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ESSAY

Früchtl, Josef: Ist Kulturrkritik heute noch möglich?

 
Die Ausweitung des Kulturbegriffs

Wer heute von Kultur spricht, sieht sich nicht nur mit einer massiven Ausweitung, sondern auch einer markanten Umpolung der Bedeutung dieses Wortes konfrontiert. Stets noch meint es zunächst jenen abgezirkelten Bereich, in dem vor allem die Kunst zuhause ist, aber auch die Wissenschaft und, als vermittelnde Größe, die Philosophie. Es meint jenes eingefriedete Reich, für das das Bürgertum des 19. Jahrhunderts die Formel vom Wahren, Schönen und Guten prägt. Für Kultur in diesem Sinne sind Museen, Theater- und Opernhäuser, Programmkinos, Kunstvereine, Buchläden und die Feuilletonseiten der Zeitung, schließlich Ressorts und Ministerien zuständig.

Dem steht eine weite Bedeutung gegenüber, nach der Kultur kein Begriff, sondern ein Inbegriff alles dessen ist, was von Menschen gemacht wird. Sie ist in dieser weiten, holistischen Bedeutung synonym mit „Lebensform“. Und diese umfasst nicht nur den sozialen Bedeutungsaspekt. Auch die Rede von „Monokultur“, „Kulturlandschaft“ und „Bakterienkultur“ ist in diesem Kontext möglich.

Für diese Ausweitung des Kulturbegriffs gibt es unterschiedliche Gründe. Soziologisch und ökonomisch relevant ist das Aufkommen der sogenannten Massen- und später der Konsumgesellschaft in den westlichen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts. Was einmal hohe Kultur war, also Kultur im engen Sinne, wird nun zu einem Konsumgut der Massen, Die Massengesellschaft erfordert eine industrielle Produktion der Kultur, eine „Kulturindustrie“, so der von Horkheimer und Adorno in den 1940er Jahren geprägte Begriff. Ende der 80er Jahre schiebt sich dann der Begriff der „Kulturgesellschaft“ und das Stichwort von der „Ästhetisierung der Lebenswelt“ nach vorne. Ideen- und wissenschaftshistorisch tragen zur selben Zeit der französisch inspirierte Postmodernismus und die angelsächsisch praktizierten cultural studies zur Ausweitung des Kulturbegriffs bei.

Es gibt dafür aber auch politische Gründe – worauf insbesondere Terry Eagleton aufmerksam gemacht hat. Für die nationalen Befreiungsbewegungen, die seit den 1950er Jahren von Vietnam bis Angola um sich greifen, und auch für die Frauenbewegung, zumindest in einer bestimmten Phase, sind es nicht mehr nur Begriffe wie Eigentum, Armut und Ausbeutung, sondern Begriffe der Identität, der (eigenen) Geschichte und der (eigenen) Sprache, die bestimmend werden. Der Akzent des globalen Emanzipationsdiskurses verschiebt sich von der Politik auf die Kultur, auf die je eigene Lebensform. Die politische Linke eignet sich somit eine Begrifflichkeit an, die, auch daran erinnert Eagleton, in der Rechten schon lange zuhause ist und in unseren Tagen unter der Regentschaft der US-amerikanischen Neokonservativen zur Rechtfertigung einer Politik diente, angesichts derer Eagleton nicht zögert, sie „barbarisch“ zu nennen. Damit fällt das Stichwort, das es ihm erlaubt zu sagen, dass die Neokonservativen sich in dieser Hinsicht mit ihren Feinden treffen. Als wissenschaftlich-philosophische Zeugen führt er Leo Strauss und Samuel P. Huntington an. „In der Welt nach dem Kalten Krieg,“ so kann man im Kampf der Kulturen (1) lesen, „ zählen Flaggen und andere Symbole kultureller Identität wie Kreuze, Halbmonde und sogar Kopfbedeckungen; denn Kultur zählt.“

Kultur und Zivilisation

Dem Begriff der Kultur widerfährt in diesem Kontext aber nicht nur eine semantische Ausweitung, sondern auch eine Umpolung. Seine Opposition zum Begriff der Barbarei löst sich auf. Stattdessen kehrt, wenn Eagleton recht hat, eine andere Opposition wieder, diejenige von Kultur und Zivilisation. Das ist insofern überraschend, als das Begriffspaar Kultur-Zivilisation eine Grundlinie der klassischen, mit Immanuel Kant beginnenden Kulturkritik vorgibt und zudem ein sehr deutsches Begriffspaar bezeichnet. Kant appelliert ja nicht mehr wie Rousseau an die Natur. An die Stelle einer externen, tritt vielmehr eine interne Unterscheidung, diejenige zwischen Kultur und Zivilisation. Das Unterscheidungsmerkmal liegt in die Moralität: Solange wir uns nur (aus letztlich egoistischen Motiven) den geltenden Regeln einer durch Gesetze und Anstandsregeln ausgezeichneten Gemeinschaft gemäß verhalten, sind wir lediglich zivilisiert; kultiviert sind wir erst, wenn wir das auch aus Überzeugung tun. Nur im Deutschen ist in der Folge Zivilisation ein Antonym zu Kultur und eine spezifische Ideologie geworden. Und sie wird nun offenbar seit den 1960er Jahren entaristokratisiert und entnationalisiert. Der Kultur wird erneut Vorrang vor der Politik zugesprochen.


Wiewohl diese Privilegierung aber nichts Neues ist, verschieben sich die semantischen Gewichte enorm. Während nämlich das Konzept von Zivilisation für Werte wie Universalismus, Autonomie, Individualismus, argumentativer Rationalität, Selbstzweifel und Ironie steht, steht dasjenige der Kultur für das Gegenteil dieser Werte, für „all jene unreflektierten Loyalitäten und Zugehörigkeitsgefühle, für welche Männer und Frauen unter extremen Umständen bereit sind zu töten.“ (2). Die Rechtfertigung für das, was man tut, liegt nicht darin, rationale, das heißt von anderen nachvollziehbare Gründe zu geben. Der einzige Grund, den Kulturalisten geben, ist schlicht der Verweis auf die eigene Kultur; man tut, was man tut, weil man es in der eigenen Lebensgemeinschaft immer so tut.

Und dieser Kulturalismus ist nicht nur in der Lebenswelt, sondern auch in der Wissenschaft zuhause. Der cultural turn in den Geisteswissenschaften ist eine Wende in dem Maße, in dem sich nun alles um die Kultur dreht, und dies impliziert eine Abwendung, zumindest eine Distanzierung vom politischen und gesellschaftlichen Denken. Eagleton kann daher nicht umhin, eine „ironische Affinität“ zu konstatieren auch zwischen der kulturalistischen Ausrichtung des sogenannten Postmodernismus und dem radikalen Islam. Und sofern dieses Verständnis von Kultur eine neue Gegenüberstellung zu demjenigen der Zivilisation eröffnet, kann man eine weitere „ominöse Wende“ konstatieren: diejenige von Kultur in Barbarei. „Culture ist the new barbarism.“ (3)

Kultur als Barbarei

Diese These trägt Eagleton natürlich in polemischer Absicht vor. Er will in aufrüttelnder Weise auf skandalöse Querverbindungen innerhalb unseres gängigen Diskurses aufmerksam machen. In der Tradition der Kritischen Theorie Frankfurter Provenienz ist die These aber keineswegs überraschend. Walter Benjamins Satz: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“, wird von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ja zu einer eigenen Geschichtsphilosophie ausgeweitet. Die These ist aber auch vor einem weiteren Hintergrund unserer Ideengeschichte nicht überraschend. Es ist nämlich Friedrich Schiller, der sie wenn nicht als erster, so doch an prominenter Stelle formuliert und in den deutsch-idealistisch geprägten Diskurs über die Kultur einführt.

Der These, dass Kultur und Barbarei keinen ausschließenden Gegensatz bilden, wird bereits in der Anthropologie, der Rechtstheorie und Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts vorgearbeitet. Michel Foucault hat jedenfalls in seinen Vorlesungen zur Verteidigung der Gesellschaft zu zeigen versucht, dass die Geschichtsschreibung dieses Jahrhunderts die Figur des Barbaren einführt und derjenigen des Wilden gegenüberstellt, um letztlich den barbarischen Akt der konstituierenden Revolution zu legitimieren.

Diesem französisch geprägten historiographischen Diskurs tritt ein anthropologischer zur Seite, der den Gegensatz von Wildem und Barbar geschichtsphilosophisch zugleich in ein Drei-Stufen-Modell einbaut. So unterscheidet Johann Reinhold Forster, der, zusammen mit seinem Sohn Georg Forster, Kapitän James Cook 1772 bis 1775 auf seiner zweiten großen Seereise begleitet, zwischen einer wilden, einer barbarischen und einer gesitteten Entwicklungsstufe der Menschheit und sieht zwei verschiedene Wege für die Menschheit, um zur höchsten Stufe zu gelangen. Entweder sie katapultiert sich unmittelbar aus dem Stand der Wildheit in den der Gesittung oder sie nähert sich dem Zustand der Gesittung durch das Zwischenstadium der Barbarei.

Hinter dieser anthropologischen Geschichtsphilosophie steht eine neuplatonisch geprägte Geschichtstheologie, die das Problem zu lösen versucht, wie der Platonischen Dualismus von Sinnlichem und Übersinnlichem, Werden und wahrem Sein gleichwohl aus einem Prinzip zu erklären sei. Die Lösung wird in einer Dynamisierung des Prinzips gesehen, nach der es ursprünglich die ungeteilte Einheit Gottes gab, aus deren Entäußerung die Welt mit ihrer Vielheit der Erscheinungen entstand, welche wiederum in einer neuen Einheit aufgehoben werden soll. Kant und die deutschen Idealisten nach ihm überführen diese triadische Theologie in die Begrifflichkeit der Philosophie.

Aber auch dem jugendlichen Schiller ist sie geläufig. Und auch er situiert sein Ausgangsproblem vor dem Hintergrund der Aufklärung. Virulent ist es ihm zufolge vor allem, weil die Aufklärung als philosophische ihr Werk bereits getan hat. „Das Zeitalter ist aufgeklärt, das heißt, die Kenntnisse sind gefunden und öffentlich preisgegeben,“ heißt es in den Briefen über die ästhetische Erziehung aus dem Jahre 1795. Aber, so fragt Schiller im 8. Brief, „woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?“ Um diese offensichtlich irritierende Frage zu beantworten, greift er ebenfalls auf den Theorierahmen der Anthropologie zurück, einer dualistischen und in Ansätzen geschichtsphilosophischen Anthropologie. In seiner Beschreibung kann sich der Mensch „auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen, oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören.“ Diese beiden Seiten – Wilder und Barbar, Herrschaft des Gefühls oder der Grundsätze – sieht Schiller nicht nur im historischen Nacheinander, sondern auch zur selben Zeit, nämlich in seiner Zeit verwirklicht. Dann spricht er nicht als Geschichtsphilosoph, sondern als Kultursoziologe. Für das Wilde stehen die „niedern und zahlreichern Klassen“, für das Barbarische, das er dann auch den Zustand der „Erschlaffung“ nennt, stehen die „zivilisierten Klassen“, also die „verfeinerten Stände“, vorab die Aristokratie. Das Barbarische ist nunmehr eine fundamentale Eigenschaft der Kultur, und es besteht in nichts anderem als der Rigorosität absolut gültiger Normen; barbarisch ist die (moralische) Vernunft.

Wie können wir Kultur kritisieren?

Die These, dass die Kultur selber barbarisch sei, hat also für Schiller und für uns eine ganz unterschiedliche Bedeutung. Schiller meint das Reich der (einseitigen, strikten, moralischen) Vernunft, wir dagegen meinen heute umgekehrt das Reich der unreflektierten, argumentativ unzugänglichen, quasi-selbstverständlichen Praktiken. Was wir mit Schiller allerdings nach wie vor teilen, ist die große Frage, ob und, wenn ja, wie wir diese Kultur kritisieren bzw. ein anderes Konzept von Kultur legitimieren können.

Ausgangspunkt für eine Antwort muss ein Begriff der Moderne sein, der mit dem der Kontingenz unlösbar verknüpft ist. Soziologisch hat dies am deutlichsten Niklas Luhmann formuliert. Modern ist eine Gesellschaft mit einem hohen Grad an Komplexität, mit einer Vielfalt von wählbaren Möglichkeiten, aus denen durch Systeme selegiert und so Komplexität reduziert wird. Diese Aufgabe übernehmen in einer „funktional“ organisierten Gesellschaft die Systeme von Ökonomie, Politik, Recht, Wissenschaft, Kunst und Religion. Eine für alle verbindliche Beschreibung des Gesellschaftssystems ist auf dieser funktionalistischen Basis nicht mehr möglich. Die Gesellschaft kann als ganze gleichzeitig unterschiedlich beschrieben werden. Eben dadurch wird sie kontingent. „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.“ (4)

In der Philosophie, zumal in der neueren, ist Richard Rorty Sachwalter der Kontingenz. Auch er verweist dabei auf den historischen Übergang vom 18. auf das 19. Jahrhundert, spezifisch auf das politische Ereignis der Französischen Revolution und auf das ästhetische Ereignis der Romantik. Beide Ereignisse verhelfen der Einstellung zum Durchbruch, dass die Wahrheit „gemacht“, nicht „gefunden“ wird. Finden kann man nur, was schon da war. Wahrheit gibt es aber nur, so Rortys sprachphilosophisch gewendete Generalthese, wo es Sätze gibt. Und da Sätze Elemente menschlicher Sprachen und diese wiederum geschaffen, historisch und kulturell geprägt sind, ist auch Wahrheit geschaffen und in diesem Sinne kontingent, relativ zur jeweiligen Sprache, zur jeweiligen kulturellen Lebensform.

Man kann diesen Zusammenhang mit Habermas aber auch aus einer hegelianischen Perspektive formulieren. Gewiss ist Habermas nicht im selben Maße wie Rorty und Luhmann ein Philosoph und Soziologe der Kontingenz, denn er anerkennt zwar, dass „alles auch anders sein (könnte)“, fügt aber doch eine kleine Einschränkung hinzu: „fast alles“ (5) Der linguistic turn, den er mit der Philosophie des 20. Jahrhunderts vollzieht, führt bei ihm nicht zu der These, dass Wahrheit vollständig abhängig sei vom sprachlichen und kulturellen Kontext. Denn zu argumentieren, mit dem Anspruch auf Wahrheit zu sprechen, heißt immer, bestimmte Unterstellungen in Anspruch zu nehmen, die Unterstellung etwa, dass es eine gemeinsame objektive Welt gibt und ein wirkliches Gespräch eine Symmetrie der Sprecherpositionen erzwingt. Und was die Moderne betrifft, kann Habermas mit Verweis auf das sich im 18. Jahrhundert ausbildende Geschichtsbewusstsein definitorisch sagen: „die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muss ihre Normativität aus sich selber schöpfen.“ (6).

Dieser Zwang zur – im wörtlichen wie philosophischen Sinn – Selbstreflexion, der Zwang, sich auf sich selbst beziehen, in einem internen Beschreibungsrahmen verbleiben zu müssen und sich nicht mehr an externe Instanzen wenden zu können, hat Folgen natürlich auch, beinahe muss man sagen: vor allem für die Kulturkritik. Denn sie entsteht in einem spezifischen Sinn erst im Gefolge der europäischen Aufklärung und ist ein „Reflexionsmodus der Moderne“. (7) Genauer gesagt, ist sie ein intendierter Reflexionsmodus der Moderne. In einem weiten Sinn reicht sie gewiss zurück bis in die Antike. In diesem Sinn lässt sich für jede Lebensform behaupten, dass sie „reflexiv“ wird in dem Augenblick, in dem sie sich einen Begriff von sich als Kultur macht. Erst die Moderne aber benötigt den Begriff der Kultur, ähnlich wie den der Geschichte und der Gesellschaft, zu ihrer Selbstthematisierung. Und erst jetzt wird auch die Kulturkritik „vollständig reflexiv“ (8), denn nun kann sie sich nicht mehr an mythischen, religiösen oder transzendenten Autoritäten orientieren, sondern muss im Habermaßchen Sinne ihre Kriterien im kulturkritischen Diskurs selbst rechtfertigen.

Blutige oder spielerische Metaphysik

Hier also entsteht das Problem, das Eagleton, aber, nebenbei bemerkt, selbstverständlich auch der christlichen Theologie zufolge die westliche Moderne in der Konfrontation mit fundamentalistischen nicht-westlichen, metaphysisch-religiösen Weltbildern nicht lösen kann. Wenn sich Überzeugungen nur noch aus dem Diskurs selber rechtfertigen lassen, unterliegt auch die Metaphysik diesem permanenten Rechtfertigungsdruck. Eine Rückkehr zur Metaphysik kann es daher nicht mehr geben, jedenfalls nicht im schlichten Sinn. Im reflektierten Sinn ist Metaphysik allenfalls noch möglich, wenn sie in der Form oder Struktur des Diskurses oder allgemeiner der Sprache ausfindig gemacht werden kann, eine Option, die, wie angemerkt, Habermas vorgeschlagen hat.

Es ist aufschlussreich, in diesem Kontext noch einmal Rorty aufzugreifen. Er reaktualisiert nämlich jenen Begriff des Barbaren, der seit dem 18. Jahrhundert als Kontrastbegriff von Kultur und Zivilisation firmiert. „Die Einsicht,“ so zitiert er Isaiah Berlin, der wiederum Joseph Schumpeter zitiert, „dass die Geltung der eigenen Überzeugungen nur relativ ist, und dennoch unerschrocken für sie einzustehen, unterscheidet den zivilisierten Menschen vom Barbaren.“ (9) Diese Unerschrockenheit ist nichts anderes als eine ethisch gewendete metaphysische Unbedingtheit. Für die eigenen Überzeugungen lässt sich letztlich nicht argumentieren, sondern nur zeugen oder bürgen, das heißt performativ einstehen durch die eigene Lebenspraxis. Metaphysik wird zu einer Frage der Ethik. Die Paradoxie von Unbedingtheit und Relativität lässt sich nicht theoretisch, sondern allenfalls praktisch auflösen. Wiewohl man weiß, dass die eigenen Überzeugungen nur vor dem eigenen historischen und kulturellen Hintergrund Sinn machen, können sie doch eine Relevanz erlangen, dass man so tut, als ob sie absolut gültig wären. Metaphysik wird, mit anderen Worten, zu einer Sache des Scheins, einer Haltung des Als-ob. Und das unterscheidet sie schließlich von jeder Form des Fundamentalismus.

Hier erhält Schiller, der Autor der ersten programmatisch-ästhetischen Kritik der Moderne, das letzte Wort. Er entwirft in den Briefen eine Utopie, die vor dem Hintergrund der ins Barbarische abgeglittenen Französischen Revolution der Schönheit und der Kunst eine wahrhaft revolutionäre Rolle zuweist. Diese Utopie zielt freilich nicht ausschließlich, wie Habermas zu Recht bemerkt, auf eine „Ästhetisierung der Lebensverhältnisse“, sondern auch auf eine „Revolutionierung der Verständigungsverhältnisse.“ (6, 63). Anschließend an Kants Kritik der Urteilskraft ist Schiller am Ästhetischen als einer Form der „Mitteilung“ und des „Gemeinsinns“ interessiert. Im Streit – der häufig wirklich ein Streit ist – über ästhetische Urteile stellt sich nämlich eine ganz eigene Form von Intersubjektivität, Kommunikation und Gemeinsamkeit her.

Schiller beschreibt sie, auch darin Kant folgend, unter dem Leitbegriff des Spiels. Er versteht darunter eine Aktivität, die erstens, dem anthropologischen Ideal seiner Epoche folgend, die Ganzheit des Menschen zu realisieren imstande ist (denn der Mensch „ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“), die sich, zweitens, im Zwischenbereich von Zwang und Zufall abspielt (denn Spiel ist das, was weder zufällig ist noch nötigt), und bei der wir drittens, als Zuschauer oder Akteure, so tun, als ob es ernst wäre (denn im Spiel erträgt man den Ernst).

Mit den beiden letzten Charakteristika tritt die bekannte These in den Vordergrund, dass wir im ästhetischen Kontext experimentell erproben und spielerisch einüben können, was in anderen, etwa moralisch-praktischen und politischen Kontexten, dann umgesetzt werden kann, zum Beispiel das paradoxe Verhältnis von Relativismus und Absolutheit. Hier lernt man, nicht ausschließlich, aber wohl am besten, für die eigenen Überzeugungen einzustehen und für sie zu streiten, wiewohl man weiß, dass sie nicht fundamentalistisch zu begründen sind. Und auch das erste Charakteristikum, das Spiel und Ganzheit zusammenbringt, behält in gewisser Weise seine Funktion. Ein Streit über das, worüber sich nicht streiten lässt, eine Verständigung über das, worüber man sich nicht verständigen kann, etwa über den Kern der eigenen Lebensform, eine Verständigung also über kulturelle und subkulturelle Grenzen hinweg kann nämlich nicht allein auf formalen Elementen der Verständigung, auf einer Verfahrensrationalität beruhen. Vernünftig ist vielmehr die Integration, das heißt nun mit Kant, Schiller und Habermas das Spiel der Vernunft. Der „Maßstab“ gelingender Verständigung besteht schließlich auch bei Habermas in einem „gleichgewichtigen Zusammenspiel“ aller Formen der Vernunft. (10)

Wenn es also um die Beantwortung der Frage geht, ob Kulturkritik heute noch möglich ist, darf man konstatieren: Die Bedeutung von Kulturkritik hat sich verändert. Sie kann ihre fundamentalkritische Stimme nicht mehr erheben, als käme sie von außerhalb der Moderne und ihren Zumutungen an Kontingenz. Sie kann daher auch keinen unbedarft metaphysischen Standpunkt mehr einnehmen und sich in klassisch-philosophischen Totalitätsgesten ergehen (wiewohl die Meister dieser Gesten populärphilosophisch und feuilletonistisch beliebt sind). Kulturkritik meint heute weniger eine Kritik der Kultur im Singular als eine Kritik der Kulturen im Plural. Und dazu bedarf sie eines Konzepts der Rechtfertigung, das ohne ästhetische Momente nicht funktioniert.

UNSER AUTOR:

Josef Früchtl ist Professor für Philosophie der Kunst und der Kultur an der Universiteit van Amsterdam.

Zitatnachweise

(1) Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1998, S. 18

(2) Terry Eagleton, “Culture and Barbarism. Metaphysics in a Time of Terror”, in: Commonweal. A review of religion, politics, and culture, March 27, 2009, Vol. CXXXVI, Nb. 6 (Übersetzung durch den Autor)

(3) Terry Eagleton, “Culture Conundrum”, in: Guardian, Mai 21, 2008

(4) Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Grundriss einer allgemeinen Theorie, 1984, S. 152

(5) Jürgen Habermas, „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“, in: ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, 1988, S. 179.

(6) Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, 1985, S. 16.

(7) Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis G. Anders, 2007, S. 11.

(8) Herbert Schnädelbach, „Kultur und Kulturkritik“, in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, 1992, S. 166 u. 168.

(9) Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S. 87

(10) Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 3. Aufl. 1985, S. 485.