PhilosophiePhilosophie

Neuigkeiten

Lange Nacht der Philosophie in Berlin

 

Tagesspiegel Kultur:

Lange Nacht der Philosophie : Antifragil ist besser

14.06.2014 18:12 Uhrvon
Göttin der Weisheit. Ein Minerva-Porträt des französischen Malers Louis-Jaques Dubois Foto: bpk-imagesBild vergrößern
Göttin der Weisheit. Ein Minerva-Porträt des französischen Malers Louis-Jaques Dubois - Foto: bpk-images

Von der Grün-Welt bis zur Bla-Bla-Bla-Welt: Die erste lange Nacht der Philosophie in Berlin.

    • Information zum Datenschutz
      Wenn Sie diese Felder durch einen Klick aktivieren, werden Informationen an Facebook, Twitter oder Google in die USA übertragen und unter Umständen auch dort gespeichert.
    • Soziale Netzwerke dauerhaft einschalten

Das Institut Français am Kurfürstendamm hat eines der schönsten Kinos von Berlin. Selbst wenn man der einzige Zuschauer wäre, käme man sich hier nicht verloren vor. Der einzige? Am Freitag ist um 19 Uhr kein Platz mehr frei; sie stehen selbst an den Wänden, um einem jungen Mann zuzuhören, der ihnen zuruft: „Stellen Sie sich vor, Sie leben alle in der Grün-Welt!“ Einige Damen mittleren Alters schließen die Augen, vielleicht um das Grüne der Grün-Welt besser sehen zu können. Vielleicht auch, weil diese Veranstaltung erst am nächsten Morgen um 7 Uhr zu Ende sein wird. Zwölf Stunden noch! Zwölf Stunden, 62 Philosophen aus ganz Europa und 12 philosophische Performances: Berlins erste Nacht der Philosophie.

Der Grün-Welt-Philosoph sitzflegelt in der Pose größtmöglicher Gelassenheit auf seinem Stuhl vor dem Kinovorhang. Wahrscheinlich glaubt er, ein Philosoph ist ein Mensch, der schon mehr nachgedacht hat als andere, weshalb es nicht falsch sein kann, wenn man ihm das auch ansieht. Was also, fragt der Philosoph, ist das Hauptmerkmal der Grün-Welt? „Das Grün?“, argwöhnen flüsternd die ewigen Mitmacher des Lebens.

Der Jungphilosoph rutscht hochzufrieden noch etwas tiefer in seinen Stuhl und kündigt an, dass er jetzt zur Existenzwelt übergehe, und was sei denn in einer Existenzwelt auffällig? „Richtig, hier ist alles, hier existiert alles. Parmenides!"- „Wieso Parmenides?“, möchte man noch fragen, aber der Philosoph ist schon bei der näheren Bestimmung der Grün-Welt, als einer „Welt, in der nichts existiert, aber allerlei vorkommt“. Sollte das gar die Philosophie sein?

Er könne das gern noch an der Bla-Bla-Bla-Welt erläutern, bietet der Jungakademiker an, und fragt nach deren Hauptmerkmal. „Das Bla-Bla!“, ruft zornig eine Stimme vom Rang und fährt fort: „Ich habe Ihr Heidegger-Buch gelesen!“ Es klingt wie ein Gottesurteil. Der Denker auf der Bühne zeigt sich leicht irritiert, von nun an vibrieren hysterische Spitzen in seinen Sätzen. Seltsam, dass noch keiner gegangen ist.

Bei "Fragilität" denkt man eher an Porzellankiste als an Evolution

Es muss sich um eine Art Konträrfaszination handeln. Schließlich ist dieser eindrucksvolle Repräsentant einer vermutlich lebenslangen geistigen Adoleszenz Professor: Professor Dr. Markus Gabriel. Philosophie heißt leiden lernen! „Was hat Ihr Realismus denn für Vorzüge?“ ruft der Mann vom Rang, dem Gabriels -HeideggerAuffassung nicht gefallen hat. Im vierten Stock beginnt gleich ein Streitgespräch zwischen Mensch und Tier. Es ist auch an der Zeit, denn über die Jahrhunderte hat die Philosophie den Tieren nur mit der allergrößten Herablassung in die vernunftlosen Augen blicken können. Möglich wäre auch, sich in der Mediathek von Arnaud Macé erklären zu lassen, wie die alten Griechen die Natur erfanden, aber wer jetzt seinen Sessel aufgibt, wird keinen mehr finden. „Wieso konnte Nietzsche nicht um die Ecke sehen?“, fragt ein junger Mann seine Freundin, aber die weiß es auch nicht.

Marcus Gabriel Foto: ImagoBild vergrößern
Marcus Gabriel - Foto: Imago

Der zweite Philosoph des Abends heißt Peter Engelmann und sieht aus wie eine Allegorie zu Hegels unglücklichem Bewusstsein. Er hält seinen Vortrag in der Hand, traut sich aber nicht, ihn vorzulesen, nach dieser Performance in Grün. „Dekonstruktion - eine Theorie der Kreativität“ lautet sein Thema. Engelmann erklärt, dass es zwei Arten von Philosophie gäbe: Identitätsphilosophie und Differenzphilosophie. Wieso sagt er nicht, dass alle Identitätsphilosophie, die diesen Namen verdient, immer Differenzphilosophie ist? Der Referent mäandert durch sein Thema, das Manuskript keines Blickes würdigend. Eine zunehmende Ratlosigkeit überzieht die Gesichter. Widerstrebt etwas in der Philosophie ihrer eventgerechten Zurichtung?

Die Idee kommt aus Frankreich. Zum ersten Mal hat die Pariser Sciences-Lettres-Ecole-Normale-Supérieure vor wenigen Jahren eine „Nacht der Philosophie“ ausgerichtet, gefolgt von „My Night with Philosophers“ in London. Warum nicht auch in Berlin?, fragte das Institut Français unlängst den Präsidenten der FU Peter-André Alt. Der zögerte nicht.

Die Berliner Nacht ist noch kaum zwei Stunden alt, als Professor Dr. Gunter Gebauer im großen Saal beginnt, Arnold Gehlens Anthropologie zu kritisieren. Er möchte dessen Begriff des „Mängelwesens“ durch „Fragilität“ ersetzen. Gehlen hatte den Umstand, dass der Mensch von der Natur so einmalig schlecht ausgestattet worden sei, dass man von Vorsätzlichkeit sprechen könnte, zur Urszene des unfassbaren Erfolgs dieses minderprivilegierten Tiers gemacht. Bei „Fragilität“ denkt man eher an eine Porzellankiste statt an Evolution. Gebauer aber bleibt dabei. Fragilität ist besser! Und Ziel des Menschseins sei der „antifragile Zustand“.

Womit beginnt Philosophie? Nicht zuletzt mit dem Eros, wissen zu wollen.

Auf der Treppe ist kein Durchkommen mehr. Wollen die alle zur „Kunst, nicht fortschrittlich zu denken“ mit Marita Tatari? Die Philosophie begann einmal mit der Verachtung der Massen, der Viel-zu-vielen. Es ist schwer, in diesem Philosophentreppenstau den „antifragilen Zustand“ zu wahren. Im Erdgeschoss öffnet gleich das Chateau Ksara seine Flaschen, das älteste und größte Weingut des Libanon, um den antifragilen Zustand noch mehr auf die Probe zu stellen. Doch wie dahin kommen? Im zweiten Stock klärt der griechische Professor Giorgios Farakles darüber auf, dass er nicht gedenke, einen Vortrag zum Thema „Wirtschaftspolitik schützen? Hegel und Arendt“ zu halten, wie überall zu lesen sei. „Die Politik vor der Wirtschaft schützen?“ laute er vielmehr. Hegel und Arendt, nicht gerade Leichtgewichte für die abnehmende Aufmerksamkeit am zunehmenden Abend. Gut, dass Professor Pirmin Stekeler-Weithofer gar nicht erst versucht, das Verhältnis des Anarchisten Max Stirner zu Marx und Engels in einen strengen Vortrag zu pressen. Er sagt nur immer wieder: Lesen Sie Stirner! Ich mache Sie aufmerksam auf diesen Mann! Denn womit beginnt Philosophie? Nicht zuletzt mit dem Eros, wissen zu wollen.

Das Maison de France sieht schön aus in der Nacht mit seinen hell erleuchteten Fenstern auf allen Etagen, in denen Zuhörer stehen. Inzwischen philosophieren viele auch schon draußen mit einem Glas „Chateau Ksara“ in der Hand. Die morgens um 4 Uhr noch den Vortrag „How long is now?“ schaffen wollen, bleiben bei Kaffee. Drinnen im Kinosaal liest Professor Alexander Garcia-Düttmann ein Stück Professoren-Mitternachts-Poesie: „Die Stimme der Nacht, ist eine Stimme, die vorwärts treibt … Die Philosophie ist das einzige Licht, das die Nacht erhellt.“

Steht da Martin Heidegger hinter ihm, sehr fragil? Und was würde der Heidegger-Spezialist dazu sagen, dem Gabriels Buch nicht gefallen hat?

----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

 

Charlottenburg. Der Sinn des Lebens, ausgerollt in 15 Minuten. Ein Plüschwolf, der verweichlichte Hunde verpönt - und keine Zeit zum Fragen. Die Nacht der Philosophie verwandelte das Maison de France in eine Akademie der Gelehrsamkeit für ernsthafte Großstadtdenker und andere Schlaflose.

10 Minuten sind vergangen und Mitternacht liegt noch in weiter Ferne, da hat Professor Markus Gabriel fast alle Lücken hinter den letzten Fragen der Menschheit mit Antwortsätzen gefüllt. Nein, dieses Leben sei keine Illusion, kein Trugbild, erzählt er seinen Zuhörern, die in weichen Sesseln lehnen. Dies ist das Cinema Paris im Maison de France, dies ist die Nacht der Philosophie. Aber die Wirklichkeit, da wiederholt sich Gabriel gerne, ist kein Film. Dass Berlin nordöstlich von Köln liegt und es gerade nicht regnet, könne kein Trug sein. "Wir sind nicht in einer phänomenalen Blase", ruft er aus. Es ist 19.15 Uhr, da sind Schopenhauer und Nietzsche widerlegt.

Philosophie genießen: In dieser Nacht heißt das Treppen steigen, anstehen vor übervollen Sälen, Luft zufächeln mit Prospektmaterial. Und manches hören, was weniger einleuchtet als der Mond. Die Wahrheit ist ja mehr das Sternenglitzern, kein einzelnes Gestirn. 62 Vorträge, 12 Performances, 12 Stunden am Stück, weit über 1000 wissbegierige Gäste auf engem Raum. Da muss das Hirn viel hinnehmen. Da hat man manches unverdaut zu schlucken. Etwa wenn ein lilafarbener Plüschwolf seinem Publikum eröffnet, dass Tiere sehr wohl sprechen können. Dass das Tiersein auch eine Philosophie sei. Und der Wolf der bessere Hund.

Auf dem Hosenboden sitzend, in Türrahmen lehnend, manchmal auch fast allein im Saal - mit etwas Geduld erfahren Wahrheitssuchende Erhellendes über Atompolitik, über Europa und die Grenzen des Universums. Nur Fragen dürfen sie nicht stellen - dafür reicht die Zeit nicht aus. Doch die Liebe zur Weisheit hält länger wach als Espresso, dürfte nachhaltiger sättigen als ein Croissant. Aber ist, in Kürze genossen, ebenso schmackhaft.



Mehr lesen auf BERLINER WOCHE Online: http://www.berliner-woche.de/nachrichten/bezirk-charlottenburg-wilmersdorf/charlottenburg/artikel/44570-tausende-feierten-erste-nacht-der-philosophie/#ixzz34wGT7RQD
Follow us: @berlinerwoche on Twitter | BerlinerWoche on Facebook