur menschliches Glauben. Das ist eine weitreichende empirische Vermutung, die ich für vollkommen unbegründet halte. Zwar ist der Mensch das einzige Wesen, von dem wir wissen, daß es glaubt. Aber welche Gründe gibt es zum Beispiel dafür, der gesamten Tierwelt jederlei Art von Glauben abzusprechen? (Dazu müßte ein reiner Glaubensbegriff herangezogen werden; aber der ist zu offen, um pauschal jederlei Glauben von Tieren auszuschließen.)
Manchmal wird diese Auffassung mit philosophischem Aplomb vertreten, gerne mit Hinweis darauf, der Mensch sei nun einmal das einzige Wesen, das dazu begabt ist, eine ‚vollwertige‘ Sprache zu sprechen (d. h. eine, deren Zeichen syntaktisch und semantisch so strukturiert sind, daß in ihr bislang unbenutzte komplexe Zeichen gebildet werden können, die jedem Sprachgenossen unmittelbar verständlich sind). Und in der Tat: Nach allem, was wir wissen, haben nur Menschen solche Sprachen.
Schön. Aber wie läßt sich daraus, daß nur der Mensch spricht, ein Argument dafür gewinnen, daß nur er glaubt? Manchmal wird gesagt: prinzipiell seien eben nur Wesen mit einer vollwertigen Sprache dazu befähigt, etwas zu glauben. Wenn dies a priori einsichtig sein soll (und manche Autoren klingen so), dann müßte es sich aus dem Begriff des Glaubens ergeben. Aber dem ist nicht so. Wenn es hingegen eine empirische Hypothese sein soll, wüßte man gerne, durch welche Daten sie gestützt wird. Ich kenne keine.
Mich beschäftigt in meinem Buch auch die Frage, warum Philosophen so anfällig dafür sind, falsche (jedenfalls völlig ungedeckte) Thesen – wie z. B. die gerade genannte – über den Begriff des Glaubens zu machen. Bei dem Versuch, eine Diagnose dafür zu finden, ist mir einiges aufgefallen. Unter anderem ist da die Doktrin, der Glaubensbegriff sei eine Art empirisch-theoretischer Begriff (vergleichbar dem Begriff des Redoxpotentials in der heutigen Chemie oder dem des Phlogistons im 18. Jahrhundert). Oft liegt steilen begrifflichen Thesen über das Glauben auch ein diesbezüglicher Verifikationismus zugrunde: Glauben könne es nur da geben, wo wir auch über Testkriterien für sein Vorliegen verfügen. (Dann liegt es natürlich auch nahe, Sprachbesitz zu einer Voraussetzung für das Glauben zu deklarieren.) Gelegentlich stößt man auf einen kaum verhüllten Konsentionalismus: ob Glauben vorliegt oder nicht, das sei nur eine Frage unserer diesbezüglich übereinstimmenden Ansichten. Und schließlich ist da eben auch die bereits erwähnte unterschwellige Ineinssetzung von Glauben mit jener einzigen Art von Glauben, mit der wir uns tatsächlich einigermaßen gut auskennen: das Glauben von Menschen, zumal solcher, deren Sprache wir verstehen.
Dennoch, die begriffliche Gleichsetzung von Glauben (Glauben-schlechthin) mit menschlichem Glauben wäre ein blanker Anthropozentrismus, der nicht in dem Begriff liegt. Dies wäre der Erwähnung, oder gar philosophischer Betrachtung, nicht wert, wenn nicht doch – gerade auch von Philosophen – vieles, was der viel engere, aber reichere Begriff des menschlichen Glaubens umfaßt, umstandslos auch als Merkmal des ‚reinen‘ Glaubensbegriffs selbst erachtet würde. Diesen halte ich, wie gesagt, für unergiebig. Interessant finde ich jedoch, daß Philosophen – offenbar auch Sie, lieber Herr Moser – dazu tendieren, ihm etwas wesentlich Menschliches beizulegen.
Woher kommt das? Nun, wir kennen uns mit diesem Begriff, der zwar potentiell weit über das Menschliche hinausgreift, eben nur da leidlich aus, wo er Anwendung findet auf den Menschen. Noch einmal: De facto ist alles, was wir über das Glauben wissen, bezogen auf das menschliche Glauben. Dieses Wissen involviert den Begriff, den wir vom menschlichen Glauben haben. Und der ist implizit definiert auch durch Wahrheiten, die nur dadurch begrifflich wahr sind, daß ihre Geltung auf solche Fälle beschränkt ist, in denen gewisse relevante Präsumptionen erfüllt sind. Diese betreffen insbesondere auch das, was uns als ‚normal‘ gilt in Hinblick darauf, daß ein Mensch das-&-das glaubt oder dies-&-jenes nicht glaubt. Der spezielle Normalitätsbegriff, der hier ins Spiel kommt, ist (so denke ich) unexplizierbar, aber eben auch ein wesentliches Ingrediens unseres tatsächlichen Begriffs vom menschlichen Glauben. Loswerden können wir ihn nur um den Preis deskriptiv inadäquater Idealisierungen, insbesondere solcher in puncto menschliche Rationalität.
 
 Worin liegt denn der Mehrertrag von einer Analyse des Begriffes des „menschlichen Glaubens“ gegenüber eine Analyse des Begriffes des „Glaubens“?
 
Nun, um mehr oder weniger Ertrag geht es dabei nicht. Vielmehr denke ich, daß es in Wirklichkeit ohnehin (fast) immer der Begriff des menschlichen Glaubens ist, den wir heranziehen, wenn das Glauben philosophisch thematisch wird. Ausnahmen gibt es zwar, z.B. wenn Themen behandelt werden, bei deren Erörterung die begriffliche Möglichkeit nicht-menschlichen Glaubens mit einbezogen werden muß. Aber bei den Problemen, mit denen ich mich im zweiten Teil meines Buchs beschäftige, ist das nicht der Fall. Die Frage zum Beispiel, ob zum Glauben ein normativer Aspekt gehört, und worin genau er bestünde, wird stets in Hinblick allein auf menschliches Glauben diskutiert; und das gilt ebenso für all die Fragen nach der angeblich besonderen Art von Wissen, das jeder über sein momentanes Glauben besitzt. Kurz, wenn wir „glauben“ sagen, meinen wir – auch wir Philosophen – fast immer menschliches Glauben.
Und das ist nicht nur natürlich, sondern (selbst beim Philosophieren) völlig vernünftig. Über das Glauben-schlechthin läßt sich ja kaum etwas Greifbares sagen. Am Ende ist es das, was übrigbliebe, wenn es gelänge, vom menschlichen Glauben alles spezifisch Menschliche abzustreifen. Der Begriff davon ist, wie gesagt, ein dürres Abstraktionsprodukt, kein interessanter Begriff. Daß dessen Analyse – außer vielleicht für Monumentalprojekte wie das einer universalen Theorie des Geistes oder der Rationalität – überhaupt einen ‚Ertrag‘ hätte, ist mir durchaus nicht deutlich.
 
Hingegen ist der Begriff des menschlichen Glaubens ein reicher – auch an interessanten Problemen reicher – Begriff. Unter anderem auch deshalb, weil viele der begrifflichen Verbindungen (gerade der philosophisch besonders interessanten Verbindungen), durch die er implizit definiert ist, sich nicht als strikte Generalisierungen fassen lassen. Vielmehr handelt es sich um begriffliche Wahrheiten, in denen die Zulässigkeit von Ausnahmen vorgesehen ist – wobei sich allerdings kein allgemeines Kriterium dafür angeben läßt, was noch zulässig ist und was nicht.
Diesen Punkt halte ich für wichtig. Die philosophische Debatte zu Fragen, um die es im zweiten Teil des Buchs geht, ist geprägt durch Diskussionen über Grenzphänomene (und erfundene Szenarien), deren Beschreibung gelegentlich begrifflich problematisch ist. Das gilt beispielsweise für die Diskussion um Fragen wie: Ist Blindheit für das eigene Glauben möglich? Oder: Wie groß kann die Diskrepanz sein zwischen dem, was ein Mensch glaubt, und dem, was er aufrichtig sagt und wie er handelt? Meines Erachtens ist eine adäquate Behandlung solcher Themen, in denen es auch um begriffliche Zweifelsfälle geht, erst dann möglich, wenn der erwähnte Unterschied berücksichtigt wird: der zwischen einer begrifflich zulässigen Ausnahme und einer genuinen Verletzung eines (sei’s auch nicht-strikten) begrifflichen Zusammenhangs.
 
Andreas Kemmerling ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg. Die Fragen stellte Peter Moser.