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POSITIONEN

Jürgen Goldstein:
Taylor, Charles

Charles Taylor und die Unversöhntheit der Moderne
Dargestellt von Jürgen Goldstein

Nach Max Weber besteht der Preis, den wir für den Fortschritt der rationalen Wissenschaft zu zahlen haben, in einer Entzauberung der Welt. Wo Religion war, ist nun aufgeklärter Skeptizismus. Wo Bedeutsamkeiten waren, sind nun Fakten. War die Welt ehemals ein Geheimnis, ist sie nun effektiv genutztes Rohmaterial für den technischen Fortschritt. Modernität ist in ihrem Kern eine Leistung des Verzichts. Ihre rationalen Erfolge verdanken sich einer Askese. Wer modernistisch Erfolg haben will, so scheint es, muss auf Sinnerfüllungen verzichten.

Doch dieser anhaltende Modernisierungsschub ist nicht frei von Spannungen. Krisen sind ihr Ausdruck. Wo die moderne Identität sich zu banalisieren droht, kehrt der Wunsch nach einer religiösen Beheimatung zurück. Wo die Missachtung ökologischer Notwendigkeiten unsere Lebensbedingungen gefährdet, entsteht das Bedürfnis einer emphatischeren Naturverbundenheit. Wo das isolierte Individuum seine Zusammenhangslosigkeit erfährt, erstarken gruppenbildende Traditionalismen.

Diesen Spannungen an der Bruchlinie zwischen alter und neuer Welt ist Charles Taylor in seinem Werk von Beginn an nachgegangen. Seiner Verlustempfindlichkeit gegenüber alten kulturellen Selbstverständnissen verdanken wir weit ausholende Werke, welche die Triumphe und die Fragwürdigkeiten der Moderne durch einen Rückgang auf die Geschichte ihrer Entstehung zu erhellen suchen.

1931 in Montreal geboren, wuchs Taylor als Sohn einer französischsprachigen Mutter und eines englischsprachigen Vaters auf. Nachdem er zunächst bis 1952 an der McGill Universität in Montreal Geschichte studiert hatte, ging er nach England, um in Oxford das Studium der Politik, der Philosophie und der Wirtschaft aufzunehmen. Dort lernte er nicht nur die von Wittgenstein inspirierte analytische Sprachphilosophie kennen, sondern eignete sich auch die Existentialphänomenologie Merleau-Pontys an. War er bilingual aufgewachsen, setzte sich diese Spannbreite nun also intellektuell fort, indem er mit unterschiedlichsten philosophischen Denktraditionen bestens vertraut wurde. Er engagierte sich in England für die politische Linke und gab – u. a. zusammen mit Doris Lessing – die linksorientierte Zeitschrift Universities and New Left Review heraus, die später zur New Left Review wurde. 1961 promovierte er bei Isaiah Berlin mit der Studie The Explanation of Behaviour (dt.: Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen) und kehrte anschließend nach Kanada zurück, wo er an der McGill Universität bis zu seiner Emeritierung politische Philosophie lehrte. Er nahm Gastprofessuren an den Universitäten in Oxford, Princeton, Berkeley, Frankfurt am Main und Jerusalem wahr. Wiederholt engagierte sich Taylor politisch, z. B. mit seinem Vorhaben, für das französischsprachige Quebec 1990 den verfassungsrechtlichen Status einer „Gesellschaft mit besonderem Charakter“ zu erwirken. Unter den Auszeichnungen, die Taylor bislang zugesprochen worden sind, ist der ihm 2007 verliehene Templeton-Preis der bedeutendste.

Interpretationen des Menschen

Taylors frühe Arbeit über die Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen enthält eine Einsicht, die sich als für sein gesamtes Werk bestimmend erweisen sollte: Der Mensch ist ein sich selbst interpretierendes Tier. Dabei kommt es auf die Verschränkung von Interpretation und Interpretierendem an, da das Bild vom Menschen nichts ist, was diesem als etwas von ihm Unabhängiges entgegentritt. Vielmehr ist jede Interpretation des Menschen Ausdruck einer sich geistesgeschichtlich ermöglichenden Perspektive. Damit eröffnet sich das Feld der sich in der Geschichte ablösenden Selbstverständnisse des Menschen, dem sich Taylor gleichsam als ein Archäologe humaner Selbstinterpretationen in umfangreichen Studien gewidmet hat. Dennoch ist Taylor nicht von einem Philosophen zu einem Historiker mutiert. Er ist kein bloßer Chronist der sich ablösenden Selbstverständnisse des Menschen. Vielmehr richtet er seinen Blick auf die Entstehungsverhältnisse der modernen Identität, um diese von Verkrustungen, Verengungen und Fehldeutungen zu befreien. Der Mensch ist mehr als die Summe der Interpretationen, die über ihn im Umlauf sind. Taylors Kritik an dominant gewordenen Deutungsgewohnheiten hat somit ein emanzipatorisches Ziel.

Hegel und das Dilemma der Moderne

Um sich der Entstehungsbedingungen der modernen Identität zu vergewissern, hat Taylor zunächst eine Gesamtdarstellung der Philosophie Hegels unternommen. 1975 erschien seine Studie Hegel; die drei Jahre später vorliegende Übersetzung machte Taylor im deutschsprachigen Raum bekannt. Zwar rekonstruiert Taylor das System Hegels vornehmlich werkimmanent, aber darüber hinaus verdeutlicht er die epochale Herausforderung, auf die Hegel mit seinem System reagieren wollte.

Es waren zwei unterschiedliche Strömungen, die für Hegel unvermittelt nebeneinander standen: Auf der einen Seite formierte sich der aufgeklärte Rationalismus, auf der anderen Seite die Romantik. Kant als dem Wegbereiter des aufgeklärten Denkens stand Herder gegenüber, der nach den mythisch-poetischen Anfangsgründen der Menschheit fragte. Mathematisierte Newton die Naturwissenschaft, opponierte Goethe gegen diesen neuen Zeitgeist, der das Naturgeheimnis nachzustammeln versuche. Während die idealistische Philosophie nach dem gültigen System strebte, machte sich Novalis auf die Suche nach der Blauen Blume. Für Hegel zeichnete sich bereits ab, dass die romantische Welt des Ausdrucks und der Innerlichkeit der rationalistischen Weltsicht unterliegen wird. Dennoch wagte er die Synthese, indem er die Vorstellung von der Natur als dem Ausdruck des Geistes mit dem Streben nach der rationalen Autonomie des Subjekts zu verbinden suchte.

Hegel wollte die zerrissene Welt versöhnen. Für Taylor ist es von hoher diagnostischer Bedeutung für das gegenwärtig zunehmende Unbehagen an der Moderne, dass diese Synthese Hegels gescheitert ist. Denn mit diesem Scheitern ist unserer Gegenwart eine Unversöhntheit vermacht worden. Indem eine durch und durch rationalisierte Moderne den Ausdruck einer romantischen Innerlichkeit in das Private abgedrängt hat, wird das Dilemma in die Person hineingetragen: Wir sind Technologen und Romantiker zugleich, aber romantisch und ästhetisch sensibel nur im privaten Leben, rationalistisch und instrumentalistisch dagegen im öffentlichen. Unsere Kultur ist daher widersprüchlich und unversöhnt. Hegels Dilemma ist unser Dilemma.

Die Geschichte der Innerlichkeit

In Anlehnung an Wittgenstein sagt Taylor einmal, ein Bild halte uns gefangen. Die Dominanz der modernen Naturwissenschaften zwänge uns eine Interpretation unserer selbst auf, die reduktionistisch sei und unser Selbstverständnis unzulässig limitiere. Wertvorstellungen würden ins Private abgedrängt, und subjektive Ressourcen könnten so für politische Gestaltungen nicht genutzt werden.

Um dieser Engführung zu entkommen und die verkrampften Zerrbilder unserer selbst korrigieren zu können, hat Taylor nach seinem Hegel-Buch in einem zweiten großen Anlauf weiter ausgreifend nach den Entstehungsbedingungen der modernen Identität gefragt. Auf seiner Suche nach den Quellen des Selbst – so heißt sein nächstes umfangreiches Werk, das 1989 unter dem Titel Sources of the Self: The Making of the Modern Identity erschien – ist Taylor bis auf die Anfänge der abendländischen Geschichte bei Homer zurückgegangen. Dabei versucht er eine Diagnose, wie es zu dem, was er die Verstümmelung des modernen Subjekts nennt, kommen konnte.

Sei Homer noch von einem Menschenbild ausgegangen, bei dem das heroische Individuum von fragmentierten Triebkräften geleitet werde – etwa göttlichen Eingebungen oder autonomen Begierden – , so habe Platon bereits eine Zentrierung oder Vereinheitlichung des moralischen Selbst durchgesetzt. Die Seele ist für Platon ein zwar hierarchisch gestuftes Vermögen – aufgeteilt in Begehrlichkeit, Mutartigkeit und Vernunft –, aber trotz dieser Staffelung ist sie das einheitliche Handlungszentrum der Person. Bei dem Versuch, über die eigenen Triebkräfte eine vernünftige Herrschaft zu erlangen – der Beginn der Moralphilosophie – ist das Subjekt aber nicht auf sich allein gestellt. Vielmehr gilt es, kraft der Vernunft die vom Menschen unabhängige Ordnung des Guten zu erkennen, um sich nach ihr ausrichten und die Vorherrschaft der Vernunft innerhalb der Seele festigen zu können.

Die entscheidende Wende innerhalb der Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses ist nach Taylor von Augustinus vollzogen worden. Bei dem Autor der Confessiones habe eine schicksalhafte Wende nach innen stattgefunden, in die Intimität der Person, wo die Wahrheit zu finden sei. Für Augustinus ist der Fluchtpunkt dieser Innenschau die Erfahrbarkeit Gottes im tiefsten Inneren seines Selbst. Dieser Entdeckung einer Innerlichkeit der radikalen Selbstreflexion entspricht in den Augen Taylors eine grundsätzliche Abwertung der äußeren Welt. Augustinus habe so einen verhängnisvollen Weg eröffnet, der – auf lange Sicht gesehen – die Pathologien des modernen Subjekts mitbegründet habe. So habe Descartes – in der Linie des Augustinismus – die Verinnerlichung des Subjekts auf in die Moderne einweisende Art verschärft. Es bilde sich bei ihm das ‚punktförmige‘ oder ‚neutrale‘ Selbst heraus, dessen Haupteigenschaft die Objektivierung alles Wirklichen ist. Die Welt werde einem Rationalismus unterworfen, der eine Anerkennung ihrer Güte nicht zulässt. Desengagement ist die Folge: Es gibt nichts außerhalb des Subjekts, was an sich einen Wert darzustellen vermag, der uns zu einem Engagement verpflichtet. War der Antike eine an sich bestehende Ordnung des Guten noch vertraut, hat die moderne Innerlichkeit den Bezug zum an sich Guten verloren. So hat z. B. erst der objektivierende und neutralisierende Blick die Natur zu einer ausschließlichen Ressource unserer Verwertungswünsche werden lassen.

Das aus dieser Entwicklung hervorgegangene Subjekt ist für Taylor ein verkümmertes: Seine Freiheit ist leer. Es ist auf autistische Weise in sich selbst eingeschlossen. Sein Merkmal ist objektivierende Kontrolle. Ohne Bezug zur Religion und zur liebenden Anerkennung des an sich Guten schrumpft es zu einem Ich-Punkt zusammen. Auf diese Weise erleidet der Mensch einen Horizontverlust, da er über keine Anschauungsweisen des Guten mehr verfügt, die mehr sind, als private Vorlieben und Wünsche.

Die romantische Bejahung der Welt

Taylors philosophisches Hauptanliegen besteht darin, angesichts der von ihm diagnostizierten Krise der Moderne dem verstümmelten Menschen neue Quellen des Guten zu erschließen und diese moralisch wie politisch fruchtbar werden zu lassen. Schon in seinem Buch Quellen des Selbst hat er auf die Bedeutung des romantischen Widerspruchs gegen die Dominanz des Rationalen hingewiesen. Die Rehabilitierung des Affekts fördert zwar auf eigene Weise eine moderne Innerlichkeit, betont aber zugleich das Vermögen des Menschen, von der äußeren Welt affiziert zu werden.

Diesen Weg sucht Taylor fortzusetzen, indem er einen Neoromantizismus als Antwort auf die Krise der Bejahung der guten Welt entwirft. Dabei handelt es sich nicht mehr um eine Erkundung einer objektiven Ordnung des Guten im klassischen Sinne einer öffentlich zugänglichen Realität. Vielmehr ist eine zeitgenössische Ordnung des Guten allein durch eine persönliche, subjektive Resonanz erschließbar. Eine Ordnung des Guten kann daher nicht rational begründet, sondern allein hermeneutisch erschlossen werden. Taylor sucht daher nicht – und die Metaphorik ist hier aufschlussreich – nach einem Fundament, auf dem das Ich zu stehen vermag, sondern nach Quellen, die das Selbst zu beleben vermögen.

Hierbei kommt Taylor die Kraft der Kunst zu Hilfe, welche einen Raum eröffnen soll, in dem das Gute erfahrbar werden kann. Schon die Leistung der klassischen Romantiker bestand darin, die Welt zu romantisieren, also dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen und dem Alltäglichen einen hohen Sinn zu verleihen. Romantik ist nichts passiv Erfahrenes, sondern vielmehr etwas aktiv Erzeugtes. In diesem Sinne ist es unsere Aufgabe, die Welt so zu sehen, dass sie als eine gute Welt erscheint. Es kommt dabei, wie Taylor betont, auf unsere Haltung an: Die Güte der Welt hängt davon ab, ob wir in der Lage sind, sie als gut zu bejahen.

Wenn für die Romantik gilt, dass sie die Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln ist, dann verwundert es nicht, auch bei Taylor einen Bezug zur Religion auszumachen. Die moderne Verstümmelung des Individuums ist für ihn die größte spirituelle Herausforderung der Gegenwart. Schon in seiner Vorlesung über William James, erschienen unter dem Titel Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, hat Taylor auf die Legitimität religiöser Perspektiven in der Moderne hingewiesen. In seinem neuesten, 2007 erschienenen Werk A Secular Age ist er dem säkularen Selbstverständnis der Moderne und den spirituellen Defiziten der Gegenwart nachgegangen.

Leitmotivisch kommt Taylor darin immer wieder auf die von Max Weber beschriebene Entzauberung der Welt zu sprechen. Aber er widerspricht der Gott-ist-tot-These, wie sie Nietzsche für unsere Zeit aufgestellt hat, und versucht auf Präsenzen des Religiösen hinzuweisen, die man erkennen könne, sofern man ein sensibles Gespür dafür entwickle. Die Erschließung der Quellen des Religiösen für ein säkulares Zeitalter wäre demnach die letzte Entkrampfung des in sich zusammengezogenen Ichs zu einem eingebundenen Selbst.

Anerkennung der Differenz

Der entwicklungstheoretische Imperativ der Romantik lautete: Werde zu einem authentischen Selbst! Die Person als unersetzbare Quelle des eigenen Gefühls, des eigenen Erlebens, sollte zu einer unverwechselbaren Individualität führen. Gilt das auch für Kollektive? Herder hatte gefordert, die Deutschen sollten lieber echte Deutsche werden, anstatt durch Nachahmung zweitklassige Franzosen abzugeben. Eine politisch fruchtbare und romantisch-kollektive Identität, die nicht ins Irrationale abgleitet, ist seither das uneingelöste Versprechen der Romantik geblieben. Wie steht es aber mit der kollektiven Kultur von Minderheiten?
Taylors umfangreiche Recherchen zur Entstehung der modernen Identität münden in dem Versuch, die Pathologie des verkümmerten Ichs durch eine Erneuerung von dessen Eingebundenheit in Kollektive zu korrigieren. Wie sich nun das Selbst gegen Reduktionismen aller Art zu erwehren habe, so sind für Taylor bestehende kollektive Selbstverständnisse vor staatlichen Übergriffen zu schützen. Sein politisches Engagement und sein theoretisches Profil innerhalb der Diskussionen der politischen Philosophie resultieren aus diesem Anspruch.

Taylor hat sich daher theoretisch wie praktisch dafür stark gemacht, kollektive Selbstverständnisse anzuerkennen und deren Belange durch eine geforderte „Politik der Differenz“ zu schützen. Gegen die rechtsstaatliche Neutralität sucht er die Rechte kultureller Gruppierungen zu wahren. Während die Politik der allgemeinen Würde auf etwas Universelles ziele, auf etwas, das für alle gleich sei, auf ein identisches Paket von Rechten und Freiheiten, verlange die Politik der Differenz, die unverwechselbare Identität und Besonderheit eines Individuums oder einer Gruppe anzuerkennen. Ein kulturneutraler Liberalismus, der allein auf dem Fundament der Vernunft zu ruhen suche, bedeute für die Vielfalt humaner Selbstverständnisse der Individuen und ihrer Kollektive eine restriktive Reduzierung ihrer legitimen Möglichkeiten.

Taylor hat an der Frage, wie mit der frankophonen Minderheit in Kanada, die in der Provinz Quebec die Mehrheit bildet, umzugehen ist, seine Politik der Differenz nicht nur erläutert, sondern auch in politische Praxis umzusetzen gesucht. Gegen den alleinigen Rechtsanspruch der Canadian Charter of Rights engagierte sich Taylor für einen Verfassungszusatz, der Quebec als eine „Gesellschaft mit besonderem Charakter“ ausweisen sollte. Einer derartigen Neubestimmung gemäß sollte gegen die Dominanz des angelsächsischen Kanada aufgrund einer Politik der Differenz der Provinz Quebec das Recht zugestanden werden, die Authentizität der frankophonen Kultur durch Gesetze zu schützen, die durchaus im Widerspruch zur Canadian Charter of Rights stehen. Französisch sprechende Kanadier sollten demnach in Quebec ihre Kinder nicht auf englischsprachige Schulen schicken dürfen. In Betrieben mit mehr als 50 Arbeitnehmern sollte Französisch die einzuhaltende Sprache ausmachen. Taylors Ziel war es, die kulturelle Selbsterhaltung der frankophonen Kanadier durch Maßnahmen zu gewährleisten, die kollektive Ziele über Individualrechte stellen. Der Politik der Differenz, die kulturelle Eigenheiten ausdrücklich anerkennt, entspricht nach dieser Auffassung nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht zur Erhaltung kollektiver Traditionen.

Jürgen Habermas hat dem widersprochen. Es gebe, so sein Einwand, keinen kulturellen Artenschutz als Verpflichtung des liberalen Rechtssystems. Das sei auch gar nicht nötig. Der politische Liberalismus sei zwar kultur- und wertneutral, werde aber nicht von einer aseptischen Vernunft konstituiert. Eine liberale politische Kultur verfüge durchaus über die Einsicht, welchen Wert die Vielfalt und Integrität der verschiedenen koexistierenden Lebensformen einer multikulturellen Gesellschaft besitze. Für den Erhalt kultureller Eigenarten könne man daher in einer liberalen Gesellschaft durchaus werben, aber es ließe sich kein Rechtsanspruch erheben, der den Erhalt zu garantieren suche.

Taylor ist mit seinem Ansinnen, in Kanada einen rechtsverbindlichen Schutz kultureller Eigenarten der frankophonen Minderheit einzuführen, gescheitert. An der Forderung, kollektive Identitäten vor wertneutralen Liberalismen zu schützen, hält er dennoch fest.

Kommunitarismus versus Liberalismus?

Taylors Position wird oftmals dem Kommunitarismus zugezählt – sein Eintreten für den Schutz der kollektiven Identität der frankophonen Kanadier spricht offensichtlich dafür. Dennoch ist die damit vollzogene Abgrenzung vom politischen Liberalismus, der verfahrenstechnisch operiert und auf dem Vermögen des Individuums als Bürger fußt, vorschnell und irreführend. Wenn es das implizite Ziel von Taylors Werk ist, auf das ungelöste Dilemma einer gespaltenen Kultur hinzuweisen, um den von Hegel nicht erfüllten Versöhnungsbedarf anzumahnen, dann greift jede Lagerzuweisung zu kurz.

Stattdessen ist Taylors Denken vielmehr von einem integrativen Impuls getragen. Zwar weist er mit aller Schärfe aus einer kommunitaristischen Perspektive auf Aporien des politischen Liberalismus hin, aber er selbst hat in dem signifikanten Beitrag „Aneinander vorbei“ für den von Axel Honneth herausgegebenen Sammelband über Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften (Frankfurt/M. 1993) betont, die allzu handlichen Begriffe ‚liberal‘ und ‚kommunitaristisch‘ seien wohl besser fallenzulassen. Darin ist Taylor Hegelianer geblieben: Die uns auferlegte Herausforderung ist die Vermittlung der im Einzelnen durchaus berechtigten, aber isoliert gegeneinanderstehenden Positionen. Wer auf der Lagerbildung beharrt und von Taylor die eindeutige Zusage erwartet, ob er ein Kommunitarist sei, der den politischen Liberalismus ablehne, unterschreitet das gegebene Problemniveau. Taylor möchte den Ansatz eines politischen Liberalismus, wie ihn etwa John Rawls vertritt, nicht apodiktisch ablehnen. Vielmehr geht es ihm ausdrücklich um eine komplexere und reichere Form des Liberalismus. Die Verkrustungen der Debatte um den politischen Liberalismus und den Kommunitarismus gilt es demnach aufzubrechen. Taylors Denken ist integrativ, nicht exklusiv.

Taylors Bedeutung für die politische Philosophie besteht daher nicht vorrangig in angebotenen Lösungen für die Konflikte der Moderne. Vielmehr kommt es auf die Diagnose der Aktualität eines Konflikts an, den Hegel gesehen, aber nicht bewältigt hat. Die Unversöhntheit von Rationalismus und Romantik, Wissenschaft und Weltbejahung, Ich und Selbst, Innerlichkeit und äußeren Werten, der Bruch also, der die Moderne zu spalten droht, ist die Aufgabe, die zu übernehmen Taylor uns anmahnt. Auch für den Fall, dass man seinem Neoromantizismus nicht zu folgen und seine Nähe zur religiösen Spiritualität nicht zu teilen vermag – die Bruchlinien der Moderne sind durch Taylors Denken deutlicher zutage getreten.

Bücher von Charles Taylor

Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt/M. 1975;
Hegel, Frankfurt/M. 1978;
Hegel and Modern Society, Cambridge 1979;
Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1988;
Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1994;
Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt/M. 1995;
Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt/M. 2002;
Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie, Frankfurt/M. 2002;
A Secular Age, Cambridge/Mass. u. London 2007.

Sekundärliteratur:

H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a. M./New York 1998.
J. Tully (ed.), Philosophy in an Age of Pluralism. The Philosophy of Charles Taylor in Question, Cambridge 1994.

UNSER AUTOR:

Jürgen Goldstein hat sich 2005 an der Universität Bonn im Fach Philosophie mit einer Arbeit über Kontingenz und Rationalität bei Descartes. Eine Studie zur Genese des Cartesianismus (Meiner Verlag: Hamburg 2007) habilitiert. Über Charles Taylor erschien von ihm zuletzt der Aufsatz „Moralische Topographie. Charles Taylors Wiedergewinnung einer Ordnung des Guten“ (in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 55, 2007, 361-387).