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PORTRÄTS

Habermas, Jürgen

 

abermas, Jürgen

aus: Heft 2/2015, S. 48-35


Als der Soziologe Stefan Müller-Doohm nach Abschluss seiner Adorno-Biographie Habermas mitteilte, als nächstes wolle er eine Habermas- Biographie schreiben, war dieser nicht begeistert: Dass jemand in seinen „Gedärmen wühlen“ wolle, so sein Kommentar, habe für ihn etwas Befremdliches. Habermas hat aber dennoch den Autor bei seiner Arbeit unterstützt, er war zu persönlichen Gesprächen bereit, und Müller-Doohm durfte den 200 Aktenordner umfassenden Briefwechsel in Habermas’ Privathaus sichten.

Pünktlich zum 85. Geburtstag von Habermas erschien das 750 Seiten umfassende Werk

Müller-Doohm, Stefan: Jürgen Habermas. Eine Biographie. 750 S., Ln., € 29. 95, 2014, Suhrkamp, Berlin.

Im Mittelpunkt des voluminösen Werkes steht der Intellektuelle, nicht der Philosoph Habermas. Müller-Doohm bindet das intellektuelle Engagement von Habermas in die Zeitgeschichte ein, der soziologische Hintergrund des Autors macht sich vielfach bemerkbar. Im ersten Teil des Werkes ist ihm dies gelungen: Spannend erzählt er die Geschichte der vielen Debatten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in die Habermas involviert ist. Dabei ist der Autor nicht immer neutral: seine Darstellung ist eine Habermas wohlwollende. Im zweiten Teil entrinnt der Autor der Gefahr eines ermüdenden Aufzählens von Vorträgen, Begegnungen mit anderen Geistesgrößen und der Entgegennahme unzähliger Preise nicht. Eine andere Schwäche des Bandes ist die Darstellung der philosophischen Positionen, die Habermas vertreten hat, und deren Zusammenhang mit den philosophischen Auseinandersetzungen seiner Zeit. Es gelingt Müller-Doohm nicht immer, diese auf den Punkt zu bringen. Er greift dann zu einem Trick: Er zitiert einfach die zentralen Passagen. Eine Gesamtdarstellung der Philosophie Habermas in ihrem Kontext steht noch aus.

Das Jahr 1929, das Jahr der Geburt von Habermas, geht als das Jahr der großen Wirtschaftskrise in die Geschichte ein. Habermas wächst in Gummersbach in einer protestantischen Familie auf, sein Vater ist Syndikus der Industrie- und Handelskammer. Eine unauffällige Familie, „geprägt durch eine bürgerliche Anpassung an eine politische Umgebung, mit der man sich nicht voll identifizierte, die man aber auch nicht ernsthaft kritisierte“. Bei der Geburt sind mehrere Operationen notwendig, dennoch lässt sich die Gaumenspalte, mit der der Säugling zur Welt kam, nicht ganz beseitigen; eine Nasalierung ist die Folge, unter der Habermas seither leidet. Mit zehn Jahren wird er Mitglied des Deutschen Jungvolkes, später dann der Hitlerjugend. Noch im Februar 1945 wollen die Feldjäger den 15jährigen Habermas zum Militär abholen, durch Zufall ist er die Nacht über nicht zu Hause, und kurz darauf kommen die Amerikaner. Habermas erlebt die amerikanische Besatzung als Befreiung, „historisch und persönlich“. Durch den Nürnberger Prozess erfährt er erstmals vom realen Ausmaß der Schreckenstaten des Naziregimes: „Unsere eigene Geschichte“, so Habermas, „ließ dies anders erscheinen. Man sah plötzlich, dass es ein politisch kriminelles System war, in dem man gelebt hatte.“ Von nun an zeigt sich Habermas als vehementer Kritiker von jedweder Blindheit gegenüber dem, was „die Nazis allem, was Menschenantlitz trägt, angetan haben.“ Hinzu kommt eine rückhaltlose Identifikation mit der Idee der Demokratie. Die Zäsur von 1945 hat bei Habermas existentielle Denkprozesse ausgelöst, „ohne die ich wohl kaum zur Philosophie und Gesellschaftstheorie gelangt wäre“.

Zum Sommersemester 1949 schreibt sich Habermas an der Universität Göttingen ein, um im Hauptfach Philosophie zu studieren. Die obligatorische Zulassungsprüfung absolviert er bei Nicolai Hartmann, der Fragen über Rilke und Kant stellt. Neben dem Studium hat Habermas genügend Muße, um ein Theaterstück Der Pazifist zu schreiben. Er beginnt sich auch für bildende Kunst zu interessieren. In Göttingen fühlt sich Habermas aber nicht wohl, er scheitert mit einem Dissertationsentwurf und geht 1950 für ein Semester nach Zürich, unternimmt in der Schweiz ausgedehnte Fahrradtouren. So radelt er mit einem Freund über Amsteg bis nach Chiasso, von wo aus sie im „Heiligen Jahr der Pilger“ mit dem Zug bis nach Rom fahren. Danach setzt er sein Studium in Bonn fort und freundet sich mit dem sieben Jahre älteren Karl-Otto Apel an. Habermas hat schnell den Ruf, erstaunlich schnell und auffallend gut zu schreiben und dabei höchst originelle Einfälle zu Papier zu bringen.


Ende Juli 1953 zeigt ihm Apel ein druckfrisches Exemplar von Heideggers Einführung in die Metaphysik, ein Band, der Heideggers Vorlesungen von 1935 enthält und in dem Heidegger gegen Ende der unkommentiert wiederveröffentlichten Vorlesungen von der „inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung“ sprach. Habermas traut seinen Augen nicht: „Wie kann einer unser größten Philosophen so etwas machen?“. Er schreibt sich sein „ungläubiges Entsetzen von der Seele“, sein Text erscheint in der Sonntagsausgabe der FAZ vom 25. Juli 1953 auf fast einer ganzen Seite. Was ihn empöre, schreibt Habermas, sei die Tatsache, dass Heidegger diese Vorlesung gerade mal acht Jahre nach Kriegsende unkommentiert zu veröffentlichen bereit sei, ohne auf das Unbegreifliche des Geschehens und auf die eigenen fatalen politischen Einschätzungen einzugehen. Dabei stellt Habermas die Frage: „Läßt sich auch der planmäßige Mord an Millionen Menschen, um den wir heute alle wissen, als schicksalshafte Irre seinsgeschichtlich verständlich machen?“ Damit revidiert Habermas seine bis dahin durchwegs positive Haltung zu Heidegger. Er gilt ihm nun als einer, der versagt hat. Habermas‘ Leserbrief löst ein großes Echo aus. Die Zeit wirft ihm „Gehässigkeit“ und „Verfolgungssucht“ vor. Die von Habermas ausgelöste Kontroverse markiert den Anfang eines langen Prozesses, der sich 1968 mit voller Wucht entfaltet.

Im Februar 1954, nach nur neun Semestern, schließt Habermas mit seiner Dissertation „Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken“ ab. Die Arbeit bleibt unveröffentlicht, nur die von der Fakultät vorgeschriebenen Pflichtexemplare liegen vor. Rothacker lobt in seinem Gutachten das seltene Talent des Doktoranden, nicht nur den philosophiegeschichtlichen Teil gekonnt zu verarbeiten, sondern auch durch einen systematischen Blick einen aktualisierenden Zugang zu philosophischen Problemstellungen zu gewinnen. Rothacker weiter: „Die Arbeit ist ganz überdurchschnittlich. Man könnte ohne Bedenken den Verfasser zum Dozentennachwuchs rechnen.“ Doch Heidegger wählt erst den Berufsweg des freien Journalisten. Er sei, so Habermas zu Müller-Doohm, der allgemeinen intellektuellen Arbeit und im Besonderen der Philosophie überdrüssig geworden. Habermas publiziert im Handelsblatt, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und im Merkur Film- und Theaterkritiken, Buchbesprechungen sowie zeitkritische Essays etwa über die Arbeitswelt und die Gefahren der Massengesellschaft. Intellektuell ist er noch Heideggerianer und prangert die Herrschaft der technischen Mittel an – Arbeiten, die er später als „Jugendsünden“ bezeichnet. Immerhin sind es bis 1956, als er seine Assistentenstelle in Frankfurt antritt, über siebzig Artikel geworden. Habermas bewirbt sich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft um ein zweijähriges Stipendium für ein Projekt zum Ideologiebegriff. Die Bewerbung wird akzeptiert, und Habermas setzt sich nun intensiv mit Marx auseinander. Zwar werden die Forschungsresultate nicht publiziert, aber sie fließen in eine Reihe von Texten von Habermas ein. Ein Redakteur des Hessischen Rundfunks macht Habermas mit Adorno bekannt, und dieser stellt Habermas eine Art „Ausbildungsplatz“ am Institut für Sozialforschung in Aussicht. Habermas wird nun, anfangs ohne Gehalt, der erste persönliche Assistent von Adorno. „Mir ist darum zu tun“, so bewirbt sich Habermas, „an die empirische Sozialforschung (die sich ja darum nicht in Empirie zu erschöpfen braucht) Anschluss zu gewinnen.“ Adornos Denken beeindruckt Habermas gewaltig: „Da begannen sich philosophische und politische Dinge zum ersten Mal zu berühren.“ Auch persönlich kommen sich die beiden näher. Zu Beginn muss Habermas die Daten empirischer Erhebungen über das politische Bewusstsein Studierender auswerten. Als das Institut anlässlich des 100. Geburtstags von Freud eine Vortragsreihe durchführt, berichtet Habermas darüber für die FAZ sowie für die Basler Nationalzeitung. Horkheimer, der Direktor des Instituts, der bislang kaum Notiz von Habermas genommen hat, moniert darauf, dass in dem Text das Institut als Organisator des Vortragszyklus nicht genügend hervorgehoben sei. Habermas ist erstaunt, dass Horkheimer, „in dessen Denken und Werken die Kritik an autoritären Ordnungstraditionen einen hohen Stellenwert hat, offensichtlich meint, er könne seinen Mitarbeitern vorschreiben, worüber sie sich wie in ihren Veröffentlichungen zu äußern haben.“

1956 bittet Gadamer Habermas für die Philosophische Rundschau eine Sammelrezension über die aktuellen Strömungen des Marxismus zu schreiben. In dem in den Heften 3 und 4 erscheinenden Text macht Habermas deutlich, dass nur unter der historisch besonderen Voraussetzung, dass Geschichts- und Revisionsprozess ineinandergreifen, zu erwarten sei, dass gleichzeitig mit der Umwälzung der bestehenden Gesellschaft die philosophische Kritik an ihr in die Praxis gehoben wird. Horkheimer missfällt dieser Text. Es stehe zu befürchten, schreibt er an Adorno, dass dieser „H.“ „die Gesinnung und die gesellschaftliche Einsicht unserer Studierenden durch Begriffsfetische kaputt macht…. Aber wir dürfen durch die wahrlich unbekümmerte Art dieses Assistenten das Institut nicht ruinieren lassen“. Horkheimer fordert Adorno unmissverständlich auf, Habermas zu entlassen. Aber dieser fügt sich nicht und steht zu seinem Assistenten. Dennoch bleibt es für Habermas ungemütlich am Institut und als er ein Stipendium erhält, gibt er die Stelle zugunsten einer „Stipendiatenexistenz“, wie er in einer Mischung aus Ironie und Verbitterung schreibt, auf. Denn Habermas hat inzwischen für eine vierköpfige Familie zu sorgen.

Habermas lotet nun die Möglichkeiten einer Habilitation aus und wird beim Marxisten Wolfgang Abendroth in Marburg fündig. Er kann sich bei ihm mit seiner Arbeit Strukturwandel der Öffentlichkeit habilitieren. Der Dekan der Philosophischen Fakultät verleiht ihm die Venia Legendi im Fach Politische Wissenschaft. Doch findige künftige Kollegen stellen fest, dass die nach der Habilitationsordnung erforderliche Mehrheit aller Mitglieder der Fakultät nicht gegeben sei. Es braucht die Drohung mit dem Verwaltungsgericht, um die Anerkennung der Rechtsverbindlichkeit durchzusetzen.

Habermas eilt nun der Ruf voraus, ein Marxist zu sein. Seiner akademischen Karriere schadet dies interessanterweise nicht. 1961 setzt sich Gadamer dafür ein, dass Habermas ein Extraordinariat für Philosophie in Heidelberg erhält. Habermas entwickelt in dieser Zeit die Vorstellung eines allein durch eine rechtsstaatlich verbürgte Demokratie mit sozialem Antlitz zähmbaren Kapitalismus, eine Anschauung, an der er festhält. Habermas hat bereits bei Beginn seiner Vorlesungen großen Zulauf von Studenten. „Von Anbeginn wird man den Eindruck nicht los, wie dunkel, fremd und hochkompliziert das auch alles klingen mag, es handele sich nicht nur um abstrakte Sozialphilosophie, sondern ziele mitten hinein in die erstarrten Zeitverhältnisse“ (Die Zeit). Habermas stellt Oskar Negt als seinen Assistenten ein. Negt schreibt über diese Zeit: Habermas „hat seine Mitarbeiter als Widerspruchsassistenten gewählt. Ich habe damals Tag und Nacht mit ihm diskutieren müssen. Er verlangte ein ungeheures Maß an Begründungsanstrengung für eine Gegenposition. Daran ist er dann auch selbst gewachsen. Habermas braucht den Widerhaken, immer noch. Das kennzeichnet seinen intellektuellen Lebensstil.“

Im Sommer 1963 reist Siegfried Unseld, Suhrkamp-Verleger, nach Heidelberg, um Habermas für eine geplante Theorie-Reihe zu gewinnen. Gerade zum richtigen Zeitpunkt, denn in den nächsten Jahren wächst bei der jungen Generation das Interesse an Philosophie und Gesellschaftstheorie. Adorno und Weischedel haben sich frühzeitig aus dem Projekt zurückgezogen, nun sollen Habermas und Henrich für das Programm verantwortlich sein. Dann wird entschieden, zusätzlich Blumenberg und Taubes hinzuzuziehen. Allerdings gibt es von Anfang an Reibereien zwischen den Herausgebern, Blumenberg beklagt die mangelnde Gruppensolidarität, tritt zurück und wird durch Luhmann ersetzt. Habermas gewinnt damit bereits eine privilegierte Position im Suhrkamp-Verlag. Zudem ist ein Jahrbuch Theorie als Fortsetzung der Zeitschrift für Sozialforschung in Planung. Habermas ist aber gegen dieses Projekt, mit der Begründung, das Niveau der alten Zeitschrift könne derzeit nicht erreicht werden. Er regt vielmehr an, Suhrkamp möge die Zeitschrift Das Argument übernehmen, die vor allem eine jüngere linksintellektuelle Leserschaft erreiche. 1979 zieht sich Habermas nach einem Streit über den Relaunch der edition suhrkamp – er wirft dem Verleger einen politischen Richtungswechsel vor – aus dem Herausgebergremium zurück.

1961 findet in Tübingen die mittlerweile legendär gewordene Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie statt, an dem sich Karl R. Popper und Theodor W. Adorno beteiligen. Habermas findet Adornos Argumente zu schwach. Deshalb greift er in einem Beitrag zur Festschrift anlässlich des 60. Geburtstags von Adorno die Wissenschaftsauffassung des Kritischen Rationalismus frontal an und evoziert damit einen Widerspruch des in Mannheim lehrenden Hans Albert. Dabei stellt sich Habermas voll und ganz hinter die Position Adornos. Und doch lässt er sich von einem Gedanken leiten, der über Adorno hinausgeht: der „Vorstellung einer in ‚herrschaftsfreier Diskussion‘... unverkürzt zur Geltung kommenden Rationalität“.

Nach Horkheimers Emeritierung bringen Adorno und Horkheimer (der seine Meinung über Habermas inzwischen geändert hat) ihr ganzes taktisches Geschick ins Spiel, um Habermas als Kandidaten durchzusetzen. Als dieser tatsächlich auf Platz 1 der Liste gesetzt wird, setzen die beiden durch, dass Habermas unico loco genannt wird, so dass die Fakultät im Juli 1963 dem Minister eine Liste mit nur einem Kandidaten vorsetzt. Habermas zieht bald Studenten aus aller Welt an. Der Zeit-Redakteur Gunter Hofmann berichtet: „Ich entsinne mich, wie einer der Kommilitonen im überfüllten größten Hörsaal der Universität Jürgen Habermas‘ Vorlesung unterbrach mit der Bitte, ob er nicht doch etwas unkomplizierter sprechen könne, es sei so schwer, ihn zu begreifen. Eine Hälfte des Auditoriums applaudierte. Er verspreche, sein Bestes zu tun, erwiderte Habermas, um verstanden zu werden. Darauf buhte die andere Hälfte. Denjenigen, die jetzt gebuht hätten, könne er versichern, meinte der junge Habermas weiter, dass seine guten Absichten ganz gewiss scheitern werden.“

In Zur Logik der Sozialwissenschaften entwickelt Habermas ein Motiv, das ihn in den nächsten Jahren intensiv beschäftigt: die Kritik am bewusstseinsphilosophischen Paradigma. 1968 erscheint Erkenntnis und Interesse, sein erster großer Versuch, seine Idee von Gesellschaftstheorie mit erkenntnistheoretischen Mitteln systematisch zu entwickeln. Das Buch entfaltet eine Theorie der Vernunft, die diese als Reflexionswissen ausweist, d. h. als Kritik im Medium der Selbstreflexion. In dieser Zeit ist Habermas nicht nur wissenschaftlich außerordentlich produktiv, die Zeit ist auch geprägt vom Kampf für eine Hochschulreform und von der Auseinandersetzung mit der antiautoritären Studentenbewegung. Sein Ziel ist die „Organisation der gesellschaftlichen Beziehungen nach dem Prinzip, dass die Geltung jeder politisch folgenreichen Norm von einem in herrschaftsfreier Kommunikation erzielten Konsensus abhängig gemacht wird“. Als sich Rudi Dutschke, der führende Kopf der Studentenbewegung, für Aktionen ausspricht, die die Gewalt nicht ausschließen, interveniert Habermas und spricht von „linkem Faschismus“. Während die studentischen Protestgruppen bisher die Nähe von Habermas gesucht haben, gehen sie nun auf Distanz oder sogar auf Konfrontationskurs. Habermas vertritt nachdrücklich die Meinung, dass es zur Verfassung der parlamentarischen Demokratie keine Alternative gebe, auch wenn die Kluft zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit unübersehbar sei. Er vertritt zudem die Meinung, dass Marx‘ Krisentheorie für moderne, von Fortschritt, Wachstum und ökonomischer Stabilität geprägte kapitalistische Gesellschaften ihre Gültigkeit eingebüßt habe. Eine Revolutionstheorie, die den Umsturz aus der massenhaften Erfahrung von Ausbreitung und Verelendung ableitet, hält Habermas für illusionär.

Ein Dauerkonflikt bildet die Frage der Mitbestimmungsstrukturen der Universitätsinstitute. Habermas plädiert für ein paritätisches Selbstverwaltungsmodell, beharrt jedoch auf der qualifizierten Mehrheit der Professorengruppe in Forschungs- und Berufungsangelegenheiten. Er veröffentlicht seine Vorschläge im Band Protestbewegung und Hochschulreform. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen reagiert Habermas auf Störungen mit Diskussionsbereitschaft. Am 14. November 1968 stört der stadtbekannte Aktionist Hans Imhoff Habermas‘ Vorlesung, um, wie er ankündigt, selbst eine neue Form von „Antrittsvorlesung“ zu halten. Habermas räumt zuerst das Pult, um mit Imhoff in eine Diskussion zu treten, was dieser mit dem Argument, das sei zu rituell, verweigert. Darauf besteht Habermas auf einer Abstimmung über den Verbleib von Imhoff – und verliert. Als Imhoff Habermas‘ Nasalierung nachäfft, vertagt dieser die Vorlesung und verlässt ohne Hast den Hörsaal.

Habermas rezipiert die sprachanalytischen Arbeiten von Austin, Chomsky und Searle und bereitet damit seine sprachtheoretische Wende vor. Ihm geht es in diesem erst „Universalpragmatik“, dann „Formalpragmatik“ genannten Unternehmen darum, das Regelsystem einer symbolischen Ordnung sichtbar zu machen, ein Regelsystem, das für die Bedeutungs- und Sinnproduktion verantwortlich ist. Er will das praktisch beherrschte, vortheoretische Wissen – die Bedingungen möglicher Verständigung – rekonstruieren, um auf diesem Wege die generellen Voraussetzungen des verständigungsorientierten Handelns zu erschließen. Damit wird das eingeleitet, was man heute die linguistische Wende der Kritischen Theorie nennt – und was den Abschied von der marxistischen Tradition der Kritischen Theorie bedeutet.

Als es 1970 um die Neubesetzung von Adornos Lehrstuhl geht, kommt es zu einem Konflikt. Habermas regt an, den durch eine Reihe marxismuskritischer Essays bekanntgewordenen polnischen Philosophen Leszek Kolakowski zu berufen, Die Philosophische Fachschaft erhebt in einem offenen Brief Einwände gegen diesen Vorschlag und attackiert Habermas. Dieser setzt sich seinerseits zur Wehr und warnt davor, die Kritische Theorie als eine Art Institution misszuverstehen, „die durch die Rekrutierung von Rechtgläubigen erhalten werden muss“. Diese Konflikte in Frankfurt sind wohl der maßgebliche Grund dafür, dass Habermas Frankfurt verlässt, um mit Carl Friedrich von Weizsäcker einer der Direktoren des neugegründeten Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg zu werden. Habermas erwirbt ein Grundstück in der Nähe von Starnberg, für das ihm Siegfried Unseld 1971 ein Darlehen gewährt.

Die Leitfrage des neuen Instituts soll, in Habermas‘ Worten lauten: „Wie kann die Gewalt technischer Verfügung in den Konsensus handelnder und verhandelnder Bürger zurückgeholt werden?“ Den theoretischen Rahmen dazu liefert das Buch Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, das 1973 in der edition suhrkamp erscheint. Werden Entscheidungen nicht auf dem Wege konsenserzielender Rechtfertigungen getroffen, baut sich ein Legitimationsdefizit auf, das ein Indikator dafür ist, „dass sich mit administrativen Mitteln legitimationswirksame Strukturen nicht in erforderlichem Maße aufrechterhalten oder herstellen lassen. Werden Legitimationsdefizite ubiquitär, wachsen sie zu handfesten Krisen aus, die negative Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhang haben.

Es kristallisiert sich jedoch immer stärker heraus, dass Starnberg nicht in jeder Hinsicht das erhoffte Forschungsparadies ist, das Habermas die gesuchten Freiräume bietet. Auch kommt es zwischen Habermas und von Weizsäcker zu Meinungsverschiedenheiten in personellen und organisatorischen Fragen. Zudem hatte Habermas die Pflichten eines Institutsleiters unterschätzt. Der Mitarbeiter Claus Offe, der schon 1974 einen Ruf an die Universität Bielefeld annimmt, bezeichnet das Betriebsklima als katastrophal, bestimmt von ständigen Rivalitäten. Habermas habe seine Leitungsfunktion schlecht ausgeführt und sei den Konflikten aus dem Weg gegangen. Im November 1973 stellt Habermas einen Antrag auf eine Honorarprofessur an der Universität München, normalerweise eine Formsache, was aber in München abgelehnt wird – eine Kränkung für Habermas. Dafür wird er 1974 mit dem Hegel-Preis der Stadt Frankfurt ausgezeichnet.

Habermas konzipiert in dieser Zeit ein Modell gesellschaftlichen Lernens. Danach können Gesellschaftssysteme, wenn sie das jeweilige Lernniveau vergesellschafteter Strukturen ausnutzen, neue Strukturen bilden, um ihre Steuerungskapazität zu verbessern. Ontogenetische Lernprozesse eilen den gesellschaftlichen Evolutionsschüben voraus. Insofern lernen Gesellschaften nur in einem übertragenen Sinn, als ihr Lernen vom Lernen der Mitglieder der Gesellschaft abhängig ist. Neue Problemlösungsfähigkeiten bringen immer auch neue Problemlagen zu Bewusstsein. Habermas vertritt dabei die These, dass die Entwicklung normativer Strukturen „der Schrittmacher der sozialen Evolution ist, weil neue gesellschaftliche Organisationsprinzipien neue Formen der sozialen Integration bedeuten.“

1979 wirft Habermas dem Suhrkamp-Verlag eine Änderung der Verlagspolitik vor. Unseld beabsichtige, „das Profil des Verlages mit einem ‚Grauschleier des Liberalkonservatismus‘ zu umgeben“, und Habermas droht, mit all seinen Titeln den Verlag zu verlassen. Unseld reagiert mit einem generösen Angebot: Es wird vereinbart, dass alle Titel von Habermas im Wissenschaftlichen Hauptprogramm neu aufgelegt werden.

Als sich von Weizsäckers Ausscheiden aus Altergründen abzeichnet, plant man, eine dritte Abteilung im Starnberger-Institut unter Leitung eines Wirtschaftswissenschaftlers einzurichten. In Absprache mit Habermas kommt es jedoch zu einer definitiven Entscheidung, den Arbeitsbereich, dem C.F. von Weizsäcker vorsteht, aufzulösen und das Institut ganz auf die Sozialwissenschaften auszurichten. Verhandlungen, Ralf Dahrendorfzu berufen, haben bereits begonnen, als die Presse die Angelegenheit aufgreift. Der Bayern-Kurier wirft Habermas vor, Starnberg zu einer Hochburg des historischen Materialismus ausgebaut zu haben, und die überraschende Absage Dahrendorfs wurde als Beleg für die Konzeptionslosigkeit der Planung interpretiert. Als Habermas erneut von der Universität München die Honorarprofessur verweigert wird, etikettierte Josef Strauss Habermas als „Sturmvogel der Kulturrevolution“, und der Trierer Philosoph Gerhard Radnitzky fordert eine „Entseuchung unserer Wissenschaftsverschmutzung“. Diese Demütigungen bringen Habermas dazu, seinen Rücktritt als Direktor des Starnberger Max-Planck-Instituts zu erklären. Heute hält es Habermas rückblickend für einen Fehler, sich zusammen mit von Weizsäcker auf die Leitung eines Institutes von einer solchen Größe eingelassen zu haben.

Nun muss sich Habermas neu orientieren. Er erwägt, die Zelte in Deutschland ganz abzubrechen und einen Ruf an die University of California in Berkeley anzunehmen als er einen Ruf an der Frankfurter Universität erhält. Dass er zugleich den Theodor-W.-Adorno Preis erhält, fördert den Entschluss, nach Frankfurt zurückzukehren. 1981 erscheint das Hauptwerk, Die Theorie des kommunikativen Handelns, das einen Forschungs- und Reflexionsprozess abschließt, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt hat. Mit der Zentrierung auf Verständigung als Originalmodus des Handelns leitete Habermas das ein, wofür seine Sozialtheorie fortan steht: den Paradigmenwechsel vom strategisch orientierten, instrumentellen zum verständigungsorientierten, kommunikativen Handeln. Habermas erhebt Verständigung zur genuinen kommunikativen Vernunftform, die auf die intersubjektive Anerkennung dessen abzielt, was Habermas als kritisierbare Geltungsansprüche bezeichnet. Habermas führt den Begriff der Lebenswelt ein, um auch die Sinnesressourcen, an denen sich kommunikativ Handelnde orientieren, dem Reich monologischer Subjektivität und Intentionalität zu entreißen.

Im Sommersemester 1983 hält Habermas nach seiner Rückkehr nach Frankfurt seine erste Vorlesung. Er erklärt, er habe keinesfalls die Absicht, die Tradition einer Schule fortzusetzen. Im Mittelpunkt seiner interdisziplinär orientierten Forschung werde nicht Ideologiekritik oder bestimmte Negationen, sondern die Frage stehen, „ob die Moderne heute als ein erledigtes Programm betrachtet werden muß – oder doch eher als ein immer noch unvollendetes Projekt“. Knapp zwei Jahre später erscheinen diese Vorlesungen unter dem Titel Der philosophische Diskurs der Moderne in Buchform. Habermas erweist sich als überaus anspruchsvoller Lehrer. In seiner 30jährigen Lehrtätigkeit hat er das Prädikat summa cum laude nur wenige Male für eine von ihm als Erstgutachter betreute Dissertation vorgeschlagen: zuerst 1966 für Albrecht Wellmer, dann Rainer Forst und Lutz Wingert. Die Habilitierungen während seiner Dienstzeit beschränken sich auf zwei Personen: Albrecht Wellmer und Axel Honneth.

Habermas ist nun ein Reisephilosoph geworden, der um den Globus jettet, um Vorträge zu halten und um ausgezeichnet und geehrt zu werden – in der Regel außerhalb des Semesters. Dazu wächst die Reihe der Kleinen Politischen Schriften, in denen seine Vorträge, Reden und Gespräche publiziert werden, auf acht Bände an.

Als die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1986 erstmals den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis vergibt, gehört Habermas zu den Ausgezeichneten. Aus dem Preisgeld installiert er eine rechtsphilosophische Forschungsgruppe an der Frankfurter Universität, der u. a. Rainer Forst und Lutz Wingert angehören. Im Herbst 1992 erscheint seine rechtsphilosophische Studie Faktizität und Geltung, in der Habermas den Anwendungsbereich seiner Diskursethik erweitert, indem er das Problem zu lösen versucht, wie in modernen Gesellschaften eine Institutionalisierung des Prinzips diskursiver Konfliktlösung gelingen kann. Im Vordergrund steht die Frage, wie eine Verschränkung von Demokratie und Rechtsstaat durch das System der Rechte so zu konzipieren ist, dass Rechtsstaat nicht gegen Demokratie oder umgekehrt ausgespielt werden kann.

1985 gedenken Helmut Kohl und Ronald Reagan auf einem Soldatenfriedhof vor den Gräbern vor Wehrmachtssoldaten, darunter Angehörigen der Waffen-SS, in der Nähe von Bitburg gemeinsam der Gefallenen des Zweiten Weltkrieges. In einem Artikel in der Zeit wertet Habermas den medial inszenierten Händedruck als „die Abkehr von einer destabilisierenden Vergangenheitsbewältigung und die Bezeugung aktueller Waffenbrüderschaft“. Dieser Text bildete den Auftakt zum „Historikerstreit“, der die Gemüter nachhaltig bewegt. Als erster veröffentlicht Michael Sürmer, ein Berater von Helmut Kohl, in der FAZ einen Artikel, in dem er dafür plädiert, dass die Betrachtung der deutschen Geschichte von einem stärkeren Selbstbewusstsein geprägt sein müsse. Darauf stellt in derselben Zeitung Ernst Nolte die Singularität des Holocaust infrage und behauptet, der „Klassenmord“ der Kommunisten sei dem „Rassenmord“ der Nazis vorausgegangen. Habermas wirft nun Nolte vor, Geschichtsfälschung zu begehen, wenn er die Behauptung in die Welt setze, die Singularität der Judenvernichtung beschränke sich auf den technischen Vorgang der Vergasung. Daraufhin berichten alle maßgeblichen Medien über diesen „Historikerstreit“, bei dem es letztlich um die politische und kulturelle Hegemonie geht.

Habermas hat befürchtet, dass es im Zuge der Wiedervereinigung zu einer Renaissance des Nationalstaates auf deutschem Boden kommen würde. Die Skepsis gegenüber dem Nationalstaat, verstanden als ethnische Einheit und identitätsstiftende Ressource, sitzt bei ihm tief. In dieser Zeit hat er bevorzugt in der Zeit veröffentlicht. Das hielt Frank Schirrmacher nicht davon ab, Habermas als Autor für die FAZ zu umwerben. Doch dieser zog es vor, sich auf die Rolle eines Lesers zu beschränken, „der interessiert die schamlos profaschistischen Artikel ihres römischen Korrespondenten, eine rechtsradikale Verteidigung des Carl Schmitt’schen ‚Imperativs der Homogenität‘ und die Reinwaschung des faschistischen Staatsphilosophen Gentile durch einen ehemaligen PCI-Intellektuellen zur Kenntnis nimmt – die Auslese weniger Tage“.

Kopfschütteln und Irritationen bei seinen Freunden (und selbst bei seinem Sohn Tilmann) löst Habermas‘ Eintreten für den Kosovo-Krieg aus. Aus seiner Sicht sind solche friedensstiftende Interventionen gerechtfertigt, weil sie einen notwendigen Akt darstellten, der zur Verrechtlichung internationaler Beziehungen innerhalb einer kosmopolitischen Ordnung führe. Habermas sieht nicht einen Weltstaat mit einer Weltregierung, sondern einen Sicherheitsrat und einen Strafgerichtshof, eine Generalvertretung von Regierungsvertretern der Staaten sowie eine Repräsentation von Weltbürgern.

Am 22. September 1994, drei Monate nach seinem 65. Geburtstag, wird Habermas in der Dienstvilla des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Hans Eichel in Wiesbaden in den Ruhestand verabschiedet.

1999 schaltet sich Habermas in den Streit um die Bioethik ein. Thomas Assheuer hatte in der Zeit und Reinhard Mohr im Spiegel Peter Sloterdijks Text Regeln für den Menschenpark scharf angegriffen. Sloterdijk vermutet dahinter eine Machenschaft von Habermas und greift diesen frontal an: eine solche Einflussnahme sei nicht mehr und nicht weniger als der Tod der Kritischen Theorie, eine „Version der Tugenddiktatur“. Habermas schreibt dazu seinem letzten Assistenten Lutz Wingert: „Was mich stört, ist der faschistische Kern eines sozialdarwinistischen Züchtungsaufrufs, für den sich im Zeitalter des Neoliberalismus und der wachsenden Ungleichheit die Ohren ebenso öffnen könnten wie in der ersten Industrialisierungsphase des späten 19. Jahrhunderts.“ Christian Geyer stellt darauf in der FAZ als Tatsache dar, was vorher als Gerücht die Runde gemacht hatte: dass es im Vorfeld einen Brief von Habermas an den Zeit-Redakteur Thomas Assheuer gibt, in der Habermas den Text von Sloterdijk als „genuin faschistisch“ bezeichnet hat.