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ESSAY

Beckmann, Jan: Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen Universitätssystems


Im Jahre 1239 – die Universität und mit ihr das abendländische Universitätssystem waren gerade mal knapp vier Jahrzehnte alt – verbot der Bischof von Paris in seiner Eigenschaft als Magnus Cancellarius den Studierenden, die libri naturales des Aristoteles zu lesen. Er wollte damit verhindern, dass sie mit einer philosophischen, d. h. rein vernunftbasierten Theorie der Weltentstehung bekannt gemacht würden, die mit dem Dogma bzw. der kirchlichen Lehre von der creatio ex nihilo nicht vereinbar erschien.

Nun, das Verbot war kaum bekannt, als die ebenfalls noch junge Universität von Toulouse aus dem Süden des Landes verlauten ließ, dort würden die Studierenden ungehinderten Zugang zur Physik des Aristoteles erhalten….

Zweierlei wird hier deutlich: erstens, dass die abendländischen Universitäten, kaum gegründet, schon früh durch dirigistische Eingriffe von außen in ihrer Freiheit bedroht wurden, und zweitens, dass ihr Wettbewerb untereinander für die Studierenden von Vorteil sein konnte. Die Konzeption der mittelalterlichen Universitäten hat sich bald als ungewöhnlich zukunftsfähig erwiesen: Im Unterschied zu den Dom- und Klosterschulen des 8.-12. Jahrhunderts, in denen Wissen vornehmlich tradiert wurde (Hl. Schrift, Werke der Kirchenväter, mit wenigen Ausnahmen auch Schriften antiker heidnischer Autoren), bestand das eigentlich Neue der Universitätsgründungen ab ca. 1200 darin, dass neues Wissen etabliert und gelehrt wurde. Hinzu kam, dass die stabilitas loci der Studenten und Professoren der Dom- und Klosterschulen durch die Universitätsgründungen ab 1200 aufgehoben wurde: Dozenten wie Studenten wanderten von Hochschule zu Hochschule, mit der Folge, dass es zu einem bis dahin unbekannten Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden kam. Schon bald war es durchaus üblich, dass ein Dozent, wie etwa der schottische Philosoph und Franziskaner-Mönch Johannes Duns Scotus (ca. 1274-1308), in Oxford studierte, in Paris lehrte und dann einen Ruf nach Köln annahm.

Und heute? Internationale wissenschaftliche Karrieren wie die des Duns Scotus sind immer noch nicht selbstverständlich, und von den deutschen Studierenden geht trotz des Erasmus-Programms nur einer von sieben für ein Jahr ins Ausland. Dabei werden in Deutschland bisher übliche Abschlüsse wie das Diplom derzeit durch das international bekannte Bachelor-/Master-System ersetzt, doch vollzieht sich der Erneuerungsprozess eher administrativ und ökonomisch denn selbstbestimmt und wissenschaftlich. Doch schauen wir näher hin.

Die Universität als Wirtschaftsbetrieb?

Die universitären Rahmenbedingungen haben sich in Deutschland in den vergangenen 50 Jahren dramatisch verändert: Unser Hochschulsystem, traditionell geprägt durch die Ideen der Freiheit der Universitäts-angehörigen und der Einheit von Forschung und Lehre sowie durch die Sicherheit staatlicher Alimentation, befindet sich heute in einem Umbruchprozess bisher nicht gekannten Ausmaßes: Wie die Universitäten als ganze geraten auch die Dozenten zunehmend unter den Druck fremder Zwecksetzungen. Forschung wird hochgradig abhängig von nicht-öffentlichen Drittmitteln. Da die Forschung ständig evaluiert wird, sind viele Forscher gezwungen, eher evaluierungsorientiert und drittmittelorientiert denn frei und unabgängig zu planen.
Infolge des Rückzugs der öffentlichen Hand werden Forschung und Lehre zunehmend den Gegebenheiten des Marktes und den Bedürfnissen und Interessen der Wirtschaft ausgesetzt.

Die Idee der Einheit von Forschung und Lehre gerät mehr und mehr unter Druck, viele Universitäten drohen zu reinen Lehreinrichtungen zu werden, während die Forschung in außeruniversitäre Einrichtungen abwandert bzw. demnächst auf die wenigen „Elite-Universitäten“ konzentriert wird. Es wird vorwiegend nach fachlicher Ausbildung gefragt, personale Bildung tritt in den Hintergrund. Das neue Studiensystem führt, zumindest auf der Bachelor-Ebene, in nicht unerheblichem Maße zur Standardisierung von Wissensinhalten und lässt der individuellen Ausgestaltung des Wissenserwerbs des Studierenden wenig Raum. Hinzukommt, dass die permanente Prüfungssituation der modularisierten Curricula kaum Zeit für eigene wissenschaftliche Wege während des Studiums lässt.


Mit einem Wort: An die Stelle der Universität als staatlicher Institution mit Freiheitsspielraum bei gleichzeitiger Äquidistanz gegenüber Wirtschaft und Staat tritt die Universität als Wirtschaftsbetrieb, dessen Wissensangebote sich – und das möglichst kurzfristig – rentieren müssen.

Elitär statt egalitär?

Bisher waren die deutschen Universitäten in wesentlichen Merkmalen einander gleichgestellt bzw. miteinander vergleichbar: gleiche bzw. vergleichbare Qualifikation der Lehrenden, gleiche Zugangsvoraussetzungen für die Studierenden, gleiche Studiengänge und Examina, gleiche Abschlüsse. Im Vergleich mit ausländischen, insbesondere im Unterschied zu dem hierzulande viel gepriesenen englischen und US-amerikanischen Top-Universitäten, war das deutsche Universitätssystem bisher nicht elitär, sondern egalitär. Das beginnt sich radikal zu ändern. Beispiel Forschung, seit Wilhelm von Humboldt bekanntlich konstitutives Merkmal des deutschen Universitätssystems. Schaut man sich z. B. die beiden jüngst verliehenen Nobelpreise an, so fällt dreierlei auf:

1. Beide Nobelpreisträger sind nicht Lehrstuhlinhaber an einer Universität; sie entstammen vielmehr renommierten außeruniversitären Forschungsinstitutionen: Der Chemie-Nobelpreisträger Gerhard Ertl ist der ehemalige Leiter des Fritz-Haber-Instituts in Berlin, der Physik-Nobelpreisträger Grünberg arbeitet im Forschungszentrum Jülich in Nordrhein-Westfalen.

2. Beide haben den Nobelpreis jeweils für Grundlagenforschungen erhalten: Grünberg mit Arbeiten über das magnetische Verhalten von Eisen- und Chromoberflächen, Ertl mit Untersuchungen zum Mechanismus der industriellen Ammoniaksynthese. Auch wenn man heute weiß, dass beide Grundlagenforschungen äußerst wichtige Anwendungsfelder gefunden haben, so war dies doch zu Beginn alles andere als sicher. Grünbergs Arbeiten – lange Zeit eher als eine ebenso liebenswürdige wie abseitige Sonderforschung betrachtet – haben sich ganz plötzlich als zukunftsweisend für die gesamte Computerindustrie erwiesen, weil auf ihrer Grundlage auf immer kleineren Flächen immer mehr Daten gespeichert werden können. Das alles war nicht vorherzusehen, und es war auch nicht vorgesehen worden.

3. Beide Forscher hätten weder unter dem heutigen universitären Lehr- und Administrationsverpflichtungsdruck noch unter dem Druck, unmittelbar Anwendungsfähiges erforschen zu müssen, ihre grundlegenden Arbeiten durchführen können. Die Jagd nach schnell umsetzbarem Anwendungs- bzw. Verfügungswissen übersieht die in der Geschichte der Wissenschaften immer wieder vorkommende Nichtvorhersehbarkeits- bzw. Überraschungssituation nahezu vollständig.

Angesichts der Abwanderung der Spitzenforschung in außeruniversitäre Forschungseinrichtungen wie die Max-Planck-Institute und des zu Lasten der Grundlagenforschung gehenden Drucks auf die anwendungsorientierte Forschung mit ihren erhofften schnell umsetzbaren Resultaten und der zunehmenden Abhängigkeit der Forschung von der Einwerbung von Industriegeldern gerät das Humboldt-Ideal der „Einheit von Forschung und Lehre“ an den Universitäten zunehmend unter Druck. Der „Ausweg“ scheint eine Elitarisierung weniger Universitäten zu Lasten der übrigen Hochschulen zu sein.

Remedur mit Hilfe von „Elite“-Universitäten?

Weil Politik und Ministerien die Universitäten in Deutschland durch die Bank nicht mehr finanziell angemessen ausstatten können oder wollen, versucht man es neuerdings mit so genannten „Elite“-Universitäten à la Oxford und Cambridge, Harvard, Stanford und Yale. Da diese Universitäten bekanntlich über sehr viel Geld verfügen, folgert man, ihre wissenschaftliche Exzellenz könne nur oder zumindest vornehmlich an diesem vielen Geld liegen, und zieht daraus wiederum den Schluss: Wenn man wenigstens einigen deutschen Universitäten sehr viel Geld gibt, dann werden sie umgehend zu deutschen Oxfords und Yales. Übersehen wird, dass weder Oxford noch Yale (der Vf. kennt beide aus eigener Lehraktivität) gleichsam von heute auf morgen zu „Elite“-Universitäten geworden sind. Vielmehr kann man anhand ihrer Geschichte gut studieren, wie erst langsam und über Jahrzehnte hinweg Fakultät um Fakultät stetig immer besser geworden ist. Exzellenz stellt offenbar kein durch viel Geld kurzfristig erzielbares, sondern ein durch wissenschaftliche Anstrengung über Jahrhunderte gewachsenes Ergebnis dar.

Das deutsche Konzept der „Elite“-Universitäten hingegen unterliegt gleich zwei Irrtümern: erstens dem Fehler, anzunehmen, man müsse nur einfach viel Geld in einzelne Universitäten stecken, um zu derartigen Einrichtungen zu kommen, und zweitens dem Fehler, man könne auf einen Schlag gleich eine ganze Universität zur „Elite“-Universität umwandeln. Fakt ist, dass man in den in Deutschland bisher ausgewählten „Elite“-Universitäten zwar ohne Zweifel eine Reihe von Exzellenz-Fakultäten fördert, gleichzeitig aber auch das an diesen Universitäten ebenfalls vorhandene Mittelmaß der übrigen Fakultäten auszeichnet.

Auf der anderen Seite erhalten Universitäten, die schon immer Exzellenz-Fakultäten vorzuweisen haben, wie etwa – um nur zwei Beispiele stellvertretend für viele zu nennen - die Bonner Universität mit einer Mathematischen Fakultät von Weltruf, oder Köln mit einer der führenden Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland, derzeit keine entsprechende „Elite“-Förderung. Die Beispielreihe ließe sich fortsetzen: von Münster über Hamburg zur Humboldt-Universität in Berlin und von dort über Hannover, Frankfurt, Würzburg bis nach Tübingen: Jede dieser Universitäten verfügt über die eine oder andere (häufig über mehrere) Exzellenz-Fakultäten, die aber infolge der Konzentration der Gelder auf nur wenige „Elite“-Universitäten in den Fördersegen nicht eingeschlossen werden. Es gibt aber in Deutschland bisher keine durchgehend ‚schlechten’ oder ‚guten’ Universitäten, es gibt nur Universitäten mit jeweils sehr guten und weniger auffallenden Fakultäten.

Das wird sich ändern: Universitäten mit guten Fakultäten, die aber nicht das Glück haben, zu den „Elite“-Universitäten gezählt zu werden, werden es in Zukunft sehr viel schwerer haben angesichts der ihnen in immer geringerem Maße zufließenden Mittel. Der ‚Preis’ für die Konzentration der Fördergelder auf wenige Universitäten wird eine forschungsmäßige ‚Ausblutung’ der Mehrheit der übrigen Universitäten sein. Dabei könnte man wiederum von Amerika lernen: Der ‚Preis’ für die „Top Ten“ sind die unzähligen mehr oder weniger unbekannten Colleges und Kleinuniversitäten, von denen niemand spricht, die aber brav und zuverlässig den amerikanischen Bedarf an Akademikern sichern. Die USA – und ähnlich England – können sich die Spitzenuniversitäten nicht zuletzt deswegen leisten, weil die übrigen Hochschulen dafür sorgen, dass es genügend akademisch ausgebildete Fachleute gibt. Pointiert formuliert: Der Preis für die Exzellenz einiger weniger Universitäten ist das Mittelmaß der Mehrheit der übrigen.

Entkopplung der Einheit von Forschung und Lehre

Die skizzierte Tendenz zur Austrocknung der Forschung an der Mehrheit der deutschen Universitäten wird die Einheit von Forschung und Lehre – seit Humboldt das Kennzeichen und im Ausland vielfach nachgeahmte Merkmal der deutschen Universität – gefährden. Und noch ein Weiteres wird deutlich: Zwei von drei „Elite“-Universitäten sind Technische Universitäten (TU München, TU Mannheim, TU Aachen). Traditionell auch in den Geisteswissenschaften exzellierende Universitäten wie Heidelberg oder Tübingen bleiben außen vor. Soll, wenn die Nuklearphysiker die Probleme der Ideenlehre angehen, Platon außen vor bleiben?
Einengung der Forschungsvielfalt durch zunehmende Abhängigkeit von nicht-staatlicher Drittmittelforschung

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich sollen alle Universitäten auch in Zukunft Forschung betreiben, nicht nur der notwendigen Basis für die Lehre wegen, sondern auch in Hinblick auf wirtschaftlich Umsetzbares. Nur: Wenn anstelle des Staates zunehmend die Wirtschaft die Forschungsgelder vergibt, dann werden naturgemäß die Bedürfnisse und Interessen der Wirtschaft die Wahl der Forschungsschwerpunkte dirigieren. Folge: Die Universitäten werden zunehmend Wirtschaftsforschungsinstitutionen. Langfristig sich möglicherweise als wichtig erweisende Grundlagenforschungen kann sich kaum eine Universität mehr leisten, denn dafür braucht es Vertrauen, Risikobereitschaft – und viel Kapital. Statt dessen werden die Universitäten gezwungen sein, kurzfristig erfolgreich erscheinende Forschung zu bevorzugen. Das kann sich sehr schnell auch zum Nachteil der Wirtschaft auswirken.

Um dies zu vermeiden, sollte die Wirtschaft ihre Forschungsgelder an die Deutsche Forschungsgemeinschaft geben und die DFG, wie bisher schon, unter strengen wissenschaftlichen Kriterien die förderungswürdigen Projekte auszeichnen, sei es in der Grundlagen-, sei es in der Anwendungs-forschung. Auf diese Weise wäre gewährleistet, dass das Marktinteresse, das in der Regel stark an kurzfristigen Erfolgen orientiert ist, nicht das allein ausschlaggebende ist. Erkenntnisse, wie sie die beiden Nobelpreisträger herausgefunden haben, dürften ansonsten in Zukunft wohl kaum erzielt, weil nicht hinreichend gefördert werden.

Standardisierung der Lehrinhalte

Das an manchen Universitäten bzw. Fakultäten unseres Landes im Rahmen des sog. Bologna-Prozesses nachgerade im Hauruckverfahren eingeführte Bachelor-/Master-System entspringt dem Gedanken, überschaubare, zeitlich geraffte und international vergleich-bare Studienabschlüsse zu schaffen, so dass der Akademiker von morgen seinen Bachelor beispielsweise in Edinburgh und seinen Master in Palermo erwerben kann. Doch um welchen Preis? Die Bachelor- und Master-Studiengänge haben in der Regel hoch standardisierte Studieninhalte zum Gegenstand. Insbesondere in manchen Bachelor-Studiengängen weiß über kurz oder lang jeder und jede ein und dasselbe. Individuelle Selbstständigkeit, persönliche Neugier, gar das Wagnis, wissenschaftlich eigene Wege zu gehen – das alles wird nicht honoriert resp. auf der Strecke bleiben. Und wenn alle Studierenden dasselbe lernen, dann müssen auch alle Dozenten dasselbe unterrichten. Es gehört keine prophetische Gabe dazu vorauszusagen, dass dies zu einer Regression in die Mittelmäßigkeit führen wird. Die Universität wird zur Fachhochschule. Schon jetzt ziehen sich Institutsleiter und Lehrstuhlinhaber zunehmend aus dem Bereich der Pflichtveranstaltungen der Bachelor-Studiengänge zurück und überlassen das Feld jungen Nachwuchswissenschaftlern/innen, die sich ihrerseits infolge übermäßiger Belastung in der Lehre kaum oder nur mit Mühe durch Forschungsleistungen für eine Professur qualifizieren können.

Entwicklung neuer sog. „Leitbilder“

Angesichts der zunehmenden Schwierigkeit, die nötigen Mittel für Forschung und Lehre auswärts einzuwerben sowie der Versuchung, nur nachgefragte Studiengänge zu fördern und weniger nachgefragte nicht mehr finanzieren zu können, vor allem aber angesichts des zunehmend am umsetzbaren, merkantilen, wirtschaftlichen ausgerichteten Verwendungs- bzw. Verfügungswissen orientierten Lehrangebots sind die Universitäten derzeit damit beschäftigt, so genannte Leitbilder zu entwickeln, die mit Humboldts Idee von der „Einsamkeit und Freiheit“ der Studierenden und der „Einheit von Forschung und Lehre“ immer weniger zu tun haben. Statt dessen „verleitbildet“ sich manche Universität in Richtung Wirtschaftsfachschule.

Letzteres hat vor allem für die Geisteswissenschaften Folgen: Von ihnen wird nicht mehr das ‚Abenteuer des Geistes’, sondern das gesellschaftlich Relevante und wirtschaftlich Umsetzbare verlangt. Am ehesten werden sich darauf die Sozialwissenschaften einstellen, da sie wegen ihrer vielfach empirischen Ausrichtung zumindest den Anschein gesellschaftlicher Relevanz und wirtschaftlicher Bedeutung erwecken können. Den klassischen Geisteswissenschaften – Literatur, Sprachen und Geschichte, oft wird auch die Philosophie dazugerechnet – wird dies nicht gelingen, es sei denn, sie geben ihre wissenschaftliche Identität auf. Die Universität als Ort des Ungeplanten, des Unzeitgemäßen und der intellektuellen Aufsässigkeit wird zunehmend der Vergangenheit angehören. Stattdessen wird das den Universitäten von ihrem traditionellen Selbstverständnis her innewohnende Erneuerungspotenzial wirtschaftlich funktionalisiert.

Ausbildung statt Bildung?

Wenn heute Staat und Politik die Universitäten fremden Zwecksetzungen unterwerfen, so geschieht dies nach Gesetzen, die im Konflikt stehen mit den Regeln wissenschaftlichen Handelns und der Tradition universitärer Freiheit. Der Universität ist es um verantwortbare Ermöglichung von Wissen zu tun, der Politik um die wählerwirksame Verwirklichung von Erfolgen, der Wirtschaft um profitable Marktresultate. Begünstigt und verstärkt wird die Gefahr der Fremdverzweckung der Universität heute durch je eine interne und eine externe Ursache: intern durch die zunehmende De-Subjektivierung und Anonymisierung der Wissensträgerschaft; extern durch finanzielle Abhängigkeiten. Von Letzterem war schon die Rede; zu Ersterem causa brevitatis ein kurzer Hinweis.

Wissenschaft setzt Subjekte voraus

Wenn es im Eingangssatz der Aristotelischen Metaphysik heißt: „Der Mensch strebt von Natur aus nach Wissen“, so ist dies noch ganz dem Paradigma verpflichtet: Wissen hat einen Träger, das Individuum. Das hat sich seither folgenreich geändert. Heute übernehmen anonyme Kollektive die Wissensträgerschaft. Es sind immer weniger Individuen, die Träger dieses Wissens sind, der Gesellschaft als Ganzer bleibt es zunehmend verborgen. Was sich seit Beginn der Neuzeit herausbildet hat, ist der Experte. Verständlich ist der Experte überwiegend nur den anderen Experten, und so bilden sich mit zunehmender Ausdifferenzierung der Wissenschaften in der Neuzeit Gruppen von Individuen, die über ein gemeinsames Expertenwissen verfügen, sog. Scientific Communities. Ziel: Etablierung der sog. Wissens- bzw. Wissenschaftsgesellschaft, welche die Stelle des einzelnen wissenwollenden Subjekts des Aristoteles – gleichsam als eine Art kollektives Subjekt – einnimmt. Folge: Der Einzelne sieht sich immer weniger einbezogen in den Wissensprozess und erfährt sich immer häufiger vor vollendete Tatsachen gestellt. Er erlebt die sog. Wissensgesellschaft hinsichtlich der Trägerschaft von Wissen zunehmend als anonym. Keine Frage: Hier hat die Universität eine zentrale Aufgabe: dem ständig erweiterten Wissen gleichsam das Subjekt wieder zurückzugeben, und mehr noch: das wieder eingesetzte Wissenssubjekt in seiner Autonomie und Selbstbestimmung zu stärken. Doch ist dies mit reiner Wissensvermittlung zu leisten?

Reine Wissensvermittlung oder Anleitung zu selbständigem wissenschaftlichen Denken?

Deutsche Bildungspolitiker berufen sich gerne auf das anglo-amerikanische Universitätssystem als großes Vorbild. Es lohnt sich daher, einen näheren Blick darauf zu werfen. In anspruchsvollen anglo-amerikanischen Bachelor-Studiengängen geht es darum, intellektuelle Disziplin zu fördern, nicht, zumindest nicht in erster Linie, auf eine spätere berufliche oder fachliche Karriere vorzubereiten. Ziel der BA-Studien z. B. in England ist nicht die Vermittlung breiten, möglichst alle Inhalte eines Faches umfassenden Wissens, sondern, wie es z. B. im Oxford University Handbook heißt, „to produce people who understand how to think like philosophers, politicians or economists rather than merely knowing about the subjects“. Der Studierende soll, bevor er Arzt, Richter, Ingenieur oder Naturwissenschaftler wird, eine breite Palette von Wissensgegenständen kennenlernen und sich in verschiedene Methoden wissenschaftlichen Arbeitens einüben („in order to ensure exposure to a variety of ideas and ways of thinking“). Dabei soll die Kombination mehrerer Disziplinen zur geistigen Beweglichkeit („flexibility of mind“) beitragen.

Auch an den „Elite-Universitäten“ in den USA steht im Undergraduate-Bereich die formale Ausbildung im Vordergrund. Statt Wissensinhalte vorzuschreiben, wird der einzelne Student aufgefordert, sein Studienprogramm zunehmend selbst und damit selbstverantwortlich zu gestalten („Yale College requires that each student designs his own program of study“) – ganz im Sinne des Theoretikers der Idee der Universität im angelsächsischen Bereich des 19. Jahrhunderts, des „englischen Humboldts“ Kardinal Newman, der fordert: „Das Wesen (universitärer Ausbildung) besteht in der Formung des Geistes“ („mental formation“). Nicht praktisch verwertbares Wissen also, sondern „freies“ Wissen und formale Bildung sollen vermittelt werden. Die Universität ist nicht einfach der Ort von Wissenschaft und Forschung, sondern der Bildung junger Menschen durch Wissenschaft und Forschung. Die Ausbildung bezieht sich nicht auf kanonisierte Inhalte, sondern orientiert sich an den Bedürfnissen und Interessen des Einzelnen. Die „liberal education“, historische Nachfolgerin der mittelalterlichen „artes liberales“, der „freien Künste“, ist in einem dreifachen Sinne eine „freie“ Erziehung: frei von vorgeschriebenem Standardwissen, frei vom Marktdruck unmittelbarer Verwendbarkeit und frei für die Bedürfnisse des Individuums.
Es ist nachgerade die Distanz der Zielsetzung gegenüber kurzfristigen „Markterfordernissen“ seitens der englischen und US-amerikanischen Ausbildungsziele auf der Undergraduate Ebene, welche einer der Gründe für den Erfolg dieser Universitäten ist. Eine „passgenaue“, „marktkonforme“ „Produktion-nach-Maß“ von Studierenden bzw. Studienabschlüssen ist weder in England noch in den USA Kennzeichen anspruchsvoller universitärer Grundausbildung. Stattdessen wird die seit der Antike bestehende Einsicht verwirklicht, dass der Terminus „wissenschaftlich“ in erster Linie einen Modus der Methode und nicht eine Qualität von Inhalten bezeichnet und insoweit das Können meint, sich selbständig und anspruchsvoll mit Fragen und Problemen zu befassen. Zukunftsfähigkeit durch Kenntnis der Tradition könnte man dies nennen, oder auch Vorbereitung auf berufliche Flexibilität.

Marktgängigkeit oder Marktfähigkeit?

In ihrer Geschichte haben die Universitäten immer wieder vor der Situation gestanden, sich als Kaderschmieden für vorgeschriebene Laufbahnen oder wirtschaftliche Erfolge selbst (miss-)zu verstehen oder von anderen (miss-)verstanden zu werden. Jahrhunderte lang sind es Kirchen und Landesfürsten gewesen, die derartige Erwartungen an die Universitäten herangetragen haben; in unseren Tagen war es bisher der Staat, der dies tat; in Zukunft soll es der Markt sein. Wer es auch immer ist: Marktgängigkeit mag ein Wunsch sein, doch da man den Markt von morgen noch nicht kennt, kann Marktgängigkeit nicht das Hauptkriterium für die Festlegung der universitären Aufgaben in Forschung und Lehre sein. In Wirklichkeit gilt es, nachhaltige Professionalisierung anstelle kurzfristiger Berufsbezogenheit zu erreichen. Spätestens seit es in vielen Einzelwissenschaften einen immer schnelleren Umschlag („turn over“) bisherigen Wissens in neues Wissen gibt, ist nicht die Kenntnis standardisierter und kanonisierter Wissensinhalte, sondern der Erwerb und die Verbesserung methodisch reflektierter Etablierung von Wissen angesagt. Disziplinarität statt Doktrinalität könnte man dies nennen.

„Die Universität hat die Aufgabe, die Wahrheit in der Gemeinschaft von Forschern und Schülern zu suchen“, so Karl Jaspers zu Beginn seiner 1946 angesichts der nationalsozialistischen Katastrophe und des Versagens auch der Universität erschienenen Überarbeitung seiner erstmals 1923 veröffentlichten Schrift „Die Idee der Universität“. Wirkliche Gemeinschaft kann es nur unter Freien geben. Was Wahrheit angeht, so ist Jaspers Philosoph genug, um zu wissen, dass damit die Suche nach der Wahrheit gemeint ist, nicht ihr Besitz. Dazu bedarf es der Freiheit der Lehrenden wie der Lernenden. Marktkonformität kann hierzu nicht als Kriterium dienen, denn der Markt ist nicht wahrheits-, sondern seiner Natur nach erfolgsorientiert. Das Zurichten wissenschaftlichen Wissens und universitärer Lehre unter dem alleinigen oder auch nur vorrangigen Kriterium des Marktes kommt nicht nur einem Selbstmissverständnis der Universität gleich, es ist zugleich der schlechteste aller Dienste, die die Universität dem Markt anbieten kann. Denn der Markt braucht Disziplin, nicht Doktrin, er braucht Menschen, die nicht nur Wissen erworben, sondern auch und vor allem durch Wissen gelernt haben.
Es ist nachgerade die Invarianz der Idee der Universität als einer Gemeinschaft diszipliniert Suchender gegenüber den wechselnden Bedürfnissen des Marktes, die die Universität so aktuell für den Markt macht. Auch der Markt nämlich würde sich selbst missverstehen, wollte er sich doktrinell verstetigen; auch er muss ganz im Gegenteil offen sein für zukünftige Entwicklungen.

Die Universität als permanente Selbst-Reform

Man hat zu allen Zeiten versucht, sich die Universität nach irgendwelchen externen „Bedürfnissen“ zurechtzurichten und hat das häufig „Reform“ genannt. Die Universität kann man nicht durch Beschränkungen von außen „reformieren“, ohne ihre Idee zu zerstören. Die Universität ist selbst ihre permanente Reform, ihr Wesen besteht darin, sich selbst Grenzen zu setzen. Dabei vollzieht sich ihr Verhältnis zur Tradition als Rezeption durch Transformation. Von außen herangetragene Beschränkungen universitärer Freiheit sind ausnahmslos begründungspflichtig, sie bedeuten vielfach nicht Aufbruch, sondern Abbruch, nicht autonome Selbst-, sondern heteronome Fremdbestimmung. Nur universitäre Freiheit ermöglicht den Aufbruch ins Unbekannte. Experimentieren ist gleichsam das „Atmen“ der Universität, dabei erforderliche Grenzziehungen durch kritische wissenschaftliche Selbstkontrolle sind nachgerade ein Grundmerkmal derselben.
Wissenschaft experimentiert mit dem Ein- und Abgrenzen und zieht dabei ständig neue Grenzen. Zugleich tut sie dies innerhalb von Grenzen: Man kann nicht wissenschaftlich mit Grenzen experimentieren, ohne Grenzen einzuhalten. Nur: Die Grenzen, mit denen Wissenschaft experimentiert, von denjenigen zu unterscheiden, innerhalb derer sie experimentiert, bildet eine der schwierigsten Herausforderungen an die Wissenschaftlergemeinschaft. Sie muss sich ihr gleichwohl stellen. Um dies zu können, muss sie beides voneinander zu unterscheiden wissen.

Die Zeiten, in denen man vom 6. bis zum 26. Lebensjahr lernt, um das Erlernte dann 40 Jahre beruflich zu verwenden, sind spätestens seit dem schnellen turn over des Wissens in vielen Disziplinen endgültig vorbei. Für die Zukunft ist weniger fachliche Ausbildung denn formale Bildung verlangt. Studierende müssen anhand der Analyse der Problem von heute lernen, sich auf die Lösung der Probleme von morgen durch flexible Professionalisierung vorzubereiten.. Man fixiert sich nicht auf einen Markt, der sich zum Zeitpunkt des Studienabschlusses möglicherweise schon wieder verändert hat, sondern bereitet sich durch selbstbestimmtes paradigmatisches Lernen auf z. T. unerwartete künftige Herausforderungen und Aufgaben vor. Dauerhafte Professionalisierung statt kurzfristiger Berufsfeldbezogenheit könnte man dies nennen.

Und die Zukunft? Diesbezüglich gilt das Wort Antoine de Saint-Exupérys: „Wir können die Zukunft nicht vorhersehen; aber wir müssen sie möglich machen“.

UNSER AUTOR: Jan P. Beckmann ist emeritierter Professor der Philosophie an der Fern-Universität Hagen.