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Vorträge

Anton Leist: Tugendhats Geheimnis. Aus Anlass des 90. Geburtstages

 

Als ich in den frühen 70er Jahren angefangen habe, in München Philosophie zu studieren, war der erste Einfluss vonseiten der analytischen Schule Stegmüllers. Trotz aller Anziehungskraft dieses methodisch raffinierten und in der Wissenschaftlichkeit eindrucksvollen Programms, blieb für den Studenten das Gefühl, dass in ihm zu wenig Philosophie enthalten ist. Stegmüller selbst hat das durch ein kleines Buch auszugleichen versucht, aber der Anschluss an die klassischen Philosophen blieb auch darin ausgespart. In den 70er und 80er Jahren hatte man allerdings in der deutschen Philosophiegemeinschaft große Schwierigkeit, einen Philosophen zu finden, der sowohl in der antiken und neuzeitlichen Philosophie zuhause war, aber auch die analytische Philosophie kannte und praktizierte.

Eine große und in der Art der Synthese einzigartige Ausnahme war Ernst Tugendhat. Obwohl er zur klassischen Philosophie, mit Ausnahme des Buchs zu Aristoteles, wenig geschrieben hatte, war die Weise, wie er philosophische Argumente vortrug, keinem Programm verhaftet und vermittelte den Eindruck der uneingeschränkt allgemeinen Rede der Philosophie. Gadamer hat einmal auf einem Rückflug von Dubrovnik nach Frankfurt in den 70er Jahren, bei dem ich zufällig im Flugzeug neben ihm zu sitzen kam, die Vorgehensweise im damals erschienen Sprachphilosophie-Buch als den „langsamen Gang eines Mulis über Serpentinen den Berg hinauf“ bezeichnet. Diesen Vergleich fand ich unangenehm zweideutig und nicht ganz angemessen. Aus zwei Gründen.

Was Tugendhats Arbeiten dieser mittleren Phase, zwischen seinem Starnberg-Aufenthalt und den frühen Berliner Jahren, zumindest für mich vorbildlich hat werden lassen, war zweierlei. Einmal der explizite Versuch, mit der analytischen Thematik an die klassische Philosophie anzuknüpfen und die alten Fragen mit einer neuen Methode zu beantworten. Die ‚neue’ Methode war natürlich das Signum der Analytiker der 50er und 60er Jahre, aber über diesen Trompetenstoß hinaus hatten sie die frühere Philosophie vergessen. Tugendhat kam auf die alte Philosophie hingegen deutlich zu sprechen, einmal über Husserl und Heidegger, dann allgemeiner über Antike und Mittelalter. Am prägnantesten geschah das im Sprachphilosophie-Buch, das verblüffenderweise – ganz gegen Ryle und Carnap – Heidegger gewidmet ist. Anders als bei den früheren Analytikern war das Anknüpfen nicht nur polemisch, sondern konstruktiv. Natürlich steckt im Sprachphilosophie-Buch ein großer Teil der analytischen Literatur dieser Zeit, aber die Art und Weise, wie diese Literatur angeeignet und komprimiert wird, lässt es wiederum ungewöhnlich werden.

Damit meine ich ein zweites Merkmal, neben dem Bemühen um die ganze Philosophie. Ungewöhnlich war bereits der Vorlesungscharakter des Buchs, während die meisten akademischen Philosophen versucht sind, ihre Vorlesungen in eine Sachbuchprosa umzuschreiben. Hier wurde der Vorlesungsstil beibehalten. Was immer Tugendhats eigenes Motiv dazu war, eine ungewöhnliche Eigenart seiner Arbeiten harmonierte extrem mit der Vorlesungsform auf eine innige und tiefere Weise. Diese Eigenart bestand darin, ausgehend von allgemeinen Fragen die Fragerichtung selbst erst zu erarbeiten und die schrittweise Beantwortung über viele hundert Seiten fortwährend mit einem Kommentar zur Notwendigkeit gerade der jeweiligen Frage-Antwort-Kombination zu begleiten. Diese Eigenart stammt, wie man weiß, aus Heideggers Sein und Zeit, und die wenigsten philosophischen Texte kommen an dem Problem, wie sie ihre Argumentation selbst legitimieren können, vollständig vorbei. Tugendhat jedoch machte aus diesem Problem eine Kunst, und die Überzeugungskraft seiner Texte in dieser Phase verdankt sich vor allem dieser fortwährenden reflektierenden Begleitung dessen, was thematisch analysiert und begründet werden soll.

Nach meiner Erfahrung war und ist Tugendhat im Ausmaß der reflektierenden Lenkung des philosophischen Gedankengangs einzigartig, und darin ein perfektes Vorbild, in seiner akademischen Rolle dadurch ein perfekter Lehrer. Man stelle sich das genaue Gegenteil vor, wie etwa Hegel oder Wittgenstein, aus deren Texten man praktisch nichts lernen kann, was man sich nicht selbst beibringt oder anderswo verstanden hat.

Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass Tugendhat auch die Kunst beherrschte, seine eigenen Annahmen am Ende eines Wegs zwingender aussehen zu lassen als sie waren. Philosophische Argumente und Theorien lassen sich nicht zwingend begründen, es bleibt meist ein Element der Willkür, das häufig mit Zuhilfenahme eines aktuellen Konsenses in der Literatur abgeschwächt oder sogar völlig verdeckt wird. Forschende Philosophen legen das offen und bekennen, dass sie sich damit einem Alltagskonsens unterordnen. Das stuft sie allerdings zurück auf den Rang, der heute Philosophie als wissenschaftliche Forschung kennzeichnet – als ein kollektives Unternehmen mit eingebautem Verfallsdatum. Die nicht forschenden, sondern wissenden Philosophen geben sich damit nicht zufrieden, sondern argumentieren immer unter dem Ideal lückenloser Überzeugungskraft. Bei Tugendhat drückte sich das persönlich so aus, dass er in der Diskussion den Zweifler an einer seiner Prämissen so entgeistert ansehen konnte, dass man selbst am Sinn des eigenen Einwands zu zweifeln beginnen musste.

Ich habe mich häufig gefragt, ob er über eine verborgene Intuition für seine Annahmen verfügte. Offensichtlich war er so tief von ihnen überzeugt, dass er Einwände nicht verstehen konnte. Er war aber auch nicht, jedenfalls nicht immer, in der Lage, sie explizit zu begründen. Schon die Einwände nicht zu verstehen, war ja eine Weise, der Begründung zu entgehen. Auch wenn man Tugendhats explizite Methode der Gedankenführung lernen konnte, diese Intuitionsfähigkeit, wenn es denn eine war, konnte man nicht lernen. Das ist nicht unwichtig, denn nach meiner Erfahrung ist das ganze Leben als philosophisch Argumentierender fortwährend von einer begleitenden Skepsis durchdrungen. Für die Entwicklung einer präsentablen Argumentation ist es aber lebenswichtig, Zweifel beiseite zu stellen, um an ein Ende zu gelangen. Die Einwände, die eine Argumentation begleiten, müssen immer solche sein, die selbst verarbeitet werden können und dem Ganzen dienen. Deshalb geht mit dem eigentlichen Argumentieren ein begleitendes Verständnis darüber einher, was begründet werden muss und was nicht. Ist man in diesem Begleitverständnis unsicher, läuft die ganze Argumentation leicht aus dem Ruder und wird im schlimmsten Fall chaotisch, im weniger schlimmen Fall verliert sie an Eleganz und Stringenz.

Anders gesagt, was ich Begleitverständnis nenne, ist für den Philosophen sowohl lebenswichtig wie schockierend. Dieser intuitive Hintergrund ist eigentlich nicht offen zu legen, weil ab einem bestimmten Punkt der Begründungsbedarf unendlich wird, gegen jedes Argument steht erneut ein Zweifel. Der Vorwurf an Tugendhat, dass er seine letzten Intuitionen nicht einsichtig machen wollte oder konnte, ist deshalb nicht wirklich ein Vorwurf. Vielleicht hätte er sich mehr als forschender Philosoph bekennen sollen als er es tat, und wie andere den Einwänden mit einem Witz anstatt mit Fassungslosigkeit begegnen. Aber das sind persönliche Eigenheiten, die niemand an sich völlig kontrollieren kann.

Unter dem Strich bleibt ein Paradox, das vielleicht nicht untypisch ist für die Begegnung unter Philosophen. So sehr man den Lehrer anhand seiner Methode und Brillanz bewundert und nachahmt, so sehr bleibt der Grund seiner Einsichten und Argumente doch auch im Dunkeln. Die Methode bleibt bestehen und wird praktiziert, die Ergebnisse sind möglicherweise ganz andere. Auch der Grund der Intuitionen, aus denen alles folgt, ist ein anderer und bleibt als solcher unbegründet, ja unerkannt. Und so ist mir Tugendhat am wichtigsten Punkt der Arbeit mit ihm dennoch fremd geblieben, trotz aller biographischen Informationen und persönlichen Kenntnisse. Das ist aber nicht schlecht für die Beziehung unter Philosophen, ja geradezu ein Ansporn für alles Weitere.