PhilosophiePhilosophie

Vorträge

Borchers, Dagmar: Neuroethik - eine neue Ethik?

Prof. Dr. Dagmar Borchers
Angewandte Philosophie
Institut für Philosophie
Universität Bremen 
0421/218 7250
borchers@uni-bremen.de 


Neuroethik — eine neue Ethik?


Die Neurowissenschaften sind derzeit wohl die meist diskutierten Einzelwissenschaften. Nicht nur inneruniversitär werden ihre Methoden und Resultate interdisziplinär diskutiert, auch die außeruniversitäre Öffentlichkeit verfolgt ihre Entwicklung mit großem Interesse und erheblichem Informationsbedarf. Dabei geht es neben der Reflexion der neuartigen experimentellen Methoden wie etwa bildgebenden Verfahren, die es erlauben, Hirnprozesse unmittelbar von außen zu beobachten, vor allem auch um ihre vielversprechenden Ergebnisse in der Grundlagenforschung, der medizinischen Diagnostik, der Prothetik und der Pharmakologie. Philosophen sind in diesem Fall in verschiedener Hinsicht gefordert: Zum einen ist es sicherlich eine reizvolle Aufgabe, die Methoden und Resultate der Neurowissenschaften unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten zu eruieren, aber auch, sie mit Theorien und Methoden der Philosophie des Geistes, der Erkenntnistheorie, der Sprachphilosophie und der Anthropologie zu verbinden. Zum anderen wird es darum gehen, den interdisziplinären Dialog zwischen verschiedenen Fächern wie etwa den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Philosophie zu moderieren. Und schließlich geht es sicherlich darum, die moralischen Fragen, die sich im Kontext der neurowissenschaftlichen Forschung und Anwendung ihrer Resultate ergeben, zu untersuchen.

Die Tübinger Medizinethiker Matthis Synofzik und Georg Marckmann haben einen Vorschlag für eine Strukturierung dieser neuen Bereichsethik „Neuroethik“ vorgelegt, den ich sehr instruktiv finde. Grundsätzlich unterscheiden sie zwischen den Neurowissenschaften der Ethik und der Ethik der Neurowissenschaften. In den Neurowissenschaften der Ethik geht es ihrem Verständnis nach um die Klärung der ethisch–anthropologischen Implikationen neurowissenschaftlicher Erkenntnis. Von besonderem Interesse sind hier sicherlich die neurowissenschaftliche Erklärung moralischen Verhaltens sowie die durch ihre Erkenntnisse nahe gelegte Deutung von Rationalität, des Selbst und der Willensfreiheit. Dabei geht es nicht nur darum, unser bisheriges Verständnis zu vertiefen, sondern sich zu fragen, ob und inwieweit wir unser bisheriges Verständnis dieser zentralen menschlichen Funktionen und Charakteristika verändern müssen. Die Ethik der Neurowissenschaften hingegen untersuchen die ethischen Implikationen neurowissenschaftlicher Erkenntnis– und Handlungsmöglichkeiten. Dabei geht es vor allem um die moralische Legitimität von neurotechnologischen Eingriffen, psychopharmakologischen Interventionen oder der moralischen Beurteilung des Einsatzes bildgebender Verfahren. Ausgelöst durch den rasanten Fortschritt in den Neurowissenschaften erleben wir also die Geburt einer Bereichsethik aus dem Geiste des verantwortungsvollen, reflektierten Umgangs mit wissenschaftlichem Fortschritt — eigentlich eine feine Sache, die nicht zu Unrecht derzeit viele Moralphilosophen interessiert und inspiriert. Inspirierend ist dabei auch der Austausch zwischen diesen beiden Bereichen (der Ethik der Neurowissenschaften und der Neurowissenschaft der Ethik), denn natürlich bedeutet eine moralphilosophische Auseinandersetzung mit diesen Fragen zunächst und zumeist, sich hinsichtlich der Fakten, also der als gut gesichert geltenden Erkenntnisse innerhalb der Neurowissenschaften auf den neusten Stand zu bringen.

Was aber ist eine Bereichsethik? Bereichsethiken sind spezielle Gebiete innerhalb der Angewandten Ethik. Heute haben wir es mit einer beeindruckenden Bandbreite an Bereichsethiken zu tun: Neben der Tierethik sind hier u. a. die Wirtschaftsethik, die Bio–, Medizin– und Technikethik, aber auch die Wissenschafts– und Umweltethik zu nennen. Ganz offensichtlich geht es bei den Bereichsethiken im Kern darum, ethische Prinzipien, die sich ihrerseits aus ganz unterschiedlichen Moraltheorien herleiten lassen, auf Fragen, die sich innerhalb eines bestimmten Denk– oder Handlungskontextes ergeben, anzuwenden und zu Antworten zu kommen, die diejenigen moralischen Probleme lösen können, die sich in diesem Feld jeweils ergeben. Eine neue Bereichsethik etablieren zu wollen verlangt dann eine Begründung, wenn einem nicht nur daran gelegen ist, einen bisher noch nicht eigens aufgeführten Kontext zu etablieren, sondern wenn man darüber hinaus auch eine Notwendigkeit für diesen neuen Bereich reklamieren will; also den Nachweis führen möchte, dass die Einrichtung einer Bereichsethik unter methodischen und inhaltlichen Gesichtspunkten sinnvoll ist. Genau das ist nun das Anliegen von Synofzik und Marckmann. Sie binden die Einrichtung einer neuen Bereichsethik an die Erfüllung zweier Kriterien:
Der gegebene Sachbereich muss eine „deskriptiv qualitativ eigenartige Klasse von Handlungen“ umfassen, also einen eigenständigen Handlungsbereich beschreiben.
Diese „qualitativ eigenartige Klasse von Handlungen“ muss zugleich auch normativ eigenständige Probleme aufwerfen, also normative Probleme eigener Art.

Marckmann und Synofzik sehen im Fall der Neuroethik beide Kriterien erfüllt: Gegenstand der neurowissenschaftlichen Forschung ist das Gehirn und mit ihm in direkter Unmittelbarkeit das sensorische Wahrnehmen und das motorische Handeln. Der neurowissenschaftlichen Forschung geht es darum, mit den neuronalen Strukturen des Gehirns das Denken, Wollen und das Bewusstsein präzise und so unmittelbar wie möglich zu erforschen. Die Erforschung dieses Untersuchungsgegenstandes betrifft also nicht nur unser Verhalten in der Welt, sondern auch unsere Selbsteinschätzung und Selbstwahrnehmung. „Kein anderer Wissenschaftsbereich erforscht und manipuliert mit gleichartiger Unmittelbarkeit das individuelle Verhalten der Menschen zur Welt und zu sich. In dieser deskriptiven, sachhaltigen Besonderheit neurowissenschaftlicher Handlungen liegt auch ihre normative Besonderheit.“ schreiben die beiden Ethiker. „Durch externe Interventionen“, so beiden Autoren, „können interne mentale Vorgänge und wiederum das Verhalten zu diesen mentalen Vorgängen erforscht und beeinflusst werden.“ Neuroethik wird von ihnen als eine Bereichsethik definiert, die sich auf das Nervensystem des Menschen bezieht.

Auf den ersten Blick erscheint sowohl ihr Anliegen, als auch dessen Umsetzung einleuchtend. Da die Etablierung neuer Bereichsethiken Gefahr läuft, nichts weiter als ein modischer Trend zu sein, ist der Nachweis ihrer inneren Notwendigkeit sicherlich zu begrüßen. Und auch die beiden Kriterien scheinen sinnvoll und überzeugend zu sein. Auf den zweiten Blick, insbesondere im Vergleich mit bereits bekannten Bereichsethiken, kommen mir aber doch einige Zweifel. Meine These ist, dass die beiden Autoren mit ihren zwei als notwendig und hinreichend bezeichneten Kriterien über das Ziel hinausschießen. Wenn wir akzeptieren, dass beide Kriterien erfüllt sein müssen, dann werden wir andere Bereichsethiken als solche nicht länger zulassen können. Ich denke da insbesondere an die Wirtschafts– und die Tierethik. Wir müssen also abwägen, ob wir durch einen strengen Anforderungskatalog mehr gewinnen, als wir durch einen abgeschwächten Anspruch an eine Bereichsethik verlieren würden. Hinzu kommt, dass insbesondere das zweite Kriterium die Diskussion der ethischen Probleme der Neurowissenschaften inhaltlich stark einschränkt. Ich möchte zunächst meine beiden Einwände erläutern und dann dafür plädieren, das zweite Kriterium fallen zu lassen.

Beginnen wir mit dem Vergleich der Neuroethik und anderen Bereichsethiken. Wie sieht es etwa bei der Tierethik mit der qualitativen Eigenständigkeit der normativen Probleme aus? Dass wir es mit einem eigenständigen Handlungsbereich zu tun haben, wird man nur dann konstatieren können, wenn man sich auf „Handlungen gegenüber nicht–menschlichen Wesen“ kapriziert, also Handlungen, die nicht die Spezies Mensch betreffen. Es ist aber nicht zu sehen, dass diese Handlungen normative Probleme eigener Art aufwerfen. Auch Tieren gegenüber geht es um moralische Probleme, die im Kern damit zu tun haben, dass wir ihre Interessen nicht berücksichtigen, dass wir sie ausnutzen, quälen, einfach töten usw. Das sind aber genau diejenigen Handlungen, die wir auch Menschen gegenüber als moralisch fragwürdig betrachten würden. Selbst wenn wir konstatieren, dass es sich bei Tieren um Handlungen an Wesen handelt, die nicht in der Lage sind, ihre Zustimmung zu geben, lassen sich sofort Parallelen zu geistig Behinderten, Kindern und Säuglingen oder Komatösen konstruieren. Geht man hingegen davon aus, dass der Unterschied eben darin liegt, dass es sich um eine andere Spezies handelt, hätten wir bereits einen bestimmten ethischen Standpunkt eingenommen und die Definition des Gegenstandsbereiches wäre nicht mehr neutral. So ähnlich scheint es mir auch mit der Wirtschaftsethik zu laufen: Auch hier grenzen wir relativ freihändig einen bestimmten Handlungsbereich ab, ohne dass wir es mit einer besonderen Art normativer Probleme zu tun bekommen. Es geht hier um jene moralischen Verfehlungen, die wir auch in anderen Handlungskontexten konstatieren müssen, wie etwa Verantwortungslosigkeit, Egoismus, Täuschung, Betrug, usw. Manchen Kollegen geht die Euphorie, mit der diese Bereiche als besondere Ethik–Reviere behandelt werden, denn auch gehörig auf die Nerven. Wenn wir also so streng sein wollen wie Marckmann und Synofzik, mit der Absicht, ein unkontrolliertes Wuchern von Gegenstandsbereichen zu verhindern, müssten wir sofort anfangen, diese bereits etablierten Bereichsethiken in Frage zu stellen. Das allein spricht nicht gegen die Definition der beiden Medizinethiker; sie zu akzeptieren liefe allerdings auf einen Umbau unseres Arbeitsbereiches „Angewandte Ethik“ hinaus, will man sich nicht einer ungerechtfertigten Strenge gegenüber der Neuroethik schuldig machen. Fazit: Um die Neuroethik als Bereichsethik zu verteidigen, braucht man vielleicht keine normativen Probleme eigener Art auszuweisen — zumindest dann nicht, wenn man an alle Bereichsethiken dieselben Standards bzw. Kriterien anlegen will.

Marckmann und Synofzik sind aber wohl der Ansicht, dass man das problemlos tun kann. Ihre Angaben zum zweiten Kriterium sehen die Spezifik der normativen Probleme im Fall der Neuroethik darin, dass die eigene Willensbildung nicht mehr autonom, sondern heteronom erfolgt und nicht mehr privat, sondern öffentlich und extern verfügbar ist. Sie schreiben: „Zur Veranschaulichung sei ein Beispiel für beide Kriterien gegeben: Es ist neurowissenschaftlich möglich, durch neurochirurgisch eingebrachte Elektroden oder durch relativ präzise Psychopharmaka das eigene Empfinden, Erleben und Wollen zu verändern oder ihre Charakteristika durch bildgebende Verfahren zu detektieren (Kriterium 1). Dadurch würde die eigene Willensbildung nicht mehr autonom, sondern heteronom erfolgen und nicht mehr privat, sondern öffentlich und extern verfügbar sein (Kriterium 2). Sicherlich können schon ältere Verfahren wie ‚Gehirnwäsche’ oder psychische Folter als Vorläufer dieser externen, technisch–manipulativen Verfügbarkeit internen Selbst– und Weltverhaltens gesehen werden. Unbestreitbar ist aber die qualitative neuartige Unmittelbarkeit, Präzision und Reichweite dieser Verfügbarkeit durch die derzeitigen (und in naher Zukunft zu erwartenden) neurowissenschaftlichen Methoden.“ Zunächst irritiert es in diesem Zusammenhang, dass hier stark auf Menschen abgehoben wird. Zur Erinnerung: „Kein anderer Wissenschaftsbereich erforscht und manipuliert mit gleichartiger Unmittelbarkeit das individuelle Verhalten der Menschen zur Welt und zu sich. In dieser deskriptiven, sachhaltigen Besonderheit neurowissenschaftlicher Handlungen liegt auch ihre normative Besonderheit.“ Dabei geht es bei den ethisch bedenklichen Praktiken der neurowissenschaftlichen Forschung ja auch häufig um Tiere; Affen, Delphine oder Ratten zum Beispiel. Und gerade an Tieren lässt sich zeigen, dass die Einschränkung der normativen Probleme in der eben zitierten Weise vielleicht zu eng sein könnte.

Nehmen wir ein Beispiel, auf das mich mein Bremer Kollege, der Neurowissenschaftler Christian Eurich aufmerksam gemacht hat: In der Zeitschrift „Nature“ aus dem Jahre 2002 wurde ein Experiment mit Ratten beschrieben, das folgendes zeigen sollte:
„Procedures used to train laboratory animals often incorporate operant learning paradigms in which animals are taught to produce particular responses to external cues (such as aural tones) in order to obtain rewards (such as food). Here we show that by removing the physical contraints associated with the delivery of cues and rewards, learning paradigms based on brain microstimulation enable conditioning approaches to be used that help to transcend traditional boundaries in animal learning. We have used this paradigm to develop a behavioural model in which an experimenter can guide distant animals in a way similar to that used to control ‘intelligent’ robots”.
Ratten werden zwei Elektroden im rechten und linken somato–sensorischen Cortex chronisch implantiert. Wird etwas Strom hindurch geleitet, wirkt das auf das Tier wie ein sensorischer Reiz im rechten oder linken Barthaar. Hinzu kommt eine dritte Elektrode, direkt im medialen Vorderhirnbündel, deren Aktivierung angenehm auf Ratten wirkt und somit einen Effekt erzielt, wie es sonst Belohnungen tun. Die Ratten konnten sich frei bewegen und durchlaufen ein bestimmtes Training: Wenn sie sich nach der Aktivierung der rechten oder linken Elektrode in die entsprechende Richtung bewegen, erfolgt ein entsprechender „Belohnungsimpuls“ durch die dritte Elektrode. Auf diese Weise konnte ein Experimentator die Tiere über einen dreidimensionalen Parcours dirigieren, wobei sie sogar offenes, helles Gelände, das Ratten sonst meiden, durchquerten. „Our model may […] represent an extension of operant conditioning into useful real-world applications, such as search and rescue in areas of urban destruction and landmine detection. Combined with electronic sensing and navigation technology, a guided rat can be developed into an effective ‘robot’ that will possess several natural advantages over current mobile robots”, hoffen die Autoren.

Laut zweitem Kriterium hat uns hier nur zu interessieren, ob und inwiefern der direkte Einfluss auf den Bewegungsapparat der Ratte, also die Steuerung ihrer Motorik via Elektroden und damit die Ausschaltung ihrer Bewegungsfreiheit bzw. Autonomie ethisch bedenklich ist. Aus pathozentristischer Sicht wäre dieser Versuch zunächst nur dann ethisch bedenklich, wenn wir annehmen, dass das Tier dabei leidet — das wäre dann allerdings kein neuartiges normatives Problem. Ist das nicht der Fall (leidet das Tier nicht), wäre aus pathozentristischer Sicht zunächst nicht zu sehen, worin hier das spezifische normative Problem bestehen soll. Der direkte Eingriff in die Motorik und damit in die Bewegungsfreiheit der Ratte ist für einen Pathozentriker weniger problematisch, wenn wir unterstellen, dass der Verlust ihrer Fähigkeit, ‚autonom’ zu entscheiden und sich frei zu bewegen, von ihr registriert und als leidvoll empfunden wird. Es ist schwierig, den direkten Zugriff auf die Motorik der Ratte ohne Rekurs auf das dadurch möglicherweise evozierte Leid zu diskutieren. Einen Missbrauch des Tieres, also ein normatives Problem gemäß dem zweiten Kriterium, kann man hier nur konstatieren, wenn man dieses Experiment aus deontologischer Perspektive betrachtet: Dann könnte man etwa mit Tom Regan sagen, dass hier ein Missbrauch vorliegt, insofern die Ratte zu jenen Tieren gehört, denen man einen „inhärenten Wert“ zusprechen muss, da sie als „Subjekt ihres Lebens“ betrachtet werden muss. Dann wäre es für die moralische Bewertung (als moralisch falsche Handlung) gleichgültig, ob dieses Experiment für das Tier Leiden bedeutet oder nicht. Nur wenn man diese Perspektive einnimmt, kann man das moralische Problem im Sinne des zweiten Kriteriums konstruieren. Das bedeutet allerdings, den Ethiker von vornherein auf eine bestimmte tierethische Position festzulegen, die sicherlich nicht alle Tierethiker, die sich zu diesem Experiment äußern möchten, einnehmen möchten. Hinzu kommt, dass das, was uns moralisch problematisch erscheint, neben der Frage, ob und in welchem Ausmaß dem Tier Unrecht geschieht, doch die Frage ist, welche Optionen dieses neue Verfahren in der Zukunft eröffnet — etwa die militärische Nutzung von Tierrobotern. Die Instrumentalisierung von Tieren in der Forschung oder im militärischen Bereich ist zwar ethisch fragwürdig, aber ebenfalls kein neuartiges normatives Problem. Ethisch zu diskutieren ist desweiteren die Frage, ob nicht Experimente dieser Art über kurz oder lang dazu führen, Menschen in dieser Weise zu instrumentalisieren. Fazit: Es ist nicht ausschließlich der externe Zugriff auf interne mentale Vorgänge, der uns im Kontext neurowissenschaftlicher Forschung beunruhigt. Wenn man dieses Kriterium so zugrunde legt, wird der Blickwinkel des Ethikers stark eingeschränkt. Man müsste dann das eben geschilderte Experiment einmal unter neurowissenschaftlicher Perspektive untersuchen (der direkte Zugriff auf die Motorik der Ratte als ethisches Problem) und einmal aus konventionell–tierethischer Perspektive (Darf man mit Tieren solche Experimente machen (unter Leidensgesichtspunkten)?). Meine Tendenz geht dahin zu sagen, dass eine solche Einschränkung der Perspektive weder sinnvoll noch notwendig ist.

Insgesamt möchte ich konstatieren, dass wir vor dem Hintergrund der bereits bestehenden Bereichsethiken mit dem ersten Kriterium auskommen. Dann hätten wir in Anlehnung an Marckmann und Synofzik die Neuroethik als eine Ethik zu bestimmen, die sich mit den moralischen Problemen beschäftigt, die im Kontext der Neurowissenschaften auftreten. Sie unterscheiden innerhalb der Neuroethik die Bereiche
Metaethik, die konzeptionelle Fragen der Neuroethik thematisiert wie etwa die Abgrenzung des Gegenstandsbereiches oder die Methoden der verschiedenen am neurowissenschaftlichen Diskurs beteiligten Disziplinen,
Theoretische Ethik, der die Klärung von zentralen Begriffen wie etwa der Begriff der „Person“ obliegt sowie die Suche nach tragfähigen Theorien im Bereich der Handlungstheorie, der Bewusstseinstheorie aber auch der Moraltheorien,
und schließlich die Praktische oder Angewandte Ethik, in der die Bearbeitung ethischer Probleme im Kontext der Neurowissenschaften stattfindet.

Diese Strukturierung des Aufgabenbereiches ist plausibel und vermutlich unstrittig. Sie macht deutlich, wie komplex die hier anstehenden Fragen sind, dass sie neben einer Expertise in anderen philosophischen Bereichen wie etwa der Philosophie des Geistes oder der Wissenschaftstheorie vor allem auch sehr fundierte neurowissenschaftliche Kenntnisse erfordern und auch, dass wir es hier mit einer sehr attraktiven neuen Bereichsethik zu tun haben. Bleibt nur noch, die Euphorie, die sich unter Ethikern gerne einstellt, wenn ein neues Arbeitsgebiet auftaucht, durch die vielleicht etwas griesgrämig klingende Anmerkung zu neutralisieren, dass wir es auch hier mit den alten Werkzeugen zu tun haben, also unseren verschiedenen etablierten Moraltheorien und ihren unterschiedlichen Terminologien und Moralprinzipien, zwischen denen ein unentschiedener und vermutlich auch unentscheidbarer Wettbewerb weiterhin besteht und dass wir es auch innerhalb der Neuroethik mit einer Pluralität von ethischen Hintergründen zu tun haben, die einhellige Antworten nicht erwarten lassen. Nicht nur die Lösungsvorschläge für ein ethisches Problem, sondern bereits die Konstituierung eines ethischen Problems, also die Frage, was genau wir eigentlich als moralisch problematisch identifizieren, hängt maßgeblich davon ab, durch welche moraltheoretische Brille wir uns die Sache ansehen. Und damit wäre ich schon beim zweiten Teil meines Vortrags.


Die Neurowissenschaften sind derzeit wohl die meist diskutierten Einzelwissenschaften. Nicht nur inneruniversitär werden ihre Methoden und Resultate interdisziplinär diskutiert, auch die außeruniversitäre Öffentlichkeit verfolgt ihre Entwicklung mit großem Interesse und erheblichem Informationsbedarf. Dabei geht es neben der Reflexion der neuartigen experimentellen Methoden wie etwa bildgebenden Verfahren, die es erlauben, Hirnprozesse unmittelbar von außen zu beobachten, vor allem auch um ihre vielversprechenden Ergebnisse in der Grundlagenforschung, der medizinischen Diagnostik, der Prothetik und der Pharmakologie. Philosophen sind in diesem Fall in verschiedener Hinsicht gefordert: Zum einen ist es sicherlich eine reizvolle Aufgabe, die Methoden und Resultate der Neurowissenschaften unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten zu eruieren, aber auch, sie mit Theorien und Methoden der Philosophie des Geistes, der Erkenntnistheorie, der Sprachphilosophie und der Anthropologie zu verbinden. Zum anderen wird es darum gehen, den interdisziplinären Dialog zwischen verschiedenen Fächern wie etwa den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Philosophie zu moderieren. Und schließlich geht es sicherlich darum, die moralischen Fragen, die sich im Kontext der neurowissenschaftlichen Forschung und Anwendung ihrer Resultate ergeben, zu untersuchen.

Die Tübinger Medizinethiker Matthis Synofzik und Georg Marckmann haben einen Vorschlag für eine Strukturierung dieser neuen Bereichsethik „Neuroethik“ vorgelegt, den ich sehr instruktiv finde. Grundsätzlich unterscheiden sie zwischen den Neurowissenschaften der Ethik und der Ethik der Neurowissenschaften. In den Neurowissenschaften der Ethik geht es ihrem Verständnis nach um die Klärung der ethisch–anthropologischen Implikationen neurowissenschaftlicher Erkenntnis. Von besonderem Interesse sind hier sicherlich die neurowissenschaftliche Erklärung moralischen Verhaltens sowie die durch ihre Erkenntnisse nahe gelegte Deutung von Rationalität, des Selbst und der Willensfreiheit. Dabei geht es nicht nur darum, unser bisheriges Verständnis zu vertiefen, sondern sich zu fragen, ob und inwieweit wir unser bisheriges Verständnis dieser zentralen menschlichen Funktionen und Charakteristika verändern müssen. Die Ethik der Neurowissenschaften hingegen untersuchen die ethischen Implikationen neurowissenschaftlicher Erkenntnis– und Handlungsmöglichkeiten. Dabei geht es vor allem um die moralische Legitimität von neurotechnologischen Eingriffen, psychopharmakologischen Interventionen oder der moralischen Beurteilung des Einsatzes bildgebender Verfahren. Ausgelöst durch den rasanten Fortschritt in den Neurowissenschaften erleben wir also die Geburt einer Bereichsethik aus dem Geiste des verantwortungsvollen, reflektierten Umgangs mit wissenschaftlichem Fortschritt — eigentlich eine feine Sache, die nicht zu Unrecht derzeit viele Moralphilosophen interessiert und inspiriert. Inspirierend ist dabei auch der Austausch zwischen diesen beiden Bereichen (der Ethik der Neurowissenschaften und der Neurowissenschaft der Ethik), denn natürlich bedeutet eine moralphilosophische Auseinandersetzung mit diesen Fragen zunächst und zumeist, sich hinsichtlich der Fakten, also der als gut gesichert geltenden Erkenntnisse innerhalb der Neurowissenschaften auf den neusten Stand zu bringen.

Was aber ist eine Bereichsethik? Bereichsethiken sind spezielle Gebiete innerhalb der Angewandten Ethik. Heute haben wir es mit einer beeindruckenden Bandbreite an Bereichsethiken zu tun: Neben der Tierethik sind hier u. a. die Wirtschaftsethik, die Bio–, Medizin– und Technikethik, aber auch die Wissenschafts– und Umweltethik zu nennen. Ganz offensichtlich geht es bei den Bereichsethiken im Kern darum, ethische Prinzipien, die sich ihrerseits aus ganz unterschiedlichen Moraltheorien herleiten lassen, auf Fragen, die sich innerhalb eines bestimmten Denk– oder Handlungskontextes ergeben, anzuwenden und zu Antworten zu kommen, die diejenigen moralischen Probleme lösen können, die sich in diesem Feld jeweils ergeben. Eine neue Bereichsethik etablieren zu wollen verlangt dann eine Begründung, wenn einem nicht nur daran gelegen ist, einen bisher noch nicht eigens aufgeführten Kontext zu etablieren, sondern wenn man darüber hinaus auch eine Notwendigkeit für diesen neuen Bereich reklamieren will; also den Nachweis führen möchte, dass die Einrichtung einer Bereichsethik unter methodischen und inhaltlichen Gesichtspunkten sinnvoll ist. Genau das ist nun das Anliegen von Synofzik und Marckmann. Sie binden die Einrichtung einer neuen Bereichsethik an die Erfüllung zweier Kriterien:
Der gegebene Sachbereich muss eine „deskriptiv qualitativ eigenartige Klasse von Handlungen“ umfassen, also einen eigenständigen Handlungsbereich beschreiben.
Diese „qualitativ eigenartige Klasse von Handlungen“ muss zugleich auch normativ eigenständige Probleme aufwerfen, also normative Probleme eigener Art.

Marckmann und Synofzik sehen im Fall der Neuroethik beide Kriterien erfüllt: Gegenstand der neurowissenschaftlichen Forschung ist das Gehirn und mit ihm in direkter Unmittelbarkeit das sensorische Wahrnehmen und das motorische Handeln. Der neurowissenschaftlichen Forschung geht es darum, mit den neuronalen Strukturen des Gehirns das Denken, Wollen und das Bewusstsein präzise und so unmittelbar wie möglich zu erforschen. Die Erforschung dieses Untersuchungsgegenstandes betrifft also nicht nur unser Verhalten in der Welt, sondern auch unsere Selbsteinschätzung und Selbstwahrnehmung. „Kein anderer Wissenschaftsbereich erforscht und manipuliert mit gleichartiger Unmittelbarkeit das individuelle Verhalten der Menschen zur Welt und zu sich. In dieser deskriptiven, sachhaltigen Besonderheit neurowissenschaftlicher Handlungen liegt auch ihre normative Besonderheit.“ schreiben die beiden Ethiker. „Durch externe Interventionen“, so beiden Autoren, „können interne mentale Vorgänge und wiederum das Verhalten zu diesen mentalen Vorgängen erforscht und beeinflusst werden.“ Neuroethik wird von ihnen als eine Bereichsethik definiert, die sich auf das Nervensystem des Menschen bezieht.

Auf den ersten Blick erscheint sowohl ihr Anliegen, als auch dessen Umsetzung einleuchtend. Da die Etablierung neuer Bereichsethiken Gefahr läuft, nichts weiter als ein modischer Trend zu sein, ist der Nachweis ihrer inneren Notwendigkeit sicherlich zu begrüßen. Und auch die beiden Kriterien scheinen sinnvoll und überzeugend zu sein. Auf den zweiten Blick, insbesondere im Vergleich mit bereits bekannten Bereichsethiken, kommen mir aber doch einige Zweifel. Meine These ist, dass die beiden Autoren mit ihren zwei als notwendig und hinreichend bezeichneten Kriterien über das Ziel hinausschießen. Wenn wir akzeptieren, dass beide Kriterien erfüllt sein müssen, dann werden wir andere Bereichsethiken als solche nicht länger zulassen können. Ich denke da insbesondere an die Wirtschafts– und die Tierethik. Wir müssen also abwägen, ob wir durch einen strengen Anforderungskatalog mehr gewinnen, als wir durch einen abgeschwächten Anspruch an eine Bereichsethik verlieren würden. Hinzu kommt, dass insbesondere das zweite Kriterium die Diskussion der ethischen Probleme der Neurowissenschaften inhaltlich stark einschränkt. Ich möchte zunächst meine beiden Einwände erläutern und dann dafür plädieren, das zweite Kriterium fallen zu lassen.

Beginnen wir mit dem Vergleich der Neuroethik und anderen Bereichsethiken. Wie sieht es etwa bei der Tierethik mit der qualitativen Eigenständigkeit der normativen Probleme aus? Dass wir es mit einem eigenständigen Handlungsbereich zu tun haben, wird man nur dann konstatieren können, wenn man sich auf „Handlungen gegenüber nicht–menschlichen Wesen“ kapriziert, also Handlungen, die nicht die Spezies Mensch betreffen. Es ist aber nicht zu sehen, dass diese Handlungen normative Probleme eigener Art aufwerfen. Auch Tieren gegenüber geht es um moralische Probleme, die im Kern damit zu tun haben, dass wir ihre Interessen nicht berücksichtigen, dass wir sie ausnutzen, quälen, einfach töten usw. Das sind aber genau diejenigen Handlungen, die wir auch Menschen gegenüber als moralisch fragwürdig betrachten würden. Selbst wenn wir konstatieren, dass es sich bei Tieren um Handlungen an Wesen handelt, die nicht in der Lage sind, ihre Zustimmung zu geben, lassen sich sofort Parallelen zu geistig Behinderten, Kindern und Säuglingen oder Komatösen konstruieren. Geht man hingegen davon aus, dass der Unterschied eben darin liegt, dass es sich um eine andere Spezies handelt, hätten wir bereits einen bestimmten ethischen Standpunkt eingenommen und die Definition des Gegenstandsbereiches wäre nicht mehr neutral. So ähnlich scheint es mir auch mit der Wirtschaftsethik zu laufen: Auch hier grenzen wir relativ freihändig einen bestimmten Handlungsbereich ab, ohne dass wir es mit einer besonderen Art normativer Probleme zu tun bekommen. Es geht hier um jene moralischen Verfehlungen, die wir auch in anderen Handlungskontexten konstatieren müssen, wie etwa Verantwortungslosigkeit, Egoismus, Täuschung, Betrug, usw. Manchen Kollegen geht die Euphorie, mit der diese Bereiche als besondere Ethik–Reviere behandelt werden, denn auch gehörig auf die Nerven. Wenn wir also so streng sein wollen wie Marckmann und Synofzik, mit der Absicht, ein unkontrolliertes Wuchern von Gegenstandsbereichen zu verhindern, müssten wir sofort anfangen, diese bereits etablierten Bereichsethiken in Frage zu stellen. Das allein spricht nicht gegen die Definition der beiden Medizinethiker; sie zu akzeptieren liefe allerdings auf einen Umbau unseres Arbeitsbereiches „Angewandte Ethik“ hinaus, will man sich nicht einer ungerechtfertigten Strenge gegenüber der Neuroethik schuldig machen. Fazit: Um die Neuroethik als Bereichsethik zu verteidigen, braucht man vielleicht keine normativen Probleme eigener Art auszuweisen — zumindest dann nicht, wenn man an alle Bereichsethiken dieselben Standards bzw. Kriterien anlegen will.

Marckmann und Synofzik sind aber wohl der Ansicht, dass man das problemlos tun kann. Ihre Angaben zum zweiten Kriterium sehen die Spezifik der normativen Probleme im Fall der Neuroethik darin, dass die eigene Willensbildung nicht mehr autonom, sondern heteronom erfolgt und nicht mehr privat, sondern öffentlich und extern verfügbar ist. Sie schreiben: „Zur Veranschaulichung sei ein Beispiel für beide Kriterien gegeben: Es ist neurowissenschaftlich möglich, durch neurochirurgisch eingebrachte Elektroden oder durch relativ präzise Psychopharmaka das eigene Empfinden, Erleben und Wollen zu verändern oder ihre Charakteristika durch bildgebende Verfahren zu detektieren (Kriterium 1). Dadurch würde die eigene Willensbildung nicht mehr autonom, sondern heteronom erfolgen und nicht mehr privat, sondern öffentlich und extern verfügbar sein (Kriterium 2). Sicherlich können schon ältere Verfahren wie ‚Gehirnwäsche’ oder psychische Folter als Vorläufer dieser externen, technisch–manipulativen Verfügbarkeit internen Selbst– und Weltverhaltens gesehen werden. Unbestreitbar ist aber die qualitative neuartige Unmittelbarkeit, Präzision und Reichweite dieser Verfügbarkeit durch die derzeitigen (und in naher Zukunft zu erwartenden) neurowissenschaftlichen Methoden.“ Zunächst irritiert es in diesem Zusammenhang, dass hier stark auf Menschen abgehoben wird. Zur Erinnerung: „Kein anderer Wissenschaftsbereich erforscht und manipuliert mit gleichartiger Unmittelbarkeit das individuelle Verhalten der Menschen zur Welt und zu sich. In dieser deskriptiven, sachhaltigen Besonderheit neurowissenschaftlicher Handlungen liegt auch ihre normative Besonderheit.“ Dabei geht es bei den ethisch bedenklichen Praktiken der neurowissenschaftlichen Forschung ja auch häufig um Tiere; Affen, Delphine oder Ratten zum Beispiel. Und gerade an Tieren lässt sich zeigen, dass die Einschränkung der normativen Probleme in der eben zitierten Weise vielleicht zu eng sein könnte.

Nehmen wir ein Beispiel, auf das mich mein Bremer Kollege, der Neurowissenschaftler Christian Eurich aufmerksam gemacht hat: In der Zeitschrift „Nature“ aus dem Jahre 2002 wurde ein Experiment mit Ratten beschrieben, das folgendes zeigen sollte:
„Procedures used to train laboratory animals often incorporate operant learning paradigms in which animals are taught to produce particular responses to external cues (such as aural tones) in order to obtain rewards (such as food). Here we show that by removing the physical contraints associated with the delivery of cues and rewards, learning paradigms based on brain microstimulation enable conditioning approaches to be used that help to transcend traditional boundaries in animal learning. We have used this paradigm to develop a behavioural model in which an experimenter can guide distant animals in a way similar to that used to control ‘intelligent’ robots”.
Ratten werden zwei Elektroden im rechten und linken somato–sensorischen Cortex chronisch implantiert. Wird etwas Strom hindurch geleitet, wirkt das auf das Tier wie ein sensorischer Reiz im rechten oder linken Barthaar. Hinzu kommt eine dritte Elektrode, direkt im medialen Vorderhirnbündel, deren Aktivierung angenehm auf Ratten wirkt und somit einen Effekt erzielt, wie es sonst Belohnungen tun. Die Ratten konnten sich frei bewegen und durchlaufen ein bestimmtes Training: Wenn sie sich nach der Aktivierung der rechten oder linken Elektrode in die entsprechende Richtung bewegen, erfolgt ein entsprechender „Belohnungsimpuls“ durch die dritte Elektrode. Auf diese Weise konnte ein Experimentator die Tiere über einen dreidimensionalen Parcours dirigieren, wobei sie sogar offenes, helles Gelände, das Ratten sonst meiden, durchquerten. „Our model may […] represent an extension of operant conditioning into useful real-world applications, such as search and rescue in areas of urban destruction and landmine detection. Combined with electronic sensing and navigation technology, a guided rat can be developed into an effective ‘robot’ that will possess several natural advantages over current mobile robots”, hoffen die Autoren.

Laut zweitem Kriterium hat uns hier nur zu interessieren, ob und inwiefern der direkte Einfluss auf den Bewegungsapparat der Ratte, also die Steuerung ihrer Motorik via Elektroden und damit die Ausschaltung ihrer Bewegungsfreiheit bzw. Autonomie ethisch bedenklich ist. Aus pathozentristischer Sicht wäre dieser Versuch zunächst nur dann ethisch bedenklich, wenn wir annehmen, dass das Tier dabei leidet — das wäre dann allerdings kein neuartiges normatives Problem. Ist das nicht der Fall (leidet das Tier nicht), wäre aus pathozentristischer Sicht zunächst nicht zu sehen, worin hier das spezifische normative Problem bestehen soll. Der direkte Eingriff in die Motorik und damit in die Bewegungsfreiheit der Ratte ist für einen Pathozentriker weniger problematisch, wenn wir unterstellen, dass der Verlust ihrer Fähigkeit, ‚autonom’ zu entscheiden und sich frei zu bewegen, von ihr registriert und als leidvoll empfunden wird. Es ist schwierig, den direkten Zugriff auf die Motorik der Ratte ohne Rekurs auf das dadurch möglicherweise evozierte Leid zu diskutieren. Einen Missbrauch des Tieres, also ein normatives Problem gemäß dem zweiten Kriterium, kann man hier nur konstatieren, wenn man dieses Experiment aus deontologischer Perspektive betrachtet: Dann könnte man etwa mit Tom Regan sagen, dass hier ein Missbrauch vorliegt, insofern die Ratte zu jenen Tieren gehört, denen man einen „inhärenten Wert“ zusprechen muss, da sie als „Subjekt ihres Lebens“ betrachtet werden muss. Dann wäre es für die moralische Bewertung (als moralisch falsche Handlung) gleichgültig, ob dieses Experiment für das Tier Leiden bedeutet oder nicht. Nur wenn man diese Perspektive einnimmt, kann man das moralische Problem im Sinne des zweiten Kriteriums konstruieren. Das bedeutet allerdings, den Ethiker von vornherein auf eine bestimmte tierethische Position festzulegen, die sicherlich nicht alle Tierethiker, die sich zu diesem Experiment äußern möchten, einnehmen möchten. Hinzu kommt, dass das, was uns moralisch problematisch erscheint, neben der Frage, ob und in welchem Ausmaß dem Tier Unrecht geschieht, doch die Frage ist, welche Optionen dieses neue Verfahren in der Zukunft eröffnet — etwa die militärische Nutzung von Tierrobotern. Die Instrumentalisierung von Tieren in der Forschung oder im militärischen Bereich ist zwar ethisch fragwürdig, aber ebenfalls kein neuartiges normatives Problem. Ethisch zu diskutieren ist desweiteren die Frage, ob nicht Experimente dieser Art über kurz oder lang dazu führen, Menschen in dieser Weise zu instrumentalisieren. Fazit: Es ist nicht ausschließlich der externe Zugriff auf interne mentale Vorgänge, der uns im Kontext neurowissenschaftlicher Forschung beunruhigt. Wenn man dieses Kriterium so zugrunde legt, wird der Blickwinkel des Ethikers stark eingeschränkt. Man müsste dann das eben geschilderte Experiment einmal unter neurowissenschaftlicher Perspektive untersuchen (der direkte Zugriff auf die Motorik der Ratte als ethisches Problem) und einmal aus konventionell–tierethischer Perspektive (Darf man mit Tieren solche Experimente machen (unter Leidensgesichtspunkten)?). Meine Tendenz geht dahin zu sagen, dass eine solche Einschränkung der Perspektive weder sinnvoll noch notwendig ist.

Insgesamt möchte ich konstatieren, dass wir vor dem Hintergrund der bereits bestehenden Bereichsethiken mit dem ersten Kriterium auskommen. Dann hätten wir in Anlehnung an Marckmann und Synofzik die Neuroethik als eine Ethik zu bestimmen, die sich mit den moralischen Problemen beschäftigt, die im Kontext der Neurowissenschaften auftreten. Sie unterscheiden innerhalb der Neuroethik die Bereiche
Metaethik, die konzeptionelle Fragen der Neuroethik thematisiert wie etwa die Abgrenzung des Gegenstandsbereiches oder die Methoden der verschiedenen am neurowissenschaftlichen Diskurs beteiligten Disziplinen,
Theoretische Ethik, der die Klärung von zentralen Begriffen wie etwa der Begriff der „Person“ obliegt sowie die Suche nach tragfähigen Theorien im Bereich der Handlungstheorie, der Bewusstseinstheorie aber auch der Moraltheorien,
und schließlich die Praktische oder Angewandte Ethik, in der die Bearbeitung ethischer Probleme im Kontext der Neurowissenschaften stattfindet.

Diese Strukturierung des Aufgabenbereiches ist plausibel und vermutlich unstrittig. Sie macht deutlich, wie komplex die hier anstehenden Fragen sind, dass sie neben einer Expertise in anderen philosophischen Bereichen wie etwa der Philosophie des Geistes oder der Wissenschaftstheorie vor allem auch sehr fundierte neurowissenschaftliche Kenntnisse erfordern und auch, dass wir es hier mit einer sehr attraktiven neuen Bereichsethik zu tun haben. Bleibt nur noch, die Euphorie, die sich unter Ethikern gerne einstellt, wenn ein neues Arbeitsgebiet auftaucht, durch die vielleicht etwas griesgrämig klingende Anmerkung zu neutralisieren, dass wir es auch hier mit den alten Werkzeugen zu tun haben, also unseren verschiedenen etablierten Moraltheorien und ihren unterschiedlichen Terminologien und Moralprinzipien, zwischen denen ein unentschiedener und vermutlich auch unentscheidbarer Wettbewerb weiterhin besteht und dass wir es auch innerhalb der Neuroethik mit einer Pluralität von ethischen Hintergründen zu tun haben, die einhellige Antworten nicht erwarten lassen. Nicht nur die Lösungsvorschläge für ein ethisches Problem, sondern bereits die Konstituierung eines ethischen Problems, also die Frage, was genau wir eigentlich als moralisch problematisch identifizieren, hängt maßgeblich davon ab, durch welche moraltheoretische Brille wir uns die Sache ansehen. Und damit wäre ich schon beim zweiten Teil meines Vortrags.