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Ein Philosoph wird gefeiert. Jürgen Habermas' 90 Geburtstag in den Medien

Aus: Heft 3/2019, S. 123-127

 

Die Würdigungen

Um Jürgen Habermas war es in den letzten Jahren ruhiger geworden. Bis Mitte Juni dieses Jahres, als sich der 90. Geburtstag des am 18. Juni 1929 geborenen Philosophen ankündigte. Kaum ein überregionales Medium, das nicht eine Würdigung veröffentlichte und mit Superlativen wurde dabei nicht zurückgehalten. Die Zeit widmete unter dem Titel „Ein genialer Typ" fast ihr gesamtes Feuilleton dem Jubilar. Habermas rage, so sein Kollege Peter E. Gordon von der Harvard University, als „spätmoderner Gipfel des von Kant begründeten rationalistischen Geistes" heraus. Er sieht bei Habermas einen „geläuterten Rationalismus, der die Lehren der historischen Katastrophe verinnerlicht und seinen Sitz in der sozialen Praxis selbst gefunden hat". „In seinem Werk", so Gordon weiter, bleibe „der Rationalismus lebendig, obwohl es die Lektion verinnerlicht hat, dass politische Ideale mit Macht durchsetzt sind. Was Habermas jedoch auszeichnet, ist seine Weigerung, von solchen genealogischen Lehren unsere gesamten normativen Energien verschlingen zu lassen."

Etwas zurückhaltender äußerte sich die mit Habermas gleichaltrige ungarische Philosophin Agnes Heller im Interview: „Ich habe nur gute Erinnerungen an ihn. Ich respektiere und liebe ihn. Jürgen Habermas ist in jeder Situation ein anständiger Mensch und ein anständiger Bürger." Und auch inhaltlich bleibt die Grande Dame der Philosophie reserviert: „Jürgen Habermas glaubt an die Rationalität, das ist einfach schön in einer Welt, die von nichtrationalen Instinkten beherrscht wird. Aber mit Habermas' Projekt, die Aufklärung zu radikalisieren oder zu Ende zu führen, hatte ich immer Schwierigkeiten. Welche Aufklärung denn? Um es im Bild des Doktor Faustus zu fragen: Ist die Aufklärung der Teufel, oder ist sie die Erlösung? Habermas gewichtet den Widerspruch innerhalb der Aufklärung nicht, er will ihn im Grunde nicht wahrnehmen. Aber man kann nicht alle Widersprüche versöhnen."

Die Welt sprach hinsichtlich des jahrzehntelangen Wirkens von Habermas in der Öffentlichkeit von „der längsten Legislaturperiode des Geistes". Habermas habe, so lobte Ludger Fittkau im Deutschlandfunk, seinen Einsatz für emanzipierte Lebensformen und internationale Solidarität nie aufgegeben. Wegen seiner Zwischenrufe zu gesellschaftspolitischen Themen gelte er als Staatsdenker und präge seit den 1950erJahren die soziologische und philosophische Debatte. Für den Kölner Stadtanzeiger ist Jürgen Habermas „der wirkmächtigste Denker Deutschlands", und der Mannheimer Morgen hält ihn für „hochaktuell". Dabei seien es zwei berühmt gewordene Formulierungen, die die in zahlreichen Schriften entfaltete Philosophie des Denkers ansatzweise charakterisierten: die „ideale Sprechsituation" eines „herrschaftsfreien Diskurses" und der „zwanglose Zwang" des besseren Arguments.

Oskar Negt, der acht Jahre Assistent bei Habermas war, berichtete im Interview mit den Lübecker Nachrichten, Habermas habe ihm als Assistenten „absolut alle Freiheiten, die man sich denken kann", gelassen. Von ihm habe er eine nicht opportunistische Haltung gelernt. „Das heißt eine Haltung, in der er bestimmte Linien konstant weiterverfolgte und sich auf jedes Gespräch einließ." Habermas gehöre zu jenen Personen, die man „argumentationswütig" nennen könnte: „Manchmal hat er auch im Gespräch die Argumente gegen sich gestärkt, um die Diskussion nicht abbrechen zu lassen."

Einen Blick auf den privaten Habermas warf die Süddeutsche Zeitung. Er sei, schreibt Heribert Prantl, privat ein grundfröhlicher Mensch: „Vielleicht ist dies das Geheimnis, vielleicht aber auch das Ergebnis seines Erfolgs."

In einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk lobte Martin Saar den Youtuber Rezo mit seinem Video „Die Zerstörung der CDU" als einen Habermasianer. Schon die hohe Frequenz von Quellenangaben, die der Selfmade-Publizist in sein Video einblende, lasse keinen Zweifel daran, dass er an eine politische Kultur glaube, die Habermas das „Universum öffentlicher Gründe" nenne. Rezo sei ganz offensichtlich davon überzeugt, „in einem einstündigen Diskurs, der Begründungsstruktur hat, ganze Generationen zum Umdenken und zum Handeln bewegen zu können". Axel Honneth zeigt sich demgegenüber skeptisch. Für ihn sind viele Äußerungen auf Plattformen wie Youtube, Twitter oder Instagram nicht als „Kommunikation" im Sinne von Habermas zu verstehen, sondern bestenfalls als „Rohmaterial, das den Anlass zur Kommunikation stiftet".

 

Als echter Habermasianer erwies sich hingegen FDPParteichef Christian Lindner. Als KlimaAktivisten einen Vortrag von ihm stürmten, sich aber dem Gespräch verweigerten, antwortet er ihnen mit einem Zitat von Habermas: „Der hat einmal gesagt, in der Demokratie muss es herrschaftsfreien Diskurs geben und den zwanglosen Zwang des besseren Arguments". Als Anti-Habermasianer zeigte sich dagegen Norbert Bolz, der in Tabula rasa meinte, der Habermasianismus habe „viel plattgemacht". Ob er dasselbe meint wie die Rote Fahne, die schrieb, Habermas wirke „als Verteidiger der bürgerlichen Ideologie in einer aufwendigen Abwehrschlacht gegen den Marxismus-Leninismus. Deswegen ist er für die Herrschenden wertvoll. Wie krisenhaft ist es um die heutige bürgerliche Ideologie bestellt, wenn ein Jürgen Habermas als ihr genialer philosophischer Repräsentant gilt", sei dahingestellt.

Dabei ist die jüngste Entwicklung Europas für einen überzeugten Europäer wie Habermas als alles anders ermutigend. Der Zerfall Europas und der Rückzug hinter nationale Grenzen, so stellte es der Sender SRW 2 in einer Diskussionsrunde dar, stellen politische Werte in Frage, für die Habermas seit Jahrzehnten kämpfe. Gleichzeitig wirke eine Philosophie seltsam unzeitgemäß, die auf „kommunikative Vernunft" und Konsens setze, und zwar in einer Situation, in der sich die politischen Lager abschotteten, in der moralische Empörung öffentliche Debatten bestimme und Teile der Bevölkerung für vernünftige Argumente scheinbar nicht mehr zu erreichen seien.

Der Vortrag an der Frankfurter Universität

Mit großem Respekt wurde zur Kenntnis genommen, dass im Herbst ein neues zweibändiges, 1700 Seiten umfassendes Werk von Habermas über Glauben und Wissen mit dem Titel Auch eine Geschichte der Philosophie erscheine. „In diesem Werk werden wir alle seine intellektuelle Brillanz noch einmal von einer ganz anderen Seite kennenlernen", sagt der Frankfurter Ordinarius Matthias Lutz-Bachmann, der Teile des Werks schon vorab lesen durfte: „Ein ganz wichtiger Baustein seiner Theorie." „Habermas zeichnet nach, wie sich die Philosophie sukzessive aus ihrer Symbiose mit der Religion gelöst und säkularisiert hat", kündigt der Suhrkamp Verlag, Habermas' Hausverlag, an.

Habermas selber gab keinerlei Interviews, wie er interessierten Medienleuten über den Verlag ausrichten ließ. Dafür hielt er am 19. Juni an der Frankfurter Universität, seiner früheren Wirkungsstätte, vor dreitausend Zuhörern einen Vortrag mit dem Titel „Noch einmal: Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit". Von dem größten Hörsaal wurde der Vortrag in fünf weitere Hörsäle übertragen.

Habermas ging, als „unverbesserlicher Philosoph", wie er sich selbst nannte, wieder einmal von der Kontroverse zwischen Kant und Hegel über die Frage aus, wie sich die Prinzipien moralischer und politischer Autonomie zu der sittlichen Realität historisch situierter Gemeinwesen verhalten. Er plädierte für den Vorrang von Prinzipien der Gerechtigkeit vor Imperativen sozialer Integration und zog daraus Schlüsse hinsichtlich der Einheit Europas: „Den nationalen – und insbesondere den wirtschaftsnationalen – Egoismus ihrer Staaten könnten die Völker erst überwinden, wenn sie das bornierte Bewusstsein ihrer nationalstaatlichen Kulturen durchbrechen würden". Er kritisierte das politische Establishment nicht zuletzt in Deutschland: Zu einem „politischen Gehäuse" müsse Europa erst noch werden, und die „die Solidarität stiftende Quelle der demokratischen Praxis" versiege heute schon im jeweils eigenen Land: „Die politischen Eliten ... haben den Mut zu einer gestaltenden Politik verloren" und ließen sich bis auf wenige Ausnahmen von einer „ideologisch aufgebauschten gesellschaftlichen Komplexität entwaffnen" und hätten „den Mut zu einer gestaltenden Politik verloren". Doch wenn die „europäischen Völker" ihre gegenüber „den Imperativen eines weltweit entfesselten Finanzkapitalismus" eingebüßte politische Handlungsfähigkeit wiedergewinnen und ihre zerbröckelnden Sozialstaatsmodelle retten wollten, müsste die einzelnen Staaten „das bornierte Bewusstsein ihrer nationalstaatlichen Kulturen" durchbrechen. Erst wenn sich die Öffentlichkeiten füreinander öffneten und in grenzüberschreitenden Kontroversen sich mit Argumenten auf die Suche nach Lösungen machten, könnten „sie sich auch der gemeinsamen Wurzel ihrer politischen Kultur bewusst werden". Wie weit er damit von der gegenwärtigen Realität entfernt sei, machte Habermas mit dem Satz „Diese Sätze sind im Irrealis formuliert" deutlich.

Mitten im Vortrag wurde ein Alarm ausgelöst und die rund 700 Zuhörer im Hörsaal wurden per Durchsage aufgefordert, unverzüglich das Gebäude „auf den gekennzeichneten Fluchtwegen zu verlassen". Weiter hieß es in der minutenlangen, ohrenbetäubenden Durchsage: „Dieser Alarm wird automatisch ausgelöst." Nach 20 Minuten konnten alle wieder in den Hörsaal zurück, und Habermas setzte seinen Vortrag unbeirrt fort. Am Ende wurde er noch persönlich und berichtete, wie er 1956, zwei Jahre nach seiner Promotion, nach Frankfurt kam und dort in Adorno „seinen Lehrer" gefunden habe, einen Lehrer, „der nicht nicht denken konnte". 1964 sei er abermals nach Frankfurt gekommen, wo er den Horkheimer-Lehrstuhl übernommen habe. Die darauffolgenden Jahre seien die intellektuell aufregendsten der alten Bundesrepublik gewesen: „Wir fühlten uns im Mittelpunkt des Geschehens. Und waren es doch nicht" (Frankfurter Allgemeine, 21.6.).

Die Tagung

Auf Einladung des Frankfurter Philosophen Rainer Forst sowie des Exzellenzclusters Normative Ordnungen würdigten frühere Schülerinnen und Schüler sowie Kolleginnen und Kollegen im Rahmen einer zweitägigen internen Tagung an der Goethe-Universität Habermas' Werk und debattierten mit dem Neunzigjährigen über die Zukunft der Demokratie und die Geschichte der Philosophie. Nancy Fraser (New York) diagnostizierte in der Gegenwart eine vom Kapitalismus neoliberaler Prägung ausgelöste Krise, für deren Analyse Habermas' Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus aus den 1970er fruchtbar gemacht werden könne. Habermas' früherer Assistent Claus Offe sah einen Grund für den gegenwärtigen Erfolg des Populismus darin, dass es diesem gelinge, den Mythos des Volkswillens zu instrumentalisieren. Oskar Negt, auch er ein früherer Assistent von Habermas, sah dessen Erfolg dagegen eher bei der erfolgreichen Ausbeutung des gesellschaftlichen „Angst-Rohstoffs". Demokratie sei nur als Lebensform, die gelernt werden müsse, möglich, und dazu müssten die Menschen größtenteils frei von Angst leben können, weshalb ein gut funktionierender Sozialstaat unabdingbar sei. Habermas bestätigte die Auffassung, dass Demokratie einen gesellschaftlichen Lernprozess benötige und dass sie deshalb eben nicht einfach exportiert werden könne, wie es vielfach versucht wurde. Der Rechtsphilosoph Klaus Günther analysierte die Politik der zurzeit in Polen und Ungarn regierenden Rechtspopulisten.

Ein anderes Thema war das im Herbst neu erscheinende Buch. Peter Eli Gordon wies auf Herders „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" hin, was vielleicht den Titel „Auch eine Geschichte der Philosophie" von Habermas' neuem Buch erkläre. Weitere Referent(inn)en setzten sich mit Kant und Hegel auseinander, Pauline Kleingeld mit Kants Metaphysik der Moral, Thomas Schmidt mit Hegels Religionsphilosophie. Matthias Lutz-Bachmann griff auf das Mittelalter zurück und zeigte, dass bereits der heilige Thomas die von Habermas postulierte Ressource einer natürlichen Vernunft vorweggenommen habe. Thomas McCarthy untersuchte das, was man die innere Dialektik einer „postmetaphysischen Vernunft" nennen könnte.

Ein wichtiger Umstand wurde in all diesen Lobreden übersehen. Mit Habermas verschwindet eine Generation von Philosophen, die sowohl in der akademischen Welt und der intellektuellen Öffentlichkeit immer wieder Anregungen gab. Die Würdigungen zeigen, wie wichtig dies für eine lebendige Gesellschaft ist. Der Leserbriefschreiber Leander F. Badura hat dies im Freitag auf den Begriff gebracht: „Es ist zu befürchten, dass mit dem hohen Alter Habermas' auch das deutschsprachige Nachdenken über die Welt seinen Lebensabend erreicht."

Ein ausführlicher Bericht von Miloš Vec über Vortrag und Tagung findet sich in der Frankfurter Allgemeinen vom 26. Juni 2019.