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ESSAY

Zoglauer, Thomas: Der Mythols des moralisch Gegebenen. Eine Kritik

Aus: Heft 3/2019, S. 8-16

 

Das Wahrnehmungsmodell moralischen Wissens

In der Metaethik erfährt das „Wahrnehmungsmodell moralischen Wissens" zur Zeit große Aufmerksamkeit. Dieses Begründungsmodell moralischer Urteile wird u. a. von David McNaughton (19), Robert Audi (1), Robert Cowan (6) und Andrew Cullison (7) vertreten. Es postuliert ein besonderes Erkenntnisvermögen, das man als Intuition oder moralische Wahrnehmung bezeichnen kann. Es wird behauptet, dass man unmittelbar sehen oder fühlen könne, dass eine bestimmte Handlung moralisch falsch ist. Gilbert Harman erläutert das Prinzip moralischer Wahrnehmung an einem Beispiel (14, 5): Angenommen, Sie sehen, wie eine Gruppe Jugendlicher eine Katze fängt, Benzin über sie gießt und anzündet. Jeder Beobachter würde hier sagen, dass dies grausam und moralisch verwerflich ist. Auf die Frage, warum dies moralisch falsch ist, würde man wohl die folgende Antwort erhalten: „Das sieht man doch, dass dies moralisch falsch ist." Das moralische Urteil bildet sich als unmittelbare intuitive Reaktion auf das beobachtete Geschehen. Es hat nicht-inferentiellen Charakter, da es nicht auf andere Urteile zurückgeführt werden kann, selbst aber wiederum den Ausgangspunkt für moralische Schlüsse bildet.

Benedict Smith bezeichnet die Annahme nicht-inferentiellen moralischen Wissens in Analogie zu Sellars' Kritik an der Sinnesdatentheorie als „Mythos des moralisch Gegebenen" (25). Denn diese Annahme wirft eine Reihe kritischer Fragen auf: Gibt es überhaupt so etwas wie moralische Intuition bzw. Wahrnehmung und stellt sie eine zuverlässige Quelle moralischen Wissens dar? Wie können unterschiedliche Beurteilungen desselben Sachverhalts ausgeschlossen werden? Fließt in die moralische Urteilsbildung ein Hintergrundwissen ein oder wird das Urteil allein aufgrund von Beobachtung ohne Beteiligung moralischer Regeln und Prinzipien gefällt? Ich werde im Folgenden McNaughtons und Audis Theorie moralischer Wahrnehmung vorstellen und die zentralen Kritikpunkte erläutern.

Das Wahrnehmungsmodell moralischen Wissens stellt eine Spielart intuitionistischer Ethik dar. Der Intuitionismus, wie er von G.E. Moore und W. D. Ross vertreten wird, führt moralische Urteile auf ein unmittelbar evidentes Wissen von Gut und Böse zurück. Man kann eine rationalistische und eine empiristische Variante des Intuitionismus unterscheiden. Der rationalistische Intuitionismus versteht Intuition als ein intellektuelles Vermögen, das wie eine Ideenschau auf moralische Prinzipien gerichtet ist, die nicht-inferentiell erkannt werden. Für den empiristischen Intuitionismus ist dagegen die Wahrnehmung die Basis und Quelle moralischen Wissens.

Audis Theorie moralischer Wahrnehmung

Audis Intuitionismus kombiniert rationalistische und empiristische Merkmale: Ethische Intuition ist für ihn eine Art intellektuelle Wahrnehmung, die auf Objekte, Begriffe und Eigenschaften gerichtet ist. Das moralische Wissen entsteht als unmittelbare Reaktion auf die Wahrnehmung. Timothy Chappell (5) wiederum erklärt moralische Wahrnehmung in Analogie zur Mustererkennung und Gestaltwahrnehmung. Die moralischen Eigenschaften einer Handlung bilden ein Muster, das wir genauso wie Sternbilder anhand der Konfiguration und Lage einzelner Sterne erkennen können.

Manchmal werden moralische Eigenschaften auch als sekundäre Qualitäten gedeutet. Der Vergleich moralischer Eigenschaften mit sekundären Qualitäten geht auf John McDowell zurück (17). So wie für einen idealen Beobachter ein roter Gegenstand unter normalen Bedingungen rot erscheint, so ist eine gute Tat für jeden Beobachter moralisch gut. Moralische Eigenschaften existieren demnach nicht unabhängig von unserer Wahrnehmung in der Welt, sondern existieren in der Wahrnehmung eines Objekts durch einen Beobachter. Sie sind Dispositionen, die in jedem Beobachter eine bestimmte Reaktion auslösen.

David McNaughton (19, 104) und Robert Audi (2, 24) verbinden die Theorie moralischer Wahrnehmung mit einem moralischen Realismus: Durch die Wahrnehmung habe man einen direkten epistemischen Zugang zu einer moralischen Realität, die unabhängig von subjektiven Ansichten existiert. Demnach könne man Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gut und Böse direkt wahrnehmen und bedarf keiner Schlüsse oder Überlegungen. Dennoch ist nach Audis Meinung seine Theorie mit einem Naturalismus verträglich: Zwar sind moralische Eigenschaften keine natürlichen Eigenschaften: sie existieren nicht in der Welt und entfalten keine kausalen Kräfte. Aber sie beruhen auf wahrnehmbaren Eigenschaften, die Teil der natürlichen Welt sind und im Beobachter Reaktionen auslösen können.

Ein Beobachter nimmt ein Geschehen wahr und bildet daraus ein Urteil. Das Urteil ist der Wahrnehmung nachgeordnet (3, 707). Robert Audi erläutert dies an folgendem Beispiel (1, 61): Wenn wir sehen, wie ein Mann seine Frau schlägt, dann erkennen wir sofort, dass er ihr Unrecht tut. Nach Audi ist dies ein nicht-inferentielles Wissen auf der Basis unserer Wahrnehmung. Betrachten wir Harmans Katzen-Beispiel: Was macht die grausame Verbrennung einer Katze moralisch verwerflich? Für Audi beruht die moralische Qualität einer Handlung auf wahrnehmbaren nicht-moralischen Eigenschaften, die er Basiseigenschaften (base properties) nennt. Diese Basiseigenschaften sind moralisch relevant. Ob eine Eigenschaft moralisch relevant ist, hängt von den Umständen, der Situation und vom Handlungskontext ab. Unterschiedliche Situationen, auch wenn sie sich in nur einem Detail unterscheiden, können völlig unterschiedliche moralische Beurteilungen ergeben. Moralische Urteile sind daher in einem hohen Maße kontextsensitiv. Sie kommen ohne Regeln und Prinzipien aus. Denn Regeln verallgemeinern und behandeln unterschiedliche Fälle gleich. Moralische Wahrnehmung betrachtet dagegen nur die konkrete Situation. Man muss die besonderen Eigenschaften der Situation erkennen und wissen, welche Eigenschaften moralisch relevant sind. Auf den engen Zusammenhang zwischen moralischer Wahrnehmung und partikularistischer Ethik weisen David McNaughton und Lawrence Blum hin.

 

Der Partikularismus geht von einem extremen Handlungsindividualismus aus, bei dem nur die individuelle Handlung zu betrachten ist und keine Generalisierungen in die Beurteilung eingehen dürfen. Als zentrales Argument führt Jonathan Dancy den Holismus der Gründe an (8, 73 f.). Dieses Prinzip besagt, dass ein Grund, der in einem Kontext für eine Handlung spricht, in einem anderen Kontext gegen die Handlung sprechen kann. Man muss daher alle Aspekte einer Handlung berücksichtigen und kann keine allgemeinen Regeln aufstellen, weil jeder einzelne Fall gesondert betrachtet werden muss. Regeln sind lediglich von heuristischem Wert: sie stellen nützliche Abstraktionen dar, die Orientierung bieten, aber keine eingehende Einzelfallbetrachtung ersetzen können.

Die Betonung der Kontextsensitivität moralischen Urteilens ist zweifellos eine der Stärken des Wahrnehmungsmodells und zeigt gleichzeitig eine Schwäche der regel- und prinzipienbasierten Ethik auf. Denn jede Regel hat Ausnahmen. Wollte man die Ausnahmen selbst wieder unter eine Regel bringen, würde man sich in einen infiniten Regress verstricken, da auch Ausnahmeregeln Ausnahmen haben können. Zudem können sich Regeln widersprechen. In einem moralischen Dilemma kann eine Regel eine bestimmte Handlung gebieten, eine andere Regel aber verbieten. Man weiß also nicht, wie man sich verhalten soll. Die moralische Wahrnehmung zeigt einen Ausweg aus dem Dilemma auf, indem man die partikuläre Situation betrachtet und auf dieser Grundlage ein Urteil fällt.

Das Trolley-Problem

In den letzten Jahren wurde ausführlich untersucht, wie Menschen sich bei moralischen Dilemmata verhalten und welche Entscheidungen sie dabei treffen. Ein vieldiskutiertes Beispiel stellt das bekannte Trolley-Problem dar (26, 71 ff.): Die Bremsen einer Straßenbahn versagen auf einer abschüssigen Strecke. Vor dem Wagen befinden sich fünf Menschen auf dem Gleis, die sich nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen können und sterben müssen, wenn die Straßenbahn nicht aufgehalten werden kann. Vor den menschlichen Hindernissen zweigt ein Gleis nach rechts ab, so dass der Fahrer die Bahn auf das rechte Gleis lenken kann. Unglücklicherweise befindet sich aber auch auf diesem Gleis eine Person. Die Frage lautet nun: Was soll der Straßenbahnfahrer tun? Lenkt er die Straßenbahn nach rechts, wird dadurch ein Mensch getötet, aber fünf Menschen werden gerettet. Bleibt er untätig, fährt die Bahn ungebremst weiter und überrollt fünf Menschen. Hält man sich die Situation vor Augen, würden die meisten Menschen die Straßenbahn nach rechts ablenken, weil dadurch mehr Menschen gerettet werden können und der Tod des einen als kleineres Übel in Kauf genommen werden muss.

In einem anderen Szenario rast eine führerlose Straßenbahn wieder ungebremst einen Hang hinab. Und wieder befinden sich fünf Personen auf dem Gleis, deren Leben bedroht ist. Doch diesmal gibt es kein Ausweichgleis. Aber eine Fußgängerbrücke führt über die Gleise, auf der ein dicker Mann steht. Würden Sie den dicken Mann über die Brücke stoßen, damit er vor die Straßenbahn fällt und sie wie ein Bremsklotz zum Halten bringt? Fünf Menschenleben könnten dadurch gerettet werden, leider kommt der dicke Mann dabei ums Leben. Wieder stehen fünf Menschenleben gegen eines. Aber in diesem Fall hält uns unsere moralische Intuition davor ab, den dicken Mann zu töten, um fünf Menschen zu retten.
Umfragen zeigen, dass im 1. Fall 94 % der Befragten die Opferung eines Menschen in Kauf nehmen würden, um das Leben der fünf anderen zu retten. Im 2. Fall sind nur 10 % der Befragten bereit, den dicken Mann von der Brücke zu stürzen (20, 146). Den meisten Menschen fällt es schwer, ihre Entscheidung zu begründen. Und auch moralische Regeln wie das Nicht-Schädigungs-Prinzip und das Prinzip der Doppelwirkung helfen hier nicht weiter (26, 79). Dieses Beispiel scheint zu bestätigen, dass es so etwas wie eine moralische Intuition gibt, die sich durch die Betrachtung des konkreten Falls ein Urteil bildet.

Allerdings ist die Intuition nicht bei allen Menschen gleich, wenngleich sich tatsächlich oft erstaunliche Übereinstimmungen zeigen. In der experimentellen Moralpsychologie hat man die moralische Urteilsbildung genauer untersucht und gelangte zu folgenden Ergebnissen: Wie man sich in einer dilemmatischen Situation entscheidet hängt wesentlich davon ab, welche moralischen Regeln kognitiv präsent sind (priming effect) (4). Das Resultat der Überlegungen lässt sich dadurch beeinflussen, welche Informationen man den Probanden gibt, bevor man ihnen das Trolley-Dilemma vorlegt. Ferner wurde untersucht, wie die in Frage stehenden Handlungen mental repräsentiert werden und nach welchen Handlungstypen sie kategorisiert werden. Von diesen mentalen Repräsentationen hängt es nämlich ab, zu welchem Urteil die Versuchspersonen gelangen. Nach John Mikhail (20) sind die entscheidenden Kategorien Schaden, Nebenwirkungen und Zweck-Mittel-Relationen. Walter Sinnott-Armstrong (24) weist zudem auf Framing-Effekte bei der Urteilsbildung hin: Je nachdem, wie eine Situation oder Handlung sprachlich beschrieben wird oder in welchem Kontext sie steht, kann das moralische Urteil unterschiedlich ausfallen. Daraus folgt, dass moralische Intuitionen sehr stark von Randbedingungen abhängen. Ferner gehen moralische Regeln und kognitive Verallgemeinerungen bereits bei der Betrachtung des Einzelfalls ein, weshalb individuelle Handlungen nicht isoliert von ihnen beurteilt werden können. Auch wenn die meisten Menschen moralische Urteile nicht bewusst aufgrund von Regeln und Prinzipien fällen, so können Prinzipien wie z. B. das Prinzip der Doppelwirkung sehr wohl unbewusst eine Rolle spielen und entscheidungsleitend wirken (20). Wenn aber moralische Intuitionen von kognitiven Faktoren und nicht allein von der Wahrnehmung abhängen, dann sind sie subjektiv und unzuverlässig und als Grundlage für die Urteilsbildung nicht geeignet.

Neben diesen moralpsychologischen Überlegungen und Experimenten gibt es aber auch noch eine ganze Reihe anderer Kritikpunkte, die das Wahrnehmungsmodell in Frage stellen. Die zentrale Frage lautet nämlich, ob es überhaupt etwas „moralisch Gegebenes" gibt, das man wahrnehmen kann, um davon ausgehend zu einem Urteil zu gelangen.

Kritik am Wahrnehmungsmodell

Es liegt der Verdacht nahe, dass diese Theorie einen naturalistischen Fehlschluss begeht, indem sie von wahrnehmbaren Tatsachen moralische Urteile ableitet oder aber auf unzulässige Weise Sein und Sollen, Tatsachen und Werte vermischt. Im Fall von Harmans Katze ist die Tat an sich moralisch verwerflich. Aus dem Tatgeschehen allein folgt ohne zusätzliche normative Annahmen aber nicht, dass es moralisch falsch ist. Die Frage, warum es moralisch falsch ist, eine lebende Katze mit Benzin zu übergießen und anzuzünden, kann nicht beantwortet werden und bleibt somit eine offene Frage.

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Möglichkeit moralischer Meinungsverschiedenheit. Es kommt häufig vor, dass verschiedene Menschen unterschiedliche moralische Einstellungen haben und somit ein Geschehen, auch wenn alle dasselbe sehen, unterschiedlich beurteilen. Die moralischen Wahrnehmungen zweier Personen müssen daher nicht übereinstimmen. Die Erklärung solcher Meinungsverschiedenheiten stellt das Wahrnehmungsmodell vor erhebliche Probleme. David McNaughton setzt daher einen idealen Beobachter voraus, der das Geschehen unvoreingenommen bewertet (19, 74 ff.). Auf diese Weise könnten Diskrepanzen ausgeräumt werden. Eine Handlung wäre dann moralisch richtig, wenn sie von einem idealen Beobachter gebilligt wird. Audi setzt – ähnlich wie McNaughton – eine epistemische Gleichheit (epistemic parity) der Beobachter voraus (1, 76): Sie müssen gleichermaßen rational urteilen und über dieselben Evidenzen verfügen. Auf diese Weise werden jedoch eine Reihe idealisierender Bedingungen eingeführt, die über eine empiristische Wahrnehmungstheorie hinausgehen. Moralische Urteile können demnach nicht allein aufgrund von Wahrnehmungen gefällt werden, sondern bedürfen rationalistischer Zusatzannahmen. Nach Audi sollte die Urteilsbildung eine direkte und unmittelbare Reaktion auf die Wahrnehmung sein, die bei jedem Beobachter dieselbe moralische Reaktion auslöst. Dies ist allerdings nur unter idealen Bedingungen der Fall.

Gilbert Harman bringt das Argument der Theoriengeladenheit ins Spiel (14, 5): Jede Wahrnehmung, insbesondere das Erkennen von Objekten, beruht auf der Fähigkeit, das Wahrgenommene begrifflich zu klassifizieren und in einen Kontext von Hintergrundwissen einzuordnen. Wenn wir eine brennende Katze sehen, wissen wir, was eine Katze ist und welche Schmerzen es für sie bereitet, wenn sie angezündet wird. Zudem haben moralische Begriffe wie richtig oder falsch, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, nur im Kontext einer ethischen Theorie eine Bedeutung. Ein moralisches Urteil kann daher nur unter Beteiligung einer ganzen Reihe von Zusatzannahmen gefällt werden und nicht allein aufgrund der Wahrnehmung.

Zudem ist das Wahrnehmungsmodell moralischen Wissens weder mit einer Kant'schen Pflichtenethik noch mit konsequentialistischen Ethiktheorien vereinbar. Moralische Regeln und Prinzipien sowie die Motive der Handelnden spielen in diesem Modell für die moralische Bewertung keine Rolle. Und es wird nur die aktuelle Handlung, aber es werden nicht deren Folgen beurteilt. Dies spricht zwar nicht grundsätzlich gegen das Wahrnehmungsmodell, zeigt aber, dass es in der Landschaft ethischer Theorien ziemlich isoliert dasteht.

Im Gegensatz zu diesen naheliegenden Überlegungen will ich zwei andere Argumente vorstellen, die in der Diskussion bisher wenig Beachtung fanden: Das erste Argument überträgt das Sellars'sche Argument gegen den Mythos des Gegebenen auf Moralurteile und entlarvt die Annahme eines moralisch Gegebenen ebenfalls als Mythos. Im zweiten Argument werde ich die partikularistische These, nach der nur individuelle Situationen und Handlungen ohne die Verwendung von Hilfsannahmen und Regeln beurteilt werden können, direkt angreifen. Ich werde zeigen, dass es keinen Sinn macht, partikuläre Handlungen als moralisch oder unmoralisch zu qualifizieren, da in moralische Urteile und Begründungen stets Allgemeinbegriffe und generalisierende Behauptungen eingehen. Das Individuelle und Partikuläre lässt sich nur unter Bezugnahme auf kategoriale Schemata spezifizieren, die von Allgemeinbegriffen Gebrauch machen.

Der Mythos des Gegebenen

Wilfrid Sellars (23) leugnet, dass empirisches Wissen auf der Grundlage von Sinnesdaten gerechtfertigt werden kann. Er geht davon aus, dass alle unsere Erfahrung begrifflich und propositional strukturiert ist. Sinnesdaten, sofern man sie als Einzeldinge und nicht als Universalien auffasst, können daher kein Wissen darstellen. Was gewusst wird, sind Tatsachen und keine Einzeldinge. Denn jedes Wissen setzt ein Klassifizieren und Konzeptualisieren voraus. Wissen kann nur inferentiell im „logischen Raum der Gründe" begründet werden. Daher stellt die Annahme nicht-inferentiell gegebener Sinnesdaten ein Mythos dar.

Dieses Argument lässt sich auf moralische Wahrnehmungen übertragen, da sie ebenso wie sinnliche Wahrnehmungen mit einem Dilemma konfrontiert sind: Entweder sind moralische Wahrnehmungen nicht-begrifflicher Natur, dann können aus ihnen keine propositional strukturierten Moralurteile abgeleitet werden. Oder aber sie sind begrifflich und propositional strukturiert und setzen somit ein kategoriales Begriffsschema voraus, z. B. Unterscheidungen wie aktiv – passiv, Zweck-Mittel-Relationen, intendierte und nicht-intendierte Handlungen sowie kausale Kategorien (Ursache – Wirkung). Partikuläre moralische Urteile enthalten somit implizit begriffliche Universalien bzw. setzen diese voraus und sind ähnlich wie sinnliche Wahrnehmungsurteile theoriengeladen.

Kritik am Partikularismus

Das Wahrnehmungsmodell moralischen Wissens hängt entscheidend von der partikularistischen These des Handlungsindividualismus ab. Wird diese These in Zweifel gezogen, gerät das ganze Wahrnehmungsmodell ins Wanken. Es lohnt sich daher, diese These genauer zu untersuchen. Wenn als Gegenstand moralischer Urteile nur partikuläre Handlungen in Frage kommen, so ist zu klären, was eine partikuläre Handlung ist. Die Rede von individuellen Handlungen macht nämlich nur dann Sinn, wenn man über Individuierungskriterien für Handlungen verfügt, wenn man also sagen kann: „Diese Handlung H1 ist moralisch falsch, im Unterschied zu einer anderen Handlung H2." In der Literatur kursieren verschiedene Vorschläge, wie man Handlungen individuieren bzw. unterscheiden kann. Alle diese Individuierungskriterien bedienen sich eines kategorialen Schemas: z.B. der Unterscheidung von Ursache und Wirkung (Davidson (10, 179)) oder der Angabe der handelnden Person, den Eigenschaften und der Zeit der Handlung (Goldman (12, 10) und Kim (16, 34 f.)). Unabhängig davon, welches Individuierungsschema man zugrunde legt, hängt die moralische Beurteilung der partikulären Handlung stets von diesen begrifflichen Universalien und Kategorien ab. Im Urteil ist daher stets ein Moment der Verallgemeinerung enthalten, das die Form einer Regel hat bzw. diese voraussetzt.

In der Handlungstheorie unterscheidet man zwischen act types und act tokens (12, 10). Eine partikuläre Handlung (act token) kann verschiedene Eigenschaften haben und daher unter verschiedene Beschreibungen (act types) fallen. Eine Handlung kann z. B. aktiv oder passiv, intendiert oder nicht-intendiert sein, gute oder schlechte Folgen haben. Eine partikuläre Handlung, die keinem Typ zugeordnet werden kann, wäre ein „bare particular", ein Ding ohne Eigenschaften und daher auch ohne moralische Qualitäten. Von den Eigenschaften einer Handlung hängt ihre moralische Bewertung ab. Die Bewertung einer Handlung hängt jedoch nicht nur von dem speziellen Fall (act token), sondern auch davon ab, unter welchem Handlungstyp (act type) die Handlung subsumiert wird (z. B. Mord oder Totschlag, Tun oder Unterlassen, intendiert oder nicht-intendiert etc.).

Nehmen wir an, M sei die Menge aller moralisch relevanten Eigenschaften. Die Menge dieser Eigenschaften bzw. eine Kombination dieser Eigenschaften bildet einen Handlungstyp T. Für den Partikularismus und damit auch für das Wahrnehmungsmodell ergibt sich ein Dilemma: Entweder ist die Menge M endlich oder unendlich. Ist die Menge endlich, so lässt sich eine einfache Regel formulieren, mit deren Hilfe man entscheiden kann, ob eine Handlung moralisch oder unmoralisch ist: Alle Handlungen des Typs T, d.h. alle Handlungen, die die moralisch relevanten Eigenschaften E1, E2, ..., En aufweisen, sind unmoralisch. Somit liegt – im Widerspruch zu der Grundthese des Partikularismus – jedem moralischen Urteil eine Regel zugrunde und der Partikularismus kollabiert zu einem Generalismus. Das zweite Horn des Dilemmas sieht für den Partikularismus nicht besser aus: Ist die Menge M der moralisch relevanten Eigenschaften unendlich, so lässt sich letztlich nicht bestimmen, ob und warum eine Handlung moralisch oder unmoralisch ist, eine Regel lässt sich nicht formulieren. Jackson, Pettit und Smith sprechen von „uncodifiable patterns" (15, 89). Die Frage, ob diese spezielle Handlung moralisch oder unmoralisch ist, bleibt folglich eine offene Frage ohne Antwort.

Der Partikularismus kann auch kein Verfahren angeben, wie man durch eine Analyse der Handlung und ihres situativen Kontextes einer Beantwortung dieser Frage wenigstens näherkommen kann. Letztlich gibt es also keine Erklärung dafür, warum eine Handlung moralisch oder unmoralisch ist, weil eine Erklärung in der Aufzählung unendlich vieler Eigenschaften bestehen würde – eine Aufgabe, die nicht in endlicher Zeit geleistet werden kann. Der Partikularismus verstößt somit gegen das Rationalitätsprinzip, nach dem es stets eine Erklärung dafür gibt, warum eine Handlung moralisch oder unmoralisch ist (22, 220). Der Partikularismus kann dafür keine Erklärung geben und steht daher vor dem Dilemma, entweder in einen irrationalen Mystizismus abzudriften oder in sein Gegenteil, den Generalismus, umzukippen. Wenn der Partikularismus unhaltbar ist, so gilt dies auch für die Theorie moralischer Wahrnehmung.

Daraus folgt, dass das Wahrnehmungsmodell moralischen Wissens auf einem Mythos beruht, nämlich der Annahme, dass sich unsere Moralurteile ausschließlich auf Einzelfälle beziehen. Das heißt nun aber keineswegs, dass Intuitionen bei der moralischen Urteilsbildung keine Rolle spielen. Moralische Regeln lassen sich nicht ohne Betrachtung des Einzelfalls begründen und sind daher auf Intuitionen angewiesen. Moralische Intuitionen sind sozusagen die Verifikations- und Falsifikationsinstanzen moralischer Regeln. Sie sind aber unzuverlässig und kontextabhängig und müssen immer wieder kritisch überprüft werden, wenn sie bewährten moralischen Regeln widersprechen.

Intuitionen beruhen auf Gefühlen. Wenn wir sie rechtfertigen wollen, können wir nicht nur den Einzelfall betrachten, sondern müssen verallgemeinern. In Harmans Katzen-Beispiel ist ja nicht nur dieser spezielle Fall von Tierquälerei und das damit verbundene Töten der Katze moralisch verwerflich, vielmehr ist es die Tierquälerei an sich und das unbegründete Töten von Tieren, das unsere Abscheu erregt. Eine Begründung, warum die betrachtete Handlung moralisch falsch ist, könnte so aussehen: Es ist moralisch falsch, eine Katze mit Benzin zu übergießen und anzuzünden, weil dies ein Akt von Tierquälerei darstellt und zum Tod der Katze führt. Weil aber Tierquälerei und das ungerechtfertigte Töten von Tieren generell falsch ist, ist auch die betrachtete Handlung moralisch falsch. Nur mit Hilfe dieser Regel können wir ein moralisches Urteil bilden.

Regeln können als Verallgemeinerungen von Einzelfällen gewonnen werden, sie können aber auch dem Einzelfallurteil vorangehen. Moralische Regeln sind sozialer Natur, sie werden durch Erziehung erlernt, sind kulturell geprägt und verkörpern so etwas wie eine Common-Sense-Moral. Sie stellen Gebote, Vorschriften und Erwartungen der Gesellschaft an ihre Mitglieder dar und fordern zu normgemäßem Verhalten auf. Regeln sind als Leitfaden und Orientierungshilfe für das praktische Handeln unerlässlich. Da man nicht jeden Fall gesondert betrachten kann, stellt das Befolgen von Regeln eine kognitive Entlastung dar.

Die Methode des Überlegungsgleichgewichts

Für die moralische Urteilsbildung sind Intuitionen und Regeln gleichermaßen bedeutsam. Intuitionen sind partikulär, auf den Einzelfall bezogen und gründen sich auf Gefühl und Wahrnehmung, während Regeln allgemein, d. h. für eine ganze Klasse von Einzelfällen, gelten und rational begründet werden können. Dieses Pendeln zwischen dem Partikulären und Allgemeinen lässt sich mit der Methode des Überlegungsgleichgewichts gut beschreiben und ist daher als Modell moralischer Urteilsbildung besser geeignet als das Wahrnehmungsmodell. Diese Methode wurde von John Rawls (21) begründet und von Norman Daniels (9) und Michael De Paul (11) weiterentwickelt. Demnach geht die Urteilsbildung von Intuitionen aus. Auch in dem sozial-intuitiven Modell von Jonathan Haidt (13) bilden gefühlsmäßige Urteile den Anfangs- und Ausgangspunkt moralischer Überlegungen. Erst in einem zweiten Schritt suchen wir nach einer Rechtfertigung unserer Urteile und berufen uns dabei auf soziale Normen und moralische Regeln.

Intuitionen sind fehlbar, weil sie auf Vorurteilen beruhen können. Zwei Menschen können unterschiedliche Auffassungen über das moralisch Gute haben oder einfach nur unterschiedlicher Meinung sein. Zudem lassen sich Intuitionen leicht manipulieren und beeinflussen, wie Sinnott-Armstrong und andere gezeigt haben. John Rawls schlug daher in einem Aufsatz von 1951 vor, nur „wohldurchdachte Urteile" (considered judgments) kompetenter Moralbeurteiler zuzulassen (21). Es muss stets kritisch geprüft werden, ob die eigenen Intuitionen mit der allgemein gültigen Common-Sense-Moral übereinstimmen. Es kommt nämlich häufig vor, dass unsere moralischen Intuitionen mit einer sozialen Erwartungshaltung kollidieren, wenn wir uns z. B. an das Gebot „Du sollst nicht lügen" halten sollen, es aber in einem konkreten Fall intuitiv für besser halten, nicht die Wahrheit zu sagen. In diesem Fall steht die Intuition im Widerspruch zu einer moralischen Regel. Wir können nun entweder unsere Intuition revidieren oder die Regel verwerfen bzw. Ausnahmen von der Regel zulassen. Wenn unsere wohldurchdachten moralischen Urteile mit den bekannten moralischen Regeln und Prinzipien in Einklang stehen, dann liegt ein sog. enges Überlegungsgleichgewicht vor (9). Nun ist es aber häufig so, dass nicht nur einzelne Urteile, sondern unser ganzes Glaubenssystem – unsere Moralauffassungen, politischen Ansichten und die damit zusammenhängenden Hintergrundtheorien – mit den sozialen Normen in Einklang gebracht werden müssen. In diesem Fall muss das enge Überlegungsgleichgewicht ausgedehnt werden. Norman Daniels spricht von einem weiten Überlegungsgleichgewicht (wide reflective equilibrium), wenn die wohldurchdachten Urteile und die für die Urteilsbildung relevanten Hintergrundtheorien einer Person mit den moralischen Regeln und Prinzipien in eine kohärente Einheit gebracht werden können (9, 258). Beim Übergang von einem engen zu einem weiten Überlegungsgleichgewicht ist man gezwungen, liebgewonnene Überzeugungen zu überdenken und ggf. Vorurteile über Bord zu werfen. Der Prozess kann aber auch dazu führen, dass soziale Normen kritisch hinterfragt werden und es zu einem gesellschaftlichen Wertewandel kommt.

Die Methode des Überlegungsgleichgewichts zeigt eine Dialektik des Partikulären und Allgemeinen auf, die typisch für die moralische Urteilsbildung ist. Einerseits richtet sich unsere moralische Intuition auf den Einzelfall, kann aber das Partikuläre und Individuelle begrifflich nur schwer erfassen und das Urteil nicht zu einer allgemeingültigen Regel verallgemeinern. Andererseits ist es unser Verstand gewohnt, mit Regeln zu operieren, ist dann aber angesichts der Komplexität der Welt gezwungen, die Regel durch die Hinzufügung von Ausnahmeregeln immer weiter zu spezifizieren, um dem Einzelfall Rechnung zu tragen. Beide Denkbewegungen, der Schluss vom Partikulären aufs Allgemeine sowie der Schluss von einer Regel auf den Einzelfall, ergänzen sich gegenseitig und sind für die Ethik unerlässlich.

UNSER AUTOR:

Thomas Zoglauer lehrt als außerplanmäßiger Professor Philosophie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Technikphilosophie, theoretische und angewandte Ethik.

LITERATUR:

(1) Audi, Robert: Moral Perception, Princeton – Oxford: Princeton University Press 2013
(2) Audi, Robert: Moral Perception Defended, Argumenta 1 (2015) 5-28
(3) Blum, Lawrence: Moral Perception and Particularity, Ethics 101 (1991) 701-725
(4) Broeders, Ron et al.: Should I save or should I not kill? How people solve moral dilemmas depends on which rule is most accessible, Journal of Experimental Psychology 47 (2011) 923-934
(5) Chappell, Timothy: Moral Perception, Philosophy 83 (2008) 421-437
(6) Cowan, Robert: Perceptual Intuitionism, Philosophy and Phenomenological Research 90 (2015) 164-193
(7) Cullison, Andrew: Moral Perception, European Journal of Philosophy 18 (2009) 159-175
(8) Dancy, Jonathan: Ethics without Principles, Oxford: Clarendon Press 2004
(9) Daniels, Norman: Wide Reflective Equilibrium and Theory Acceptance in Ethics, Journal of Philosophy 76 (1979) 256-282
(10) Davidson, Donald: Essays on Actions and Events, Oxford: Clarendon Press 1980
(11) DePaul, Michael R.: Intuitions in Moral Inquiry, in: David Copp (Ed.): The Oxford Handbook of Ethical Theory, Oxford – New York: Oxford University Press 2006, S. 595-623
(12) Goldman, Alvin I.: A Theory of Human Action, Princeton University Press 1970
(13) Haidt, Jonathan: The Emotional Dog and its Rational Tail: A Social Intuitionist Ap-proach to Moral Judgment, Psychological Review 108 (2001) 814-834
(14) Harman, Gilbert: The Nature of Morality, New York: Oxford University Press 1977
(15) Jackson, Frank; Pettit, Philip; Smith, Michael: Ethical Particularism and Patterns, in: Brad Hooker, Margaret O. Little (Eds.): Moral Particularism, Oxford: Clarendon Press 2003, S. 79-99
(16) Kim, Jaegwon: Supervenience and Mind, Cambridge University Press 1993
(17) McDowell, John: Values and Secondary Qualities, in: Mind, Value, and Reality, Cambridge (Mass.) – London: Harvard University Press 1998, S. 131-150
(18) McGrath, Sarah: Moral Knowledge by Perception, Philosophical Perspectives 18 (2004) 209-228
(19) McNaughton, David: Moral Vision. An Introduction to Ethics, Oxford: Blackwell 1988
(20) Mikhail, John: Universal Moral Grammar: Theory, Evidence and the Future, Trends in Cognitive Sciences 11 (2007) 143-152
(21) Rawls, John: Outline of a Decision Procedure for Ethics, Philosophical Review 60 (1951) 177-197
(22) Raz, Joseph: The Truth in Particularism, in: ders.: Engaging Reason, Oxford – New York: Oxford University Press 1999, S. 218-246
(23) Sellars, Wilfrid: Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge (Mass.) – London: Harvard University Press 1997
(24) Sinnott-Armstrong, Walter: Framing Moral Intuitions, in: Sinnott-Armstrong (Ed.): Moral Psychology, Vol. 2: The Cognitive Science of Morality, Cambridge (Mass.) – London: MIT-Press 2008, S. 47-76
(25) Smith, Benedict: Particularism and the Space of Moral Reasons, New York: Palgrave Macmillan 2011
(26) Zoglauer, Thomas: Ethische Konflikte zwischen Leben und Tod, Hannover: Verlag der blaue reiter 2017