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Redefreiheit in Siegen: Polizisten sichern eine philosophische Veranstaltung

aus: Heft 1/2019, S. 105-108

„Nicht überall herrscht zu Weihnachten Frieden. Nicht in Nahost, nicht in der Ukraine, und auch nicht an der Universität Siegen", schrieb der Focus-Journalist Ulrich Reitz am 18. Dezember 2018. Grund für diesen Unfrieden ist die Unruhe, welche die Einladung von Dieter Schönecker an Marc Jongen und Thilo Sarrazin an ein Seminar über Redefreiheit ausgelöst hatte und über Siegen hinaus zu einem Politikum wurde.

Im November hatte Dieter Schönecker mit einem nichtöffentlichen Seminar „Denken und Denkenlassen. Zur Philosophie und Praxis der Redefreiheit" begonnen. Er setzte mit dem Text Über die Freiheit von John Stuart Mill ein. Mill plädiert in dem Text dafür, so erläutert Maria Sybilla-Lotter in der Zeit, „das Unbehagen und die Verletzbarkeit durch empörende Meinungen auszuhalten, zum einen, weil sie den eigenen Horizont erweitern, zum anderen, weil sie einen nötigen, die eigene Meinung zu begründen – und einen merken lassen, wo solche Gründe fehlen". Um auszuloten, wo es solche Grenzen gibt, sollten sechs interne und externe Redner einen Beitrag lei-sten. Schönecker schrieb dazu im Ankündigungstext: „Ein wesentlicher Teil des Seminars ist eine Vorlesungsreihe, in der auch dezidiert konservative oder rechte Denker teilnehmen werden (u. a. Sarrazin und Jongen)". Schönecker hatte nicht nur die beiden Genannten eingeladen, sondern auch eher linke Professoren, die aber, als sie die Namen Jongen und Sarrazin hörten, absagten. Marc Jongen ist ein Philosoph, Schüler Sloterdijks, er war an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe tätig und ist gegenwärtig Bundestagsabgeordneter der AfD. Vorsichtigerweise war geplant, dass deren Redemanuskripte vorab im Seminar gelesen werden, „nicht zuletzt um auszuschließen, dass die Redner den Vortrag zu anderem nutzen als zur Debatte über die Grenzen der Redefreiheit".

Auf den Protest des AStA hin distanzierte sich die Universität von der Veranstaltung, und die Fakultät strich die Mittel dafür (laut Focus waren 500 Euro pro Referent dafür vorgesehen) mit der Begründung, dass „die Einbindung von Jongen und Sarrazin unweigerlich eine politische Botschaft enthalte, die gegen die Grundwerte der Universität Siegen verstoße". Denn, so argumentiert der Dekan Niels Werber, mit der Ankündigung, dass auch „dezidiert konservative oder rechte Denker" teilnehmen werden, würden Jongen und Sarrazin nicht als Experten auf dem Gebiet der Redefreiheit, sondern als „dezidiert rechte Denker" eingeladen: „'Dezidiert rechts zu sein' ist aber keine wissenschaftliche Qualifikation, sondern eine politische". Die Fakultät wolle damit verhindern, dass aus ihren Mitteln Honorare und Spesen an Parteipolitiker und Funktionäre fließen. „Denn", so argumentiert der Dekan, „machte man aus diesem Fall eine Maxime für alle, dann wäre eine Politisierung der Lehre in dem Sinne zu befürchten, dass es dann Seminare mit ‚dezidiert konservativen oder rechten' Politikern oder ‚Denkern' gäbe und andere mit ‚dezidiert' linken, liberalen, grünen oder christlichen Politikern." Die Folge wäre, so der Dekan weiter, dass sich die Studierenden überlegen müssten, ob sie ihre Studienleistungen lieber in Seminaren mit dezidiert linken bzw. dezidiert rechten Politikern erwerben wollten.

Schönecker ließ sich dies nicht gefallen, sondern beschwerte sich bei der Universitätsleitung und brachte die Sache an die Öffentlichkeit. Die Pressestelle der Universität brachte daraufhin eine offizielle Stellungnahme. Die Universität, hieß es darin, begrüße es, „wenn sich ihre Angehörigen auf wissenschaftlicher Basis auch mit politisch umstrittenen Positionen und Meinungen auseinandersetzten". Die Universität sei „aber in Forschung und Lehre zu politischer Neutralität verpflichtet. Diese ist jedoch durch die einseitige Einbindung von Politikern und Denkern in eine Lehrveranstaltung leider nicht gegeben". Des weiteren monierte die Universität, dass den beiden Honorare versprochen worden seien, was nicht üblich sei und ein falsches Signal bedeute. „Für die Finanzierung des Seminars stehen Prof. Schönecker selbstredend seine frei verfügbaren Mittel zur Verfügung, nicht aber zusätzliche Mittel der Fakultät. Die Universität distanziert sich klar und eindeutig von den politischen Auffassungen von Dr. Marc Jongen und Dr. Thilo Sarrazin. Die Universität wendet sich ausdrücklich gegen jede Form von Fremdenfeindlichkeit und Extremismus."

 

Die wissenschaftlichen Mitarbeiter(innen), Doktorand(inn)en und Habilitand(inn)en des Lehrstuhls von Dieter Schönecker veröffentlichten ihrerseits eine Stellungnahme. Darin wenden sie sich gegen die Unterstellung, „er halte das Schild der Liberalität nur pro forma hoch, um seine eigene, rechtsgetränkte politische Gesinnung damit zu kaschieren und zu legitimieren; in Wahrheit sympathisiere er mit der AfD, Rechtspopulisten, Rassisten usw.". Als langjährige Mitarbeiter und durch verschiedene Gespräche seien sie „sehr gut vertraut mit der rechtsphilosophischen Position unseres Doktorvaters und Chefs" und hätten „keinen Zweifel, dass seine politische Einstellung tatsächlich liberal ist." Bei der umstrittenen Einladung gehe es „allein darum, dass auch umstrittene Positionen Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs finden können und müssen – und sei es, um sie zu widerlegen."

Doch nicht alle setzten sich für Dieter Schönecker ein – die Professoren des Instituts haben die Stellungnahme nicht unterzeichnet. Marion Heinz, Stephan Nachtsheim und Richard Schantz – früher am Institut tätige Professoren – kritisierten ihrerseits in einem offenen Brief die Konzeption des Seminars. Es gehe nicht, wie behauptet werde, um Redefreiheit, die von der Universität eingeschränkt werde, sondern „um die Kriterien für eine reguläre philosophische Lehrveranstaltung". Bereits der Ankündigungstext der Veranstaltung verlasse die Ebene philosophischer Befassung, in der es darum gehe, „allgemeingültige Kriterien für die Beurteilung von Zwecken und Handlungen zu erarbeiten und deren Begründung kritisch zu diskutieren". Im Ankündigungstext hingegen hieß es: „Sollte es Grenzen [der Redefreiheit an Universitäten] geben, und wenn, wo liegen diese? Darf man Personen wie Thilo Sarrazin einladen oder wie Marc Jongen (MdB, AfD)?" Damit, so die Unterzeichner, „wird bereits die Karte einer unterstellten Nicht-Redefreiheit ausgespielt; das Seminar selbst wird zugleich als Exempel praktischer Durchsetzung von Redefreiheit deklariert, indem genau die unter dem Gesichtspunkt möglicher Einschränkungen von Redefreiheit in ihrer politischen Positionierung charakterisierten Personen als Gastredner eingeladen werden." Für die Universität müsse problematisch sein, dass „politische Kriterien für die Auswahl der Redner genannt werden – und nicht deren wissenschaftliche Expertise. Dass die Redner auf das Thema „Redefreiheit" verpflichtet würden, könne nicht überzeugen. Sie seien keine Experten für das Thema, vielmehr könnten sie ihre politische Sicht als vermeintlich durch derartige Einschränkungen Betroffene im Seminar zur Sprache bringen. Mit der Vorgabe des Themas Meinungsfreiheit für die Redner sei also keineswegs sichergestellt, dass den Studierenden wissenschaftliche Beiträge geboten werden: „Allein darum geht es."

Dieter Schönecker wehrte sich in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine: Es sei „inkonsistent, universitäre Vorträge von Rechten zu verhindern, die von Linken aber nicht". Viele seiner Kolleg(innen) verträten radikale Positionen zu den Themen offene Grenzen, Rassismus, Kolonialismus Geschlechterforschung und hätten entsprechend eingeladen. „An meiner Universität hat es jahrelang ein von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziertes Graduiertenkolleg gegeben. Vor kurzem war Sahra Wagenknecht, deren Positionen für einen Liberalen nicht weniger extrem sind als die Jongens für eine Universalistin, zu einem Vortrag bei uns eingeladen. Sicher darf man sie einladen, aber dann auch Jongen. Die Redefreiheit wird von denen selbst in Anspruch genommen, die sie anderen streitig machen. Darin steckt ein Widerspruch." Für Schönecker besteht „der Witz an der Meinungsfreiheit darin, dass man aushält, dass Andere andere Meinungen haben, und die Begriffe, die dann ins Spiel kommen, nicht so eng definiert, dass man alle Leute, die einem politisch nicht passen, von vornherein ausschließt."

Die Universität schreibt zu diesem Vorwurf, Sahra Wagenknecht sei im Rahmen der öffentlichen Vortrags- und Diskussionsreihe „Franz Böhm Kolleg" zu Gast gewesen, sie habe aber nicht an Veranstaltungen der grundständigen Lehre teilgenommen und habe von der Universität kein Honorar erhalten.

Schönecker bat nun, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet, die Deutsche Gesellschaft für Philosophie um Schutz. Laut der Frankfurter Allgemeinen diskutierte die DGPhil das Thema intern, verweigerte aber anschließend eine Stellungnahme, auch nicht auf Nachfrage der Zeitung. Dazu die FAZ (5. Dezember 2018): „Es bleibt ein komisches Bild der Philosophie: Denken als Betriebsgeheimnis. Urteilsvermögen: keines."

Schönecker setzte nun durch, dass sowohl Jongen (am 20. Dezember) als auch Sarrazin (am 10. Januar) im grundständigen Lehrseminar „Denken und denken lassen" sprechen konnten; an der Veranstaltung mit Jongen (die nun offenbar öffentlich war) nahmen an die 170 Personen teil. Der Rektor verteidigte seine Erlaubnis: „Im fünften Artikel des Grundgesetzes steht die Freiheit von Forschung und Lehre. Auch solche Veranstaltungen sind dort eingeschlossen, deshalb will ich sie ermöglichen." Während der Veranstaltung protestierten an die 80 Studierende gegen das Auftreten Jongens: „Rassismus und Diskriminierung ist keine Meinungsäußerung, es ist ein Verbrechen. Es ist dies eine Ideologie, die nicht weiterverbreitet werden sollte und gerade eine Universität sollte sich dabei nicht mitschuldig machen", argumentierte eine Studentin im Westdeutschen Rundfunk. Gesichert wurde die Veranstaltung von einer Hundertschaft der Polizei.

Doch was führte Jongen in seinem Vortrag „Vom Free Speech zum Hate Speech – auch eine Dialektik der Aufklärung" aus? Thomas Thiel von der Frankfurter Allgemeinen hat die Veranstaltung besucht und berichtet in der Ausgabe vom 22. Dezember 2018 darüber. Interessanterweise war der Rektor, Holger Burkhardt, persönlich anwesend und sagte: „Es ist eine wichtige Veranstaltung". „Kaum zu glauben", notiert dazu Thiel. Jongen spricht über das Idealbild der Universität als Stätte des Austauschs von Argumenten. In der Gegenwart sei dieser Austausch jedoch zur Förderung eigener Interessen mutiert. Eine selbstermächtigte Gesinnungsjustiz lege „das Sagbare nach dem variablen Maßstab der Gruppenzugehörigkeit und der selbstlosen oder angemaßten Anwaltschaft für Minderheiten fest". Gekonnt schloss Jongen seine Rede mit einem Hinweis auf die von den linken Studierenden geschätzte Judith Butler. Diese habe das Redeverbot zu Recht als Instrument des Totschweigens verurteilt. Doch Butler sei es gewesen, die seinen Vortrag am New Yorker Bard College habe verhindert wollen.

Thilo Sarrazin sprach am 10. Januar 2019 über „Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland". Zudem hielt er am Abend eine öffentliche Lesung aus seinem neuen Buch in der Bismarckhalle.

In einem Beitrag in der Zeit vom 12. Dezember kritisierte darauf die in Bochum lehrende Ethikerin Maria-Sybilla Lotter das Vorgehen der Universität: „Es ist eine Grundsatz-Frage, wie man Andersdenkende behandelt. Ob man sie als Gegner im Duell anerkennt – wie es in der Bundesrepublik früher üblich war, man denke an die Auseinandersetzungen zwischen Wehner und Strauß, zwischen Habermas und Ernst Nolte während des Historikerstreits – oder ob man sie als nicht satisfaktionsfähig ausgrenzt."

Auch in den anderen Medien stieß das Vorgehen der Universität auf Kritik: „Seien wir froh, dass es eine Menge Wissenschaftler in Deutschland gibt, die die grassierende amerikanische Untugend, im Namen persönlicher ‚Schutzräume' die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zu beschränken, nicht mitmachen wollen" schrieb Ulrich Reitz im Focus (18. Dezember 2018). Die „Deutsche Gesellschaft für Philosophie" will das Thema weiterverfolgen und lädt zum 23.-24. April 1919 zu einer Tagung „epistemische offenheit als wagnis?" nach Bielefeld.
http://uni-bielefeld.de/philosophie/wissen schaftsfreiheit/9
Siehe hierzu das Interview mit Dieter Schönecker auf S.124 ff.