PhilosophiePhilosophie

04 2018

Andreas Urs Sommer:
Was von Nietzsche bleibt

aus: Heft 4/2018, S. 8-15

Das Ende der Nietzsche-Forschung?

Friedrich Nietzsche hat die akademische Philosophie leidenschaftlich verachtet – nicht ohne von ihren Erkenntnissen unbefangenen Gebrauch zu machen, sofern sie sich in seine eigenen Denkbewegungen einpassen ließen. Gelegentlich hat es den Anschein, als ob ihm die akademische Philosophie hierzulande das heimzahlen wolle. So unvermindert groß das Publikumsinteresse an Nietzsche auch ist, so wenig lässt sich mit ihm in der gegenwärtigen deutschen Universitätsphilosophie doch ein Blumentopf, geschweige denn eine Dauerstelle gewinnen. Eine ganze Generation von Nietzsche-Spezialistinnen und -Spezialisten, die im deutschsprachigen Raum Philosophie-Professuren bekleidet haben, ist mittlerweile in den Ruhestand getreten – und kaum eine(r) ihrer Nachfolgerinnen und Nachfolger betreibt ernsthaft Nietzsche-Forschung. Während weltweit die Nietzsche-Diskussion blüht, ist es in Deutschland nahezu unmöglich geworden, auch nur eine fachlich angemessen betreute philosophische Nietzsche-Dissertation zu schreiben.

Dabei ist dieses akademisch-philosophische Nietzsche-Desinteresse nur das Symptom einer generellen Abwendung von der eigenen Fachgeschichte: Philosophiegeschichtsschreibung gilt vielerorts als antiquiert und einer systematisch ambitionierten Philosophieverwaltungswissenschaft hinderlich: Ein wesentlicher Grund für diese Abwendung ist das gewaltige Irritationspotential, das frühere Denkbemühungen in die Gegenwart hineintragen könnten. Ahistorische akademische Philosophie, die sich mittlerweile so gern als reine Wissenschaft versteht, unternimmt eine Menge, Quellen der Irritation, die von anderem, fremden Denken ausgeht, versiegen zu lassen. Ob eine derartige irritationsfeindliche, aseptische und antiseptische Philosophie eine große Zukunft haben wird, muss sich zeigen.

Ein vielfältiger Nietzsche

Die Frage, was von Nietzsches Philosophie bleibe, ist mehrdeutig. Aus der Fülle der möglichen Bedeutungen will ich nur zwei herausgreifen. Die erste, nächstliegende, buchstabiert die Frage dahingehend aus, ob denn diese Philosophie für die Gegenwart oder gar die Zukunft noch eine Relevanz habe. Versteht man die Frage mit dem Akzent auf dem „bleibt" als Frage nach der anhaltenden Bedeutsamkeit von Nietzsches Philosophie, schließt sich die Folgefrage an, was das Eigentliche und Wesentliche an Nietzsches Philosophie sei. Im Kern neigte die Forschung im 20. Jahrhundert dazu, Nietzsches Philosophie auf bestimmte Propositionen zu bringen und dann anhand dieser ‚Lehren' genannten Propositionen zu entscheiden, ob von Nietzsches Philosophie noch etwas bleibe. Bevor ich jedoch meinerseits eine davon etwas abweichende Antwort skizziere, sei die zweite mögliche Bedeutung der Frage, anders akzentuiert, in den Vordergrund gerückt: Was bleibt von Nietzsche Philosophie, wenn wir doch nur Nietzsches Texte haben, die bei genauer Betrachtung in unterschiedlichste Richtungen zu weisen scheinen?

Wer wie ich dank der Arbeit am Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften täglich mit Nietzsches Texten beschäftigt ist, hat es mit einem vielfältigen Nietzsche zu tun, der sich nicht umstandslos auf einen Nenner bringen lässt. Sonst ist der philosophische Interpret in einer ungleich komfortableren Lage: Er kann aus dem immensen Textkonvolut ‚Nietzsche' das herausgreifen, was ihm aus welchen Gründen auch immer das ‚Eigentliche' und ‚Wesentliche' zu sein scheint, um den Rest diesem ‚Eigentlichen' und ‚Wesentlichen' zu subsumieren. Aber mit welchem hermeneutischen Recht verfährt man so bei einem Autor, dessen Werk in so verschiedene Richtung zu weisen scheint? Was gibt dem Interpreten das Recht, aus dem Partikularen, beispielsweise den verstreuten Äußerungen über den ‚Willen zur Macht', die ‚Ewige Wiederkunft des Gleichen' oder den ‚Übermenschen', Schlussfolgerungen zum Ganzen von Nietzsches Philosophie zu ziehen? Wie legitimiert man einen derartigen Schluss?

Die Zurückhaltung des „Nietzsche-Kommentars"

Bei der Arbeit am Nietzsche-Kommentar haben wir nach und nach darauf verzichtet, dem Philosophen Nietzsche bestimmte Positionen fest zuzuschreiben. Dann hieße es beispielsweise nur noch, in Abschnitt 125 der Fröhlichen Wissenschaft trete ein „toller Mensch" auf, der den Tod Gottes verkündige, anstatt zu sagen, Nietzsche habe in diesem Abschnitt den Tod Gottes verkündigt oder gar, seine Philosophie lehre den Tod Gottes. Konsequent ‚textologisch' oder ‚textistisch' wäre es nun, auf solche Zuschreibungen ganz zu verzichten und hinter den Texten den Philosophen Nietzsche und damit auch die Philosophie Nietzsches zum Verschwinden zu bringen. Nietzsche wäre für nichts verantwortlich; es gäbe kein Kontinuum, keinen Zusammenhang seines Denkens. Verbunden mit der Einsicht, dass wir nur Nietzsches schriftliche Hinterlassenschaften haben, nicht aber Nietzsches Denken (als Prozess) selbst, keine Innenansicht seines Kopfes, könnte eine an den Texten orientierte Beschäftigung ‚mit Nietzsche' dazu tendieren, ganz auf die Konstruktion von gedanklicher Kohärenz, auf die Konstruktion einer ‚Philosophie Nietzsches' zu verzichten. Damit aber geriete sie in den Ruch einer reinen Philologie, die philosophisch gänzlich uninteressant wäre.

„Inhaltistische" versus „textischer" Zugang

Demgegenüber verfahren philosophische Interpreten traditionell ‚inhaltistisch'. Für sie ist es – ganz egal, ob sie sich ‚kontinental' oder ‚analytisch' verstehen – selbstverständlich, dass man ‚Nietzsche' irgendwelche Positionen und Propositionen zuschreiben kann. Aus Texten kann man das Denken erschließen, ohne in den Kopf des Philosophen hineinzusehen, und dieses Denken zeigt sich in bestimmten Urteilen, die sich von Urteilen anderer Philosophen unterscheiden und deren Valenz man argumentationslogisch erschließen kann. So kommt man zu Nietzsche als dem Philosophen des ‚Willens zur Macht', der ‚Ewigen Wiederkunft', des ‚Übermenschen' usf. Die ‚inhaltistischen' und die ‚textistischen' Interpreten sind sich immerhin darin einig, dass der privilegierte, womöglich einzige Zugang zu Nietzsche nur über das von ihm Geschriebene gelingen kann – einmal ungeachtet der Frage, wie man sein gedrucktes Werk zu seinem Nachlass ins Verhältnis setzt. Die ‚Inhaltisten' wollen aber ein Gesamtbild von Nietzsches Denken aus einem sehr begrenzten Korpus von Textpassagen gewinnen, die sie zur Hauptsache, zum Kern von ‚Nietzsche' erklären. Dies erlaubt es ihnen dann, den jeweiligen ‚Rest', das heißt, den größten Teil von Nietzsches schriftlicher Hinterlassenschaft nach Maßgabe der von ihnen privilegierten Textpassagen zu organisieren. Da erscheint dieser ‚Rest' dann als Beglaubigung oder als Wurmfortsatz der großen Lehren, der Hauptpropositionen von Nietzsches Denken. Den Textisten hingegen, die der Leitvorstellung anhängen, möglichst alle Texte gleichermaßen ernst zu nehmen, zerbröselt Nietzsches Denken und damit auch das Denker-Subjekt, dem klare und distinkte Propositionen zuzuschreiben wären, zwischen den Fingern.

Nun ist es eine schwierige und unter Philosophiehistorikern zu selten bedachte Frage, von was für einem Subjekt eigentlich die Rede ist, wenn von Nietzsche, Hegel, Kant oder Platon gesprochen wird, dem dann diese oder jene Proposition zugeschrieben wird. Offensichtlich ist die Redeweise ‚Kant ist der Überzeugung, dass p', oder ‚Nietzsche vertritt die Lehre q' nicht einfach biographistisch oder psychologisch gemeint: Es geht nicht darum, das unergründliche Innenleben der längst verstorbenen, historischen Subjekte auszuforschen. Im inhaltistischen, metonymischen Sprachspiel traditioneller Philosophiegeschichtsschreibung sind ‚Kant' oder ‚Nietzsche' eine Art von transzendentalen oder transzendentalpragmatischen Subjekten, die als personifizierte Produzenten und Platzhalter bestimmter Propositionen gedacht werden und denen man (gemäß dem principle of charity) einen Willen zur Kohärenz, zur systemischen Geschlossenheit zuspricht. In manchen Fällen wird man diesen transzendentalpragmatischen Subjekten eine große Ähnlichkeit mit den historischen Subjekten zu attestieren geneigt sein, nämlich immer dort, wo historisch-biographische Forschungen den Schluss nahelegen, tatsächlich habe auch das jeweilige historische Subjekt einen entschiedenen Willen zum philosophischen System gehabt und ihn zeitlebens beharrlich verfolgt. Manche philosophischen Lebenswerke scheinen auf Kohärenz und Konsistenz geeicht, andere jedoch nicht. Bei Kant oder Hegel mag es angemessener sein, eine solche Eichung zu postulieren als etwa bei Nietzsche, aus dessen Feder es zwar einerseits verstreute Bekenntnisse zu „Lehren" gibt, aber andererseits ebenso den Fundamentaleinwand: „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit."

Eine weitere Komplikation der Frage, von was für einem Subjekt wir reden, wenn wir von ‚Kant' oder ‚Nietzsche' reden, will ich hier nur streifen, ohne sie zu diskutieren: Schreibt man philosophische Propositionen einem bestimmten Subjekt zu, kann dies, wenn wir uns nicht mehr im Feld der philosophiehistorischen Rekonstruktion, sondern der philosophisch-systematischen Geltungsansprüche bewegen, zum Einen dazu dienen, eine Proposition zu beglaubigen, im Sinne eines ‚argumentum ad verecundiam': Weil Kant p gesagt hat, sollen wir p für wahr halten. Kant locutus, causa finita. Zum anderen kann dies aber auch geschehen, um eine Proposition in obliquer Distanzierung zu depotenzieren: Die Proposition p ist Kants Ansicht und bleibt (entgegen dem oft geltend gemachten Anspruch eines Philosophen, eben nicht nur seine persönliche Sicht der Wirklichkeit wiederzugeben, sondern zu sagen, wie die Wirklichkeit wirklich ist) eben nur seine persönliche Ansicht, bedingt durch die damaligen Zeit- und Denkumstände. Die Modellierung transzendentalpragmatischer Denker-Subjekte hat oft genug eigene ideenpolitische Implikationen.

Erdachte Denker-Subjekte

Das sieht man am besten daran, wie ‚Nietzsche' selbst oder besser: wie in Nietzsches Texten andere Philosophen thematisiert werden. Es gehört zu den eisernen Erkenntnisbeständen der Forschung zu ‚Nietzsche', dass das historische Subjekt dieses Namens nie ernsthaft und eigenständig die Schriften Kants oder Spinozas studiert hat, was dieses Subjekt als Autor aber nicht davon abgehalten hat, häufig auf Kant und Spinoza Bezug zu nehmen und dabei selbst wiederum intrikate Beziehung zwischen dem Leben der historischen Subjekte Kant und Spinoza sowie deren Denken, deren Denkformen und Denkinhalten, vor allem aber deren gedachten Propositionen – Lehren – herzustellen. Das historische Subjekt Nietzsche hat als denkendes und schreibendes Subjekt – dessen Produkte wir in Textgestalt vor uns haben – andere historische, transzendentalpragmatische Denker-Subjekte erschaffen, und zwar in zuspitzender, oft polemischer Absicht: Nietzsches Kant beispielsweise ist ein Monstrum, von ‚Nietzsche' erdacht oder erschrieben als Gegner, an dem man sich messen kann, um sich in ein ablehnendes Verhältnis zu setzen, während Spinoza von ‚Nietzsche' erdacht oder erschrieben wird als Pate eigener immoralistischer Einsichten. Der Philosoph spielt nicht ab-strakte, unpersönliche Propositionen gegen-einander aus, sondern personalisiert sie, um einen Waffengefährten oder einen Gegner zu haben: Historische, transzendentalpragmatische und posthum modellierte Denker-Subjekte dienen hier wesentlich der Agonalisierung des Denkens oder jenes Schreibens, das dieses Denken dokumentiert.

Streit um den „Willen zur Macht"

Diese Agonalisierung wirkt unter Nietzsche-Interpreten ansteckend. Ein Beispiel: Die Textisten rücken den Inhaltisten zu Leibe, indem sie deren privilegierte Textpassagen mi-nutiöser Lektüre unterziehen. Da wäre etwa Abschnitt 36 von Jenseits von Gut und Böse (JGB), der den Inhaltisten als locus probans für die von ‚Nietzsche' vorgeblich vehement vertretene Lehre vom ‚Willen zur Macht' gilt. Zuerst führen die Textisten textgeschichtliche Beobachtungen ins Feld, ziehen eine Vorarbeit zu JGB 36 heran, in der der im Drucktext dominant werdende „Wille zur Macht" noch überhaupt keine Rolle spielt, sondern stattdessen die Idee der ‚Ewigen Wiederkunft'. Eine erste Überarbeitung in Diktatform bleibt bei der kosmologischen Gedankenführung der ursprünglichen Aufzeichnung und deutet die „Welt" im Kontext der ‚Ewigen Wiederkunft' – die als „meine dionysische Welt" nicht nur „ohne Ziel", sondern auch explizit „ohne Willen" ist, während erst eine zweite Überarbeitung den „Willen zur Macht" hineinholt und mit der ‚Ewigen Wiederkunft' verknüpft. In JGB 36 entfällt schließlich die ganze Spekulation über die ‚Ewige Wiederkunft' und, wenigstens nominell, auch über das Dionysische: Die in der letzten Version der Vorarbeit versuchte Synthese der Theorieansätze ‚Ewige Wiederkunft'/‚Wille zur Macht' wird im Drucktext gerade nicht weiterverfolgt.

Soweit das textgeschichtliche Vorhut-Scharmützel der Textisten, die es damit aber nicht sein Bewenden haben lassen. Die Textisten vergleichen nun den letzten Schluss der Vorarbeit mit JGB 36 und heben den Modus-Wechsel hervor: Das Nachlassnotat setzt auf Verkündigung – Verkündigung dessen, was dem sprechenden „Ich" in seinem „Spiegel" als gegeben erscheint, dass nämlich „[d]iese Welt [...] der Wille zur Macht" ist „– und nichts außerdem!" Nicht nur der Indikativ, sondern ebenso der bestimmte Artikel vor dem „Willen zur Macht" lassen diese Aussage apodiktisch erscheinen. Hingegen schließt JGB 36, also der vom historischen Autorsubjekt schließlich durch den Druck autorisierte Text, mit einem Konditionalis und lässt den bestimmten Artikel weg, transponiert das Ganze also in das Sprachspiel wissenschaftlicher Hypothesenbildung: „Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist – gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – [...] – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intelligiblen Charakter' hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ‚Wille zur Macht ' und nichts ausserdem." Das Problem dieser Konditionalisierung, Hypothetisierung, ja Irrealisierung des Gedankens vom „Willen zur Macht" als Generalnenner der Welt besteht darin, dass die Folgerung tautologisch ist: Wenn man überall Wille zur Macht finden könnte, dann wäre es gerechtfertigt, die Welt als Wille zur Macht zu denken. Nur liefert JGB 36 schwerlich hinreichend Anhaltspunkte dafür, dass man tatsächlich überall und ausnahmslos den ‚Willen zur Macht' am Werk zu finden vermag: Empirisch ist die Hypothese nicht hinreichend validiert, so dass man in der Tautologie am Ende von JGB 36 womöglich weniger ein Bekenntnis zu einer Wille-zur-Macht-Ontologie vermuten sollte, als eine Form der Wissenschaftspersiflage mit ihrer zwanghaften Neigung zur Hypothesenbildung.

Auch die vereinten inhaltistischen Interpretationsanstrengungen contre texte können das Faktum nicht zum Verschwinden bringen, dass JGB 36 weder eine Generaltheorie noch eine verbindliche Verkündigung des ‚Willens zur Macht' als Weltformel bietet. Die vom historischen Subjekt Nietzsche für publikationswürdig erachteten Aussagen über den ‚Willen zur Macht' stehen unter Vorbehalt. Sie haben die Gestalt eines Denkexperiments.

Verheerende Effekte

Das schwere Geschütz, das die Textisten gegen die Inhaltisten auffahren, zeitigt verheerende Effekte. Was bleibt von Nietzsches Philosophie, wenn es sich verbietet, sie auf bestimmte Propositionen zu reduzieren und sich einfach noch zu fragen, wie diese Propositionen zueinander in ein begriffsstimmiges Verhältnis gesetzt werden können? Auch das in-haltistische Rückzugsgefecht, das historische Subjekt Nietzsche habe doch ausweislich seiner Selbstzeugnisse stets von sich selbst als Philosoph gesprochen, ebenso von seiner Phi-losophie als Gefüge bestimmter Propositio-nen, bietet nur eine schwache Gegenwehr: Denn warum sollte man ausgerechnet solche textlichen Hinterlassenschaften Nietzsches als authentische und unbedingt zu privilegierende Selbstzeugnisse ernst nehmen und nicht andere, mindestens ebenso prominent platzierte Texte, die „Überzeugungen", also für wahr gehaltene Propositionen, ausdrücklich als „Gefängnisse" diffamieren und einen rein instrumentellen Umgang mit ihnen propagieren? Läge es da nicht nahe, die mit Authentizitätsanspruch auftretenden Selbstbeschreibungen des Philosophen als Träger von Überzeugungen, von für wahr gehaltenen Propositionen, nicht als authentische Zeugnisse, als ipsissima testimonia philosophi, sondern vielmehr als strategische Verlautbarungen anzusehen – Überzeugungen als Mittel zu ganz anderen, im Dunkeln liegenden Zwecken?

Zumindest der orthodoxe Inhaltismus, der es sich sehr einfach macht mit der Identifikation des von ‚Nietzsche' eigentlich Gemeinten, hat unter dem Ansturm der textistischen Hardliner einen überaus schweren Stand. Sollte man beim Umgang mit dem unter Nietzsches Namen firmierenden Texten nicht besser ganz auf alle Extrapolationen verzichten, die ‚Nietzsche' direkt irgendetwas zuschreiben? Sollte man also prinzipiell Abstand nehmen von Formulierungen wie ‚Nietzsche hat gemeint, dass p', ‚Nietzsche ist der Überzeugung, dass q', ‚Nietzsche versucht p in die Tat umzusetzen' oder ‚Nietzsche will seine Leser von q überzeugen'? Was dann bliebe, wäre nicht das Schweigen über ‚Nietzsche', sondern die dichte Beschreibung, wie jeder einzelne Text verfährt, wie er funktioniert. Das in diesen Texten so häufig sprechende ‚Ich' wäre dann nicht mit Herrn Nietzsche gleichzusetzen, sondern als eine Figur im Text anzusprechen, die sich von anderen ‚Ichs' in anderen ‚Nietzsche'-Texten unterscheidet. Man würde ‚Nietzsche' also keine Philosophie zuschreiben, erst recht keine, die ‚bleibt', sondern sich damit begnügen, von so etwas wie ‚Textstrategien' zu reden. ‚Nietzsche' und sein ‚Ich' würden in skeptischer Epoché eingeklammert.

Gegen diesen orthodoxen Textismus wird allerdings der Einwand zu hören sein, damit werde die Frage nach dem Subjekt letztlich nur verschoben und statt des historischen transzendentalpragmatischen Denker-Subjekts werde nun einfach der Text zum Subjekt gemacht, dem quasi-personale Eigenschaften zugeschrieben würden: Der Text sei nun plötzlich handelnde Person, die bestimmte Strategien verfolge, etwas wolle oder etwas tue. Der Textismus habe selbst auch nur eine begrenzte Reichweite und sei pragmatisch nützlich für manche Formen der Auseinandersetzung mit ‚Nietzsche' – etwa für das Genre des Kommentars –, könne aber auch kein exklusives Geltungsrecht beanspruchen. Es ist nicht denknotwendig, anzunehmen, dass von ‚Nietzsche' nur eine Fülle von disparaten Texten mit jeweils ganz eigenen Textstrategien bleibe, aber nichts von ‚Nietzsches' Philosophie.

Eine Lösung

Eine Lösung, die die Bedenken der Textisten gegen die Inhaltisten ernst nimmt, zugleich aber die vollständige Auflösung der Philosophie Nietzsches in Texte verhindern will, könnte darin bestehen, den Begriff von Philosophie grundsätzlich zu überdenken. Philosophie müsste dann etwas anderes sein als ein Set von Überzeugungen, ein Korpus von wohlgesetzten und aufeinander abgestimmten Sätzen. Philosophie hat man – in Nietzsches Texten – immer nur als ein Philosophieren, als permanentes Fort- und Überschreiben einmal erreichter Standpunkte zur Hand, nicht als ein feststehendes Gefüge von Gedanken, ein wohlproportioniertes Gestell von Propositionen, sondern vielmehr als Prozess, als Bewegung. Dieses Philosophieren lässt sich weniger über Inhalte, eher über Verfahren beschreiben. Dann wäre ‚Nietzsches Philosophie' etwas viel Radikaleres als es viele nachgeborene Zunftgenossen zuzugestehen bereit waren. Sie konnten offensichtlich oft genug den Gedanken nicht ertragen, dass in den unter Nietzsches Namen firmierenden Werken Philosophie etwas gänzlich anderes ist als man das – trotz der experimentell-aporetischen Dialoge Platons – seit den Griechen oft anzunehmen geneigt war, eben ein Gefüge von mehr oder weniger kohärenten Sätzen, die irgendwelche Aussagen über das machen, was wir erkennen können, über das, was ist, sowie über das, was sein soll. Man kann nicht ausschließen, ja es gibt sogar gute textliche Gründe, zu mutmaßen, dass das historische Subjekt ‚Nietzsche' Philosophie in traditionellem Sinn machen wollte, mit Lehren, einem Gefüge von Sätzen, kurz: mit festem Inhalt. Aber widerfahren ist ‚ihm' – ist uns mit ihm in seinen Werken dann etwas anderes. Entstanden ist etwas, das sich fundamental von Philosophie im landläufigen Sinn unterscheidet. Eine erste Antwort auf die Frage, was von Nietzsches Philosophie bleibt, lautet also: ein Philosophieren, eine sich in Schreiben kristallisierende Denkpraxis, die sich aller festen Fügung, aller Hegung in letzten Propositionen verweigert.

Was bleibt von Nietzsches Philosophie?

Versteht man die Frage, was von Nietzsche bleibe, als Frage, was sich denn hinter und neben den Texten als Philosophie herausdestillieren lasse, kann man also antworten, es bleibe anstelle eines Sets von Propositionen, eines Systems von Lehren, eine philosophische Praxis, nämlich eine Denk- und Schreibpraxis permanenten Aufhebens und Überschreibens einmal aufgestellter Propositionen, einmal verkündeter Lehren. Die Leserin, der Leser ist bei der Lektüre der Texte in diesen Prozess, in diese Denk- und Schreibpraxis hineingenommen – und reagiert erfahrungsgemäß sehr verschieden: Eine große Zahl von ‚Nietzsche'-Rezipienten neigt dazu, es sich einfach zu machen und sich an die berühmt-berüchtigten Schlagworte zu halten, um von ihnen aus die eigene Lektüre auszurichten, Nietzsches Texte also gerade noch so weit zu Wort kommen zu lassen, als sie diesen Schlagworten Nahrung bieten. Andere Leserinnen und Leser sind bereit, sich der verstörenden Erfahrung genauen Lesens auszuliefern und damit von den Lehr-Gewissheiten Abstand zu nehmen, die man gemeinhin mit ‚Nietzsche' assoziiert. Solche Leserinnen und Leser, die ihren Weg unbegleitet (oder allenfalls unterstützt von einem Band des Historischen und kritischen Kommentars) suchen und gehen, treten ein in Nietzsches Denkbewegungen. Sie müssen die Frage danach, welcher Text in welcher Hinsicht bedeutsam ist, immer wieder neu stellen und beantworten – etwa auch die Frage, wie Nachlasstexte gegenüber Buchpublikationen zu gewichten sind. Die Leserinnen und Leser sind es, die Bedeutsamkeit festlegen.

Bei genauem, atemholendem Lesebemühen stellt sich der Eindruck ein, dass in Nietzsches Texten kaum etwas auf Anhieb so stimmig ist, wie es zunächst den Anschein gehabt hat. Deshalb pflegt man dem Denker ‚Nietzsche' entweder Widersprüchlichkeit und Unvermögen vorzuwerfen oder aber zu behaupten, all die Brüche, Dissonanzen, Probleme seien vom historischen Autorsubjekt ‚Nietzsche' genau so gewollt und ins Werk gesetzt worden. Aber dieses Entweder-Oder suggeriert eine falsche Alternative, zumal wir keinen Zugriff auf Nietzsches Innenleben haben, der uns hier eine Entscheidung zwischen den Deutungsoptionen erlaubte. Ohnehin ist niemand gezwungen, hier eine Entscheidung zu treffen, um für sich die Frage zu beantworten, ob von Nietzsches Philosophie noch etwas bleibt. Dafür reicht es aus, wenn die fraglichen Texte – gerade, wenn sie nicht stromlinienförmig organisiert sind – bei den Lesern philosophisches Nachdenken provozieren – ein Nachdenken, das besonders dann herausgefordert wird, wenn das Kohärenz-Versprechen der Texte ebenso wenig eingelöst wird wie das Versprechen definitiver Lehren. Die historische Person Nietzsche hat vielleicht von seiner Philosophie gedacht, sie sei ein in sich stimmiges Gefüge von Lehren, also etwas recht Traditionelles. Aber selbst wenn dem so wäre, könnten wir die Philosophie Nietzsches und das daran Bleibende heute ganz woanders suchen als es die historische Person Nietzsche möglicherweise intendiert hat – nämlich genau da, wo es nicht aufgeht. Ob aus Berechnung oder aus Nachlässigkeit, kann uns egal sein. Die Autorintention tut nichts zur Sache, wenn man nach dem Bleibenden von Nietzsches Philosophie fragt.

Seine Texte sind so verfasst, dass sie uns hochgradig herausfordern und irritieren. Mit zunehmender historischer Distanz zu Nietzsches Zeit verstärkt sich dieser Irritationseffekt noch, weil damalige Diskurs-Selbstverständlichkeiten sich in der Zwischenzeit verflüchtigt haben: Zu Nietzsches Zeit besetzten beispielsweise radikal antidemokratische und radikal antiegalitäre Optionen durchaus noch ein breites Diskussionsfeld, während sie heute trotz aller rechtspopulistischen Schaumschlägerei weitgehend verdrängt und geächtet sind. Nietzsches Texte wirken auf uns noch fremder als sie auf seine Zeitgenossen gewirkt haben müssen. Und gerade dadurch wirken sie. Diese Texte werfen uns aus der Bahn. Sie zwingen uns, uns selbst neu zu bestimmen – sie zwingen uns zum Philosophieren.

Nietzsches Texte weisen in unterschiedlichste Richtungen, woraus sich eine unendliche Fülle möglicher Kombinationen und Interpretationen ergibt. Das macht sie unerschöpflich attraktiv für die Nachwelt und verlockt zu wilder Vermischung unterschiedlichster Nietzsche-Zitate. Der Nietzsche-Kommentar zügelt solche Zitatenkabbalistik, indem er auf den Text, seine innere Logik und Abfolge verpflichtet. Es sind, auch bei ‚Nietzsche', nicht alle Interpretationen möglich. Aber doch immer noch zahlreiche genug, um das dauerhafte Interesse an seinem Philosophieren zu sichern. Seine Philosophie öffnet Denkräume, während andere Philosophien Denkräume vermessen und schließen. Die Vielfalt seiner Stimmen ist atemberaubend und nicht auf eine ipsissima vox reduzierbar.

‚Nietzsches Denken', sedimentiert in seinen Schriften, ist situativ; es reagierte im späten 19. Jahrhundert auf alle möglichen situativen Herausforderungen. Und es bleibt reaktiv bis in die Gegenwart. ‚Nietzsches Denken' ist agonal und polemogen – es missachtet souverän alle intellektuellen Pazifizierungsangebote, mit denen philosophische Zunftgenossen aufzuwarten pflegen. ‚Nietzsches Denken' ist hochgradig instabil und lässt tausend Hintertüren für eine große Zahl von Interpretationen und Adaptionen offen. Es widersetzt sich dem unter Philosophen sonst populären Zwang zu Eindeutigkeit und ist ein Lackmustest für den Stand geistiger Freiheit und geistiger Individualisierung: Wie viel ‚Nietzsche' ist möglich und erträglich für eine Gesellschaft? Wie viel Fundamentalwiderspruch kann sie dulden?

Nietzsches Texte propagieren eine neue philosophische Praxis. ‚Nietzsches' philosophische Praxis können wir nicht imitieren. Aber als Nietzsche-Leser wird man zu einer eigenen philosophischen Praxis gezwungen, zu einer eigenen Praxis, die eine spezifische Reaktion auf das Gelesene ist. Die philosophische Denk- und Lebensform ergibt sich nicht aus der Nachahmung, sondern als Reaktion auf das außerordentlich Irritierende von Nietzsches Texten. Deren Potenz liegt nicht in einem besonders erhabenen oder ausgefeilten Theoriegebäude, sondern in ihrer Zersetzungskraft. Diese Zersetzungskraft rückt den Selbstverständlichkeiten abendländischer Moral- und Weltanschauungskonsense auf den Pelz. Auch das bleibt von Nietzsches Philosophie.

UNSER AUTOR:

Andreas Urs Sommer ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (Akademieprofessur) und ist Leiter der dortigen Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Dem Text liegt die Antrittsvorlesung an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zugrunde. Eine wesentlich ausführlichere Fassung (mit sämtlichen Nachweisen) ist 2018 erschienen unter dem Titel „Was bleibt von Nietzsches Philosophie?" als Band 19 der Reihe „Lectiones Inaugurales" im Verlag Duncker & Humblot, Berlin (ISBN 978-3-428-15429-6, eBook 978-3-428-55429-4).