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ESSAY

Fellmann, Ferdinand: Perspektiven moralischer Rechtfertigung

Ferdinand Fellmann:

Perspektiven moralischer Rechtfertigung

 „Rechtfertigung“ gehört zu den Schlüsselbegriffen der praktischen Philosophie. Allerdings ist der Begriff mehrdeutig. Rechtfertigung kann sich auf einzelne Handlungen beziehen, für die man zur Rechenschaft gezogen wird. Rechtfertigung ist hier ein apologetischer Akt, der im Nachhinein geschieht und bei dem man sich auf die Beurteilung der Situation beruft, in der man gehandelt hat. Rechtfertigung kann sich aber auch auf Handlungsnormen beziehen, die als allgemein verbindlich angesehen werden. In diesem Falle fungiert die Vernunft als oberste Instanz. Diese Tendenz wird in der gegenwärtigen Ethik dadurch bekräftigt, dass im Englischen to justify oder justification im Sinne von „begründen“ oder „Begründung“ gebraucht wird. Folglich heißt  Rechtfertigung in der Regel „rationale Begründung“, epistemic justification. Allerdings wird bei der Rede von „epistemischer Rechtfertigung“ oft vergessen, dass auch im Englischen bei justification immer ein apologetischer Sinn mitschwingt.

 Die Überzeugung, dass allgemein gültige Normen rational begründet werden können, scheint problemlos zu sein. Aber unverkennbar gerät man dabei  in die Problematik der Letztbegründung, die selbst Immanuel Kant in der Kritik der praktischen Vernunft mit der Rede vom „Faktum der Vernunft“ nicht auflösen konnte. Man landet beim Versuch einer vollständigen rationalen Begründung stets beim eigenen Interesse. Dabei ergibt die Frage, warum man es verfolgt, wie schon Platon festgestellt hat, keinen Sinn mehr. Das Eigeninteresse besteht letztlich darin, dass jeder Mensch glücklich sein möchte. Worin aber der Einzelne sein Glück sucht, ist sehr unterschiedlich und führt oft genug zu Konflikten mit anderen Menschen. Hier tut sich ein abgründiger Voluntarismus auf, der mit Gründen allein nicht zu bewältigen ist.

 Aus dem Gesagten geht hervor, dass bei der Frage der Moral andere Pfade als der ausgetretene Weg der rationalen Begründung einschlagen werden müssen. Insbesondere ist zwischen Gründen und „Beweggründen“ oder Motiven zu unterscheiden. Erstere hatte Shakespeare mit dem Satz im Auge: „Gründe sind billiger als Brombeeren“. Motive oder Beweggründe dagegen sind nicht so leicht herauszufinden, doch ihre Klärung führt zu einem besseren Verständnis der moralischen Verpflichtung. Ich möchte das in drei Schritten plausibel machen: 1. Epistemische Rechtfertigung in Theorie und Praxis. 2. Die theologische Rechtfertigungslehre als philosophisches Analogon . 3. Der Mensch, das rechtfertigungsbedürftige Wesen.

1. Epistemische Rechtfertigung in Theorie und Praxis

 a)  Zunächst einige Bemerkungen zur Verwendung des Begriffs in der theoretischen Philosophie, speziell in der Bewusstseinstheorie. Die Idee einer absoluten Begründung oder „Letztbegründung“ hat Edmund Husserl auf der Suche nach objektiver Wahrheit vertreten.  Ausgehend von der klassischen Ontologie, der zufolge alles, was ist, einen Grund hat, untersucht er Struktur und Funktion von Begründungen in den exakten Wissenschaften (LU I. Kap. 1). Das  absolut gewisse und unerschütterliche Fundament für die Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen sieht er im Cogito von Descartes, das er transzendentalphilosophisch als „reines Bewusstsein“ deutet. Die Gegebenheiten des transzendentalen Bewusstseins, die „Phänomene“, weisen verschiedene Gewissheitsgrade auf, die Husserl „Evidenzen“ nennt. Neben der formallogischen Evidenz gibt es sachliche Evidenzen, die apodiktisch sind, aber nicht auf Begründungen oder Schlussfolgerungen beruhen. Für sie nimmt Husserl ein besonderes Vermögen der „Wesensschau“, auch „Intuition“ genannt, an. Obwohl Husserl gegen den Psychologismus ins Feld gezogen ist, kommen damit wieder subjektive Momente in die Bewusstseinstheorie. Das hat Anlass zu kontroversen Diskussionen über die Bedingungen der Möglichkeit wahrer Erkenntnis gegeben, die bis heute zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt haben. Wie Husserl setzt auch Karl-Otto Apel auf Letztbegründung, und auch er möchte diese nicht auf logische Deduktion verengen. Er setzt stattdessen auf  ein Apriori der „intersubjektiven Einheit der Interpretation“ als Wahrheitskonsens (Transformation II, 411).

 Mit gutem Grund ist Jürgen Habermas von Karl-Otto Apel und seiner transzendentalpragmatischen Position als Letztbegründung abrückt. Er hält zwar am Zusammenhang von Wahrheit und diskursiver Begründung fest, erkennt aber in seiner Aufsatzsammlung Wahrheit und Rechtfertigung Formen nicht-epistemischer Rechtfertigung an (Habermas 1999, 48ff.). Diese betreffen die lebensweltlichen Praktiken zwischenmenschlicher Begegnung, die emotional ausgerichtet sind. Habermas hat die Lockerung des epistemologischen Zusammenhangs von Wahrheit und Rechtfertigung nicht explizit auf persönliche Beziehungen bezogen. Hier ist sein Schüler Axel Honneth einen Schritt weiter gegangen. Im Anschluss an Hegel konzentriert er sich auf Anerkennung als Rechtfertigungsbedingung für Freundschaft und Liebe (Honneth, Rössler 2008). Allerdings ist Anerkennung keine hinreichende Bedingung für die Überzeugung, dass jemand mein Freund ist. Anerkennung kann man jemandem aufgrund seiner Leistungen zuteilwerden lassen, selbst wenn man ihn als Person nicht mag. Liebe dagegen ist die Annahme eines vertrauten Menschen unabhängig von seinen Leistungen.

 Die Begründungsproblematik treibt auch die sprachanalytische Philosophie um, in der unter  epistemischer Rechtfertigung (epistemic justification)  Bildung von Meinungen und Überzeugungen verstanden wird, die zu „wahrem Wissen“ führen (Matthiessen/Willaschek 2010). Seit Jahren kreist die Diskussion um einen viel beachteten Aufsatz von Edmund Gettier, „Ist gerechtfertigte, wahre Meinung Wissen? -  Is Justified True Belief Knowledge? (1963). Hier werden Beispiele dafür gebracht, dass das Prinzip des zureichenden Grundes von Leibniz und seine stärkere Formulierung von Berkeley und Hume seine Gültigkeit verliert. Um die Gegenbeispiele Gettiers zu entkräften, sind verschiedene Versuche unternommen worden, Wahrheit auf „gerechtfertigte Behauptbarkeit“ innerhalb eines Systems von sich gegenseitig stützenden Aussagen oder „Propositionen“ zurückzuführen. Aber auch das funktioniert nicht. Da der Argumentationszusammenhang als Ganzer unbeweisbare Sätze enthalten kann (Der Mathematiker Kurt Gödel hat das für logisch-mathematische Kalküle nachgewiesen), kommen analytische Rechtfertigungstheorien nicht ohne evaluative Momente aus. Denn anders ließe sich die behauptete Beziehung zwischen Rechtfertigung und Wahrheit nicht erklären. Daran kranken alle Theorien epistemischer Rechtfertigung, die letztlich immer auf die Frage hinauslaufen: Was sollen wir glauben? Die Antwort kann nur eine „Ethik des Meinens“ liefern (Peter Bieri, 1997, 40, 42).

 Eine Bestätigung dieses Sachverhalts liefert der sprachanalytische Pragmatismus. Sein Begründer, Charles Sanders Peirce,  hat eine ganze Reihe von Methoden beschrieben, nach denen Wissenschaftler ihr für wahr erachtetes Wissen rechtfertigen. In seinem Aufsatz Die Festlegung der Überzeugung (1877) beschreibt er das Verfahren psychologisch als Übergang vom Zustand des Zweifels und der Unruhe in einen Zustand der Ruhe. Das ist ein durch Alexander Bain in der zeitgenössischen Psychologie verbreitetes Schema, das auch im Begriff der Intentionalität nachwirkt. Noch Edmund Husserl erläutert Intentionalität psychologisch als „Gefühl der Unbefriedigung“, das erst vergeht, wenn ein Objekt durch Anschauung vollständig erfasst wird. Damit wird klar, dass das doubt-belief-Schema in einer voluntaristischen Anthropologie verankert ist. Peirce plädiert zwar für die logische Methode, räumt aber Motiven auch in der epistemischen Rechtfertigung eine Stelle ein. Denn das Streben nach Wahrheit, das den menschlichen Erkenntnisprozess antreibt, bringt nach Peirce infolge der Unmöglichkeit einer definitiven Erfüllung in die logische Methode ein Moment der emotionalen Bevorzugung. Der „Genius der logischen Methode“ entspricht folglich nicht der rein formalen Logik, sondern einer Art Liebeslogik, deren Gewissheit von der „Braut, die man der ganzen Welt vorgezogen hat“ abhängt (Texte, 171 f.).

 Die Doppelseitigkeit des pragmatischen Ansatzes, die Verbindung von logischer Begründung und subjektiver Wertung, findet ihre Bestätigung in der Weiterentwicklung des Rechtfertigungsbegriffs bei William James. In seinem Vortrag The Will to believe (1896) rechtfertigt James die Annahme einer Überzeugung damit, dass der Mensch als Handelnder nicht warten kann, bis über die endgültige Wahrheit entschieden ist. Damit bekommt die Überzeugungsbildung bei James eine ethische Dimension, so dass es durchaus gerechtfertigt ist, das Substantiv belief mit „Meinung“ oder „Überzeugung“ wiederzugeben, während das entsprechende Verb to believe, das im Titel von James auftaucht, besser mit  „Glaube“ übersetzt wird. Damit wird der religiösen Konnotation Rechnung getragen, wie James gleich am Anfang seines Vortrags erkennen lässt: „Um ihnen zu zeigen, dass uns in Harvard doch nicht alles Interesse an diesen Lebensfragen abhanden gekommen ist, habe ich heute Abend so etwas wie eine Predigt über die Rechtfertigung durch Glauben mitgebracht – ich will sagen: einen Essay zur Rechtfertigung des Glaubens, eine Verteidigung unseres Rechts, in religiösen Fragen uns auf den Standpunkt des Glaubens zu stellen, auch wenn unser rein logischer Intellekt sich nicht dazu gezwungen sieht. Demgemäß lautet der Titel meines Vortrages: ‚Der Wille zum Glauben’“ (Texte, 128).  Mit seinem „sermon on justification by faith“ knüpft James an die paulinische justificatio sola fide an, um dann unauffällig vom pastoralen Diskurs zur philosophischen Argumentation überzuleiten und von „justification of faith“ zu sprechen. So verschiebt sich der Sinn vom religiösen Glauben zur praktischen Überzeugung, die dann nicht mehr mit dem Wort faith bezeichnet, sondern in „believing attitude“ verwandelt wird.

 Diese  Transformation der paulinischen Formel  ist auch bei Bertrand Russel anzutreffen, der Wahrheit für eine Eigenschaft des Glaubens hält und der schreibt: „… vom Standpunkt der Erkenntnistheorie und der Definition der Wahrheit sind Sätze wichtig, die einen Glauben ausdrücken“ (Russell 1959, 183).  Dabei schwankt der Begriff „Glaube“ (belief) zwischen psychologischen und logischen Gründen für die Bevorzugung einer Meinung. Karl Popper hat in seiner späten evolutionären Erkenntnistheorie die Suche nach Rechtfertigung aufgegeben, was aber nicht heißt, dass er die Suche nach Wahrheit verabschiedet. Im Gegenteil: „Wir rechtfertigen unsere Bevorzugungen durch Berufung auf die Idee der Wahrheit“  (1973, 42). Das gibt einen Hinweis auf die den modernen Sprachanalytikern oft nicht bewusste Tatsache, dass sich hinter ihrem scheinbar rein kognitivistischen Konzept von Rechtfertigung ein das analytische Denken übersteigender Bewusstseinszustand verbirgt.

 Der kurze Rückblick lässt erkennen, dass die Versuche der neuzeitlichen Subjektphilosophie, wissenschaftlichen Hypothesen durch Letztbegründung absolute Gewissheit zu verschaffen, sich als unzureichend erwiesen haben. „Rechtfertigung“ ist gegenüber „rationaler Begründung“ der weitere Begriff, der auf die Mehrdimensionalität menschlichen Wissens und menschlicher Gewissheiten verweist. Mit Ludwig Wittgenstein zu sprechen: „Was die Menschen als Rechtfertigung gelten lassen, – zeigt, wie sie denken und leben“ (Wittgenstein PU 325). Damit bekommt Rechtfertigung eine kulturanthropologische Färbung, die der Kette der Gründe ein Ende setzt, so dass an die Stelle von Gründen konkrete Lebensformen treten. In diesem Sinne ist unter Rechtfertigung eine Form von emotionaler Gewissheit zu verstehen, die Soziologen „ontologische Sicherheit“ nennen (Anthony Giddens). Man kann mit Husserl auch von „Weltglaube“ sprechen, der in der Überzeugung von der unbegrenzten Anpassungsfähigkeit des menschlichen Bewusstseins an die Gegebenheiten der Lebenswelt besteht.

 b) In der praktischen Philosophie macht Rechtfertigung eher noch größere Schwierigkeiten. Menschen begreifen sich als Individuen, die in ihrem Handeln frei entscheiden können.  Die Frage, nach welchen Kriterien Entscheidungen getroffen werden, scheint eine klare Antwort zu finden: durch Überlegung und Abwägung von Gründen und Folgen. Dem folgen Handlungstheorie und Entscheidungstheorie, die mit Kant in der praktischen Vernunft das Fundament der Moral sehen. Allerdings wirft der Standpunkt der Vernunft Probleme auf, die sich mit  der rein rationalen Normenbegründung nicht lösen lassen. Denn die Form des Gesetzes ist kein hinreichender Grund, ihm zufolge zu handeln. Zwar operiert Kant mit der „Achtung vor dem Gesetz“, die er als „intellektuelles Gefühl“ bezeichnet. Aber das ist ein hybrides Gebilde; und was geschieht, wenn die bloße Vorstellung eines Gesetzes einem Menschen keine Achtung einflößt?

 Im Alltag gibt es genug Situationen, in denen die Anwendung allgemeingültiger Normen zu keinem befriedigenden Ergebnis führt. Daher beschäftigen Normenkonflikte die angewandte Ethik unter dem Titel „moralische Dilemmas“ seit längerem. Der Fall eines moralischen Dilemmas unterscheidet sich von einer reflexartigen Reaktion, mit der jemand bei plötzlich auftretenden Gefahren sich selbst oder einen anderen rettet. Beim Dilemma hingegen bleibt immer noch ein, wenn auch kurzer, Hiatus zwischen Absicht und Handlung. Entscheidungen unter Zeitdruck  müssen mit einem Mangel an rationalen Bestimmungsgründen, so und nicht anders zu handeln, gefällt werden. Man denke nur an das viel diskutierte Beispiel zweier Menschen, die am Ertrinken sind - der eine ist meine Frau (oder mein Mann), den anderen kenne ich nicht. Viele würden  sich für die Rettung der Angehörigen entscheiden und damit einer sozialen Norm folgen, die aus der Struktur der Familie als sozialer Wert folgt. Nun aber kann man folgende Variante konstruieren: von zwei Ertrinkenden ist einer meine Frau, der andere unser gemeinsames Kind. Da beide zur Familie gehören, gerate ich in ein moralisches Dilemma. Wenn ich meine Frau rette, machen wir uns nachher Vorwürfe, wenn ich unser Kind rette, verliere ich die Frau, was mich zum alleinerziehenden Vater machen würde. Noch komplizierter wird die Situation, wenn das Kind nicht von mir ist, sondern aus der geschiedenen Ehe meiner Frau stammt. Da die Blutsbande ihre normative Kraft verloren haben und in der sog. „Regenbogenfamilie“ jeder für sich selbst steht, ist eine von allen Beteiligten akzeptierte Entscheidung ausgeschlossen. Wie immer man sich verhält, jeder macht jedem Vorwürfe, die individuellen Bedürfnisse und Gefühle des anderen verletzt zu haben. Im Chaos widerstreitender Gefühle hat die Vernunft keine Durchschlagskraft. Das hat manche Denker dazu bewogen, an der Vernunftethik überhaupt zu zweifeln. Hier helfen nur Kriterien, die in einen Bereich fallen, der heute „emotionale Intelligenz“ genannt wird.

 Zwar gibt es Versuche, auch in dieser Situation durch vernünftige Abwägung die epistemische Rechtfertigung zu retten, aber die Praxis sieht anders aus. Denn in Ausnahmesituationen sind die Beteiligten in der Regel nicht in gleicher Position, nicht auf Augenhöhe, wie sie von Diskurstheoretikern vorausgesetzt wird. Daher liefert die rationale Entscheidungstheorie keine Lösung, mit der die Beteiligten leben können. Auch wenn Julian Nida-Rümelin dafür argumentiert, dass moralische Dilemmas keine Einschränkung der praktischen Vernunft im Sinne Kants zur Folge haben (Nida-Rümelin 2013), so bleibt doch unübersehbar, dass es sich um Motive handelt, die sich nicht auf Gründe reduzieren lassen. Motive stellen als Ausdruck von Werthaltungen eine Form impliziten Wissens dar, das auf einem Zusammenspiel von Emotionen und Konventionen beruht. Nicht die Logik der Schlüsse und die Kette von Gründen, sondern das Netz der Gefühle ist entscheidend, wie man mit den Aporien situationsbedingter Entscheidung umgeht.

2. Die theologische Rechtfertigungslehre als philosophisches Analogon

 Die Schwierigkeiten mit dem Standard der epistemischen Rechtfertigung sowie die Vermischung von Wissen und Glauben in der „Ethik des Meinens“ (Bieri hätte sie auch „Ethik des Glaubens“ nennen können; bei Roderick Chisholm heißt es „ethics of belief“) machen es sinnvoll, einen Blick auf die christliche, genauerhin paulinische Rechtfertigungslehre zu werfen. Diese wird in den gängigen Darstellungen zwar von der Philosophie getrennt behandelt, doch gibt es eine wechselseitige  Beeinflussung, die Licht auf das Rechtfertigungsthema wirft. Karl Popper hat darauf hingewiesen, dass der Empirismus aus historischer Perspektive mit dem Problem beschäftigt war,  wie sich die wissenschaftliche Erkenntnis zur „vernünftigen Rechtfertigung oder Rechtfertigbarkeit des Christentums“ verhält. Das erkläre, warum der Empirismus das Wissen durchweg als „eine Art des Glaubens“ behandelt hat, eines Glaubens, der „durch das Zeugnis unserer Sinne gerechtfertigt war“ (1973, 145).

 Theologisch war „Rechtfertigung“ ursprünglich ein forensischer Begriff. Er bezeichnet das Urteil, das jeder Mensch am Ende aller Tage zu erwarten hat. Das Jüngste Gericht ist kein Zivilgericht, sondern ein Strafgericht, das dem Menschen drohend bevorsteht. Die Härte des Gerichts resultiert aus der alttestamentarischen Tradition, in der das Verhältnis zwischen Mensch und Gott als Vertragsverhältnis gedacht wird („Alter Bund“ im Sinne eines Vertrags zwischen Ungleichen). Dieses forensische Modell erfährt im Neuen Testament eine bedeutsame Transformation, die zur Bedeutungsverschiebung des Begriffs führt. Im Brief an die Römer versteht der Apostel Paulus unter Rechtfertigung die Wiederherstellung des gestörten Verhältnisses zwischen Mensch und Gott „allein durch den Glauben“ (bei Luther dann: justificatio sola fide). Dabei ist Rechtfertigung mehr als ein Freispruch; sie ist ein Akt des „gerecht Machens“, eine Art Neuschöpfung des Menschen durch Gottes Gnade. Die Gnadenwahl setzt voraus, dass der Mensch bereit ist, das Wort Gottes anzunehmen. Inwieweit der Mensch in seiner Persönlichkeit sich dadurch verändert, wird von den christlichen Konfessionen verschieden eingeschätzt. Die katholische Dogmatik geht davon aus, dass Rechtfertigung den Menschen vom Bewusstsein seiner Sünden befreit, die protestantische Lehre besteht dagegen auf der Koexistenz von Sünde und Rechtfertigung.

 Der Gegensatz zum Judentum äußert sich darin, dass für Paulus die Rechtfertigung durch Christus gegenwärtige Wirklichkeit geworden ist. Der entscheidende Punkt bleibt auch hier der Glaube, weshalb Paulus von Denkern der jüdischen Tradition gern als der „Einfältige“ hingestellt wird – so auch von Adorno in der Dialektik der Aufklärung (1947). So einfältig war Paulus aber nicht, dass er nicht gemerkt hätte, dass im Glauben der Mensch sich nicht auf die Werke des Gesetzes berufen kann.  Das verkehrt die Richtung des Prozesses der Rechtfertigung. Denn indem der Mensch des „Neuen Bundes“ auf Verteidigung durch Angeben von Gründen verzichtet, legt er sein Schicksal ganz in die Weisheit des Richters. Nach diesem Muster heißt Rechtfertigung: „Abnehmen von Schuld“ oder „Freisprechen“ des Menschen, der durch sein schuldhaftes Verhalten nach Maßstäben irdischer Gerechtigkeit eigentlich mit ewiger Verdammung rechnen müsste. Damit wird der Rechtfertigungslehre ein bedeutsamer anthropologischer Gehalt zugesprochen. Er kommt dort zum Tragen, wo die Selbstgesetzgebung der Vernunft an ihre Grenzen stößt. Die wichtigsten Etappen der Integration von theologischer und philosophischer Rechtfertigungslehre sind folgende:

 a) Der Reformator Martin Luther hat sich in seiner Vorlesung über den Römerbrief zur genuin paulinischen „Rechtfertigung allein durch den Glauben“ so geäußert: “‘Gerechtigkeit‘ und ’Ungerechtigkeit‘ wird in der Heiligen Schrift ganz anders verstanden, als die Philosophen und Juristen sie auffassen“ (Werke 1, 178 f.). Das andere Verständnis besteht darin, dass es sich nicht um eine Strafgerechtigkeit handelt – die Strafe hat in Voraus schon der Gottessohn getragen, indem er als Mensch sich unschuldig töten ließ –, sondern um ausgleichende Gerechtigkeit. Der Ausgleich, den Gott dem Sünder gewährt, ist kein Straferlass, sondern liegt in der Einsicht des Menschen in seine Sündhaftigkeit. Das ist insofern ein Gnadengeschenk, als der Mensch den Hang hat, sich selbst „blauen Dunst“ vorzumachen. Falsches Bewusstsein hält auch Kant für ein größeres Übel als die böse Tat selbst, da es den Menschen in seiner Selbstgerechtigkeit von anderen Menschen isoliert.

 Für die philosophische Dimension der theologischen Rechtfertigungslehre ist Luther insofern zentral, als er einen Mittelweg zwischen Determinismus und Dezisionismus beschreitet. Er beschreibt das In-der-Welt-Sein als direkte Beziehung des Menschen zu Gott dem Allwissenden, was für das Individuum eine schwere Aufgabe bedeutet. Denn jeder muss sich nun nicht für einzelne Werke verantworten, sondern im Glauben steht seine ganze Person unter der Notwendigkeit der Rechtfertigung. Daher geht Luther bei der Beschreibung des Verhältnisses zu Gott von ontologischen zu relationalen Kategorien über, wodurch ein dialektischer Grundzug in das Verhältnis von Glaube und Gnade gelangt. Die Gnade soll ganz von Gott ausgehen, aber ohne den Glauben als die Bereitschaft zur Aufnahme bliebe die Rechtfertigung im diesseitigen Leben wirkungslos. Luther ist mit einigem Erfolg darum bemüht, das Problem der Verschränkung von Aktivität und Passivität im Sinne der paulinischen Rechtfertigungslehre zu lösen, ohne den Menschen gänzlich der Freiheit einer Mitwirkung an seinem Heil zu berauben.

 b) Einen Schritt weiter im Bemühen, die protestantische Rechtfertigungslehre in eine den Ansprüchen der philosophischen Rationalität genügende Form zu bringen, ist Kant gegangen. Seine Vernunftkritik, die sich nicht zufällig an der Gerichtsmetaphorik orientiert, demonstriert die Stärke der menschlichen Vernunft an der Fähigkeit der Selbstgesetzgebung. Diese betrifft aber immer nur einzelne Handlungen. Kant ist sich aber im Klaren darüber, dass die Rechtfertigung des Menschen nicht von der einzelnen Tat abhängen kann, sondern „dass ihm sein ganzes Leben dereinst werde vor Augen gestellt werden, nicht bloß ein Abschnitt desselben“ (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Zweites Stück, Erster Abschnitt). Das Verlangen nach Rechtfertigung der ganzen Person führt zur Erhöhung des moralischen Drucks: Wenn man im Menschen bei dem Richter, „der in ihm selbst ist, anfragt, so beurteilt er sich strenge; denn er kann seine Vernunft nicht bestechen“ (ebd.). Eben diese Unbestechlichkeit macht Rechtfertigung zu einer „unendlichen Aufgabe“, die vom Menschen den Mut erfordert, die „Faulheit der Vernunft“ zu überwinden.

 Während Kant die Rechtfertigungsproblematik noch im Rahmen der Rechtsmetaphorik behandelt, geht Hegel geht einen Schritt weiter in der Säkularisierung des religiösen Glaubens. Sein Begriff der Freiheit des „bei sich selbst seienden“ Subjekts baut auf der paulinischen Gewissheit des Glaubens auf. Aber entsprechend seiner Idee einer konkreten Sittlichkeit verwandelt Hegel die Innerlichkeit der Subjektivität in die Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft, wodurch Rechtfertigung zu einem weltgeschichtlichen Prozess wird. Ausgangspunkt dieses Prozesses ist die im Zeitalter der Industrialisierung sich abzeichnende Entzweiung des Subjekts, die Hegel an einer unorthodoxen Interpretation des Sündenfalls expliziert. Daraus resultiert nach seiner Auffassung ein „Bedürfnis nach Versöhnung“, die „nur Versöhnung sein (kann) mit der Wahrheit“ (Werke 17, 52). In dem Moment, wo „die Rechtfertigung durch den Begriff Bedürfnis ist“, weil durch den Zerfall der Einheit des Inneren und Äußeren „im Glauben nichts gerechtfertigt ist“, ist für Hegel der Zeitpunkt der Aufhebung der Religion durch die Philosophie gekommen (17, 343). Eben darin sieht Hegel die Versöhnung, die allein der Philosophie vorbehalten ist, denn „diese Versöhnung ist die Philosophie“.

 c) Mit Kant und Hegel sind die beiden philosophischen Koordinaten markiert, entlang derer sich im 19. Jahrhundert die Weiterentwicklung der Rechtfertigungslehre vollzieht. Exponent dieser Entwicklung ist Albrecht Ritschl, der Vater des deutschen Kulturprotestantismus. Im Anschluss an Kant steht Ritschl für die Vollendung der Aufklärung, von der aus er zugleich auf die Linie Hegels einbiegt. Diese Doppelgleisigkeit kommt im Titel seines Werkes Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (1870-74) klar zum Ausdruck. Ziel der Rechtfertigung als Versöhnung ist laut Ritschl die Verwirklichung des christlichen Lebensideals in der bürgerlichen Gesellschaft. Es geht also nicht mehr um die streng paulinische „Rechtfertigung allein durch den Glauben“, sondern um die Anstrengung der Christen, den Glauben mit einem praktischen Lebensideal zu verbinden. Als Versöhnung verliert Rechtfertigung ihren individualistischen Charakter und rückt sie in die Nähe zum weltlichen Familiengeist, so dass man den kulturprotestantischen Rechtfertigungsbegriff durchaus als eine Form des europäischen Kommunitarismus auffassen kann.

 Die Zweckharmonie des Zusammenlebens ist durch Sören Kierkegaard zerbrochen worden, der im Anschluss an die protestantische Rechtfertigungslehre das authentische Selbstsein als Anerkennung der Abhängigkeit des Menschen von Gott als dem „absolut Anderen“ interpretiert. Die Leistung Kierkegaards liegt darin, dass er die dogmatische Begrifflichkeit in anthropologische Befindlichkeit transformiert, ohne damit den Sachgehalt der Rechtfertigungslehre preiszugeben. In Die Krankheit zum Tode entwickelt Kierkegaard die moderne Rechtfertigungsproblematik am Phänomen der Verzweiflung. In der Verzweiflung werde deutlich, dass die bürgerliche Gesellschaft den sündigen Menschen nicht zum Selbstsein verhelfen kann. Allein der Glaube könne das Selbstsein rechtfertigen und so der schenkenden Gnade Gottes gewiss sein.

 d) Unter dem Einfluss von Kierkegaard hat nach dem Ersten Weltkrieg die Dialektische Theologie die innerweltliche Rechtfertigung noch weiter gesprengt. Karl Barth hat in seinem berühmten Römerbrief-Kommentar (1922, 2. Aufl.) die Gewissheit des Glaubens von der Welt abgetrennt und der Wirkung des verborgenen Gottes zugeschrieben: „Der Glaube begründet Gewissheit, sofern er der ewige Schritt ins ganz und gar Unanschauliche und also selbst unanschaulich ist“(Der Römerbrief, 120). Wenn es für den Menschen überhaupt Versöhnung und Heilung geben sollte, dann nur durch die Gnadenfügung Gottes, die keinen Vergleich mit weltlicher Gerechtigkeit zulässt. Die Gerechtigkeit Gottes zeigt sich nach Barth erst dann, wenn der Mensch die Wirklichkeiten, in denen er lebt, nicht mehr als den höchsten Wert betrachtet. Für den Gläubigen, der sich ganz auf die Gnade Gottes verlässt, erscheint sogar die Vernunft als nichtsnutzig, geradezu als unvernünftig. In der „Paradoxie des Glaubens“ erschließt sich dem Menschen ein „ganz Anderes“, das sich der „Gestalt der Welt“ grundsätzlich entzieht. Das gilt für die leibliche Gestalt ebenso wie für die geistige.

 Die Reaktion der sich „dialektisch“ nennenden Theologie war für die Philosophie eine starke Herausforderung. Sind ihr doch die unüberschreitbaren Grenzen vor Augen geführt worden, die Identitätsphilosophie des deutschen Idealismus gezogen sind. Damit wurde klar, dass absolute Rechtfertigung der menschlichen Existenz aus der synthetischen Einheit des Bewusstseins ebenso unmöglich ist wie eine Letztbegründung des Wissens. Angesichts der Heillosigkeit der Welt bleibt nach Ansicht der dialektischen Theologen dem Menschen nur die radikale Negation der Geltungsansprüche überzeitlicher Vernunftwahrheiten. Damit war ein Begriff von Rechtfertigung etabliert, der sich jeder positiven Darstellung grundsätzlich entzieht. Mit dieser radikalen Position wurde die Synthese von protestantischer Theologie und transzendental-idealistischer Philosophie endgültig in Frage gestellt.

 e) So negativ dialektisch Barths Gottesverhältnis auch war, seine Verteidigung dieser Haltung enthielt doch für die Anthropologie positive Aspekte: „Wir müssen die große Sachlichkeit wiedergewinnen, in der sich Paulus mit den Propheten, mit Plato begegnet.“ (Der Christ in der Gesellschaft, 42). Barth scheint durchaus ein Gespür dafür zu haben, dass in der religiösen Erfahrung mehr Weltliches steckt, als seine Invektiven gegen den Hedonismus zugeben. So warnt er selbst vor einer Unterschätzung der Macht des Eros: „Das Ziel jenes allgemeinen Lebensdranges ist ein Ende. Der Zeugung unmittelbar gegenüber steht der Tod. Was geschaffen ist, ob Geschöpf oder Werk, ist für die Zeit geschaffen. Wenn Geschöpf oder Werk in ihrer höchsten Schönheit zu uns reden (Mozart!), dann, gerade dann ist’s tiefe Wehmut, die da redet. Wer wüsste das nicht?“ (Der Römerbrief, 457). Der Verweis auf Mozart spricht Bände. Der Mozart-Verehrer Barth sagt dazu in seinem späten Werk Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (1946): „Er hörte, wie sein Don Juan, den Schritt des steinernen Gastes. Er ließ sich aber, wie sein Don Juan, nicht irre machen darin, rein weiter zu spielen in Gegenwart des steinernen Gastes“ (53). Die Erwähnung von Mozarts Don Giovanni deutet darauf hin, dass Barth die Tragik dieser Gestalt geistig durchdrungen hat und sich durchaus vorstellen kann, dass der Mensch auch ohne Glauben an Gott durch das Spiel mit der Liebe bestehen kann. Don Giovanni eilt von Genuss zu Genuss, aber er erfährt in der Vergeblichkeit der endgültigen Befriedigung die Anwesenheit eines „ganz Anderen“.

 Diese Konstellation geht auf Friedrich Nietzsche zurück, der die Existenz Gottes als rechtfertigende Instanz wegstreicht. Nun sieht sich der moderne Mensch auf innerweltliche Instanzen verwiesen. Für Nietzsche war es die Kunst, die zur ästhetischen Rechtfertigung der Welt führen soll. Diesem Rechtfertigungsbegriff haftet der Makel Ästhetizismus an, aber ästhetische und erotische Erfahrung sind eng miteinander verbunden. Denn entgegen Kants Theorie der ästhetischen Erfahrung ist das Wohlgefallen am Schönen niemals ganz interesselos. Hier bietet sich der menschliche Körper als Medium an, in dem die sinnliche Begierde personal transformiert wird. In der Intimität gewinnt die Emotionalität eine Bedeutungsfülle, die das isolierte Subjekt niemals erreichen kann

 Damit dürfte deutlich geworden sein, dass, historisch gesehen, die neuzeitliche Rechtfertigungslehre der christlichen Religion entspringt, der Gott verloren gegangen ist. Wenn für die Rechtfertigung der Glaube nicht mehr reicht, kann nur die Liebe seine Stelle einnehmen. In der Liebe gewinnen die Menschen das Bewusstsein dessen, wer sie sind und was sie eigentlich vom Leben erwarten. Diese Einsicht wird ihnen im Alltag durch die Anerkennung seitens eines geliebten Partners zuteil. Dabei treten Gründe in den Hintergrund, Letztbegründung wird schon gar überflüssig. So lösen sich die Aporien eines kognitiven Moralverständnisses auf, das sich für einzelne Handlungen auf den in sich selbst zentrierten Logos stützen will. Zwar bietet auch die Liebe keine absolute Sicherheit, aber sie ist die einzige Form innerweltlicher Rechtfertigung, die ganz auf Gegenseitigkeit beruht.

 3. Der Mensch, das rechtfertigungsbedürftige Wesen

 „Alles untergeistige Wesen steht jenseits der Frage von Wert und Recht, es ist schlechthin. Höhe aber und Bedrängnis des Menschen presst sich in die Formel zusammen, dass er sein Sein rechtfertigen muss“. (Simmel 1921, 264). Dieser Satz des Soziologen und Kulturphilosophen Georg Simmel gibt zu denken. Wenn der Mensch im Unterschied zum Tier (dem „untergeistigen Wesen“) das Wesen ist, das sein Sein rechtfertigen muss, so kann es sich nicht um den Akt handeln, den wir im normalen Sprachgebrauch unter Rechtfertigung verstehen, nämlich erklärende oder entschuldigende Gründe für einzelne Handlungen anzuführen, die für sich genommen unverständlich oder unakzeptabel sind. Das macht im Bezug auf das Sein des Menschen keinen Sinn, da sich niemand dafür zu entschuldigen braucht, dass es ihn gibt. Die Formel von der Rechtfertigungsbedürftigkeit des Menschen verweist daher auf einen anderen Sinn des Wortes, der im kulturellen Diskurs heute weitgehend verloren gegangen ist und die die anthropologische Differenz betrifft, die den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnet.

 Arnold Gehlen hat für den Menschen die paradoxe Formulierung geprägt, er sei von Natur aus ein Kulturwesen. Kulturen leben von Institutionen, die individuelle Bedürfnisse sachlich und berechenbar machen. Individualität und soziale Kompetenz bedingen sich wechselseitig, es bedarf allerdings einer vermittelnden Instanz. Als diese Instanz fungiert die zwischenmenschliche Kommunikation. In programmatischer Form hat diesen Sachverhalt der Vertreter der „Philosophie des Du“, Martin Buber, in seinem Essay Urdistanz und Beziehung (1950) ausgesprochen: „Das Tier braucht nicht bestätigt zu werden, denn es ist, was es ist, unfraglich. Anders der Mensch: aus dem Gattungsbereich der Natur ins Wagnis der einsamen Kategorie geschickt, von einem mitgeborenen Chaos umwittert, schaut er heimlich und scheu nach einem Ja des Seindürfens aus, das ihm nur von menschlicher Person zu menschlicher Person werden kann; einander reichen die Menschen das Himmelsbrot des Selbstseins“ (Werke I, 423). Was Buber hier für die menschliche Gemeinschaft im Allgemeinen postuliert, gilt im Besonderen für die Liebe. In ihr kann der Mensch sich von Triebzielen entfernen und Lebensformen entwickeln, deren Freiheit weit über das Notwendige und Nützliche der Selbsterhaltung hinausgeht.

Die Liebe liefert eine noch vor der rationalen Organisation der Lebensverhältnisse liegende Rechtfertigung des Menschen. Wie das Zitat von Martin Buber erkennen lässt, liegt die Rechtfertigung darin, dass der Mensch, der anders als das Tier nicht unfraglich das ist, was er ist, die Fraglichkeit seines Daseins in der Hinwendung zum anderen überwindet.  Die Differenz zwischen Sein und Bewusstsein, die den Menschen belastet, ist zugleich seine Chance,  sein Leben so zu gestalten, dass die Harmonie mit der Welt gewahrt bleibt.

 Nach Kierkegaard prägt die Angst das moderne Existenzgefühl;  bei Heidegger wird die Angst eine Grundstimmung, die den „Abgrund des Nichts“ offenbart (Heidegger 1949, 55). Anders als konkrete Furcht steht die Angst für ein Lebensgefühl der Entfremdung und Verlassenheit, das die Subjektivität gelegentlich ohne erkennbaren äußeren Grund überfällt. Die Erfahrung der existenziellen Angst begleitet nicht selten das sexuelle Begehren, das in der Gefühlsambivalenz ihren stärksten Ausdruck findet. Auch und gerade in der Vereinigung mit dem anderen erfährt das Individuum seine Einsamkeit. Entsprechend hat Platon im Symposion den Gott bzw. Dämon Eros als Sohn des Reichtums und der Armut bezeichnet. Der Reichtum steht für die lebensspendende Macht, die der Mensch im Liebesrausch erfährt, die Armut für das Gefühl der Unsicherheit, das ihn überfällt, wenn er aus dem Rausch erwacht. Die Paradoxie der erotischen Erfahrung stellt den Menschen vor die Frage nach dem, was er eigentlich ist. In der anthropologischen Frage äußert sich die Nicht-Identität, die menschliches Bewusstsein von tierischem Lebensgefühl unterscheidet.

 Wie kein anderer hat Jean-Paul Sartre die Selbsterfahrung des modernen Menschen im Selbstzerwürfnis dargestellt. In seinem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts heißt es, dass der Mensch in seiner absoluten Kontingenz „nicht zu rechtfertigen“ sei (unjustifié et injustifiable – Sartre EN 76). Mit einer Ausnahme. In seiner Analyse des erotischen Begehrens schreibt Sartre der Liebe die Kraft der Rechtfertigung zu. Ohne Liebe sei der Mensch eine „ungerechtfertigte und nicht zu rechtfertigende Protuberanz“. Erst im Lieben und Geliebtwerden erfahren wir die Freiheit der absoluten Wahl unserer Existenz: „Das ist der Grund der Liebesfreude, wenn sie denn existiert. Uns gerechtfertigt fühlen, dass wir existieren“ (EN 439).

 Sartres subtile Beschreibungen der erotischen Liebe führen zu der von beiden Partnern geteilten Überzeugung, dass keiner den anderen bloß als Mittel zu eigenen Zwecken gebraucht. In der Zweierbeziehung werde der Eros selbstreferentiell, er verfolgt keinen Zweck außerhalb der Liebe. Wer nicht an die Liebe als dauerhafte Zweierbeziehung glaubt, selbst wenn sie im konkreten Fall in die Brüche geht, zerstört die Freiheit, die laut Sartre nur in der konkreten Situation gewonnen werden kann. Auch Simone de Beauvoir lässt die Freiheit nicht im isolierten Subjekt entstehen, sondern aus der Begegnung mit dem anderen. Das Individuum überwindet seine Kontingenz nur, wenn es sich der Subjektivität des anderen öffnet: „Der Mensch kann eine Rechtfertigung seiner Existenz nur in der Existenz der anderen Menschen finden. Er braucht eine derartige Rechtfertigung, er kann ihr nicht entkommen“ (de Beauvoir 1954, 103 f.). Rechtfertigung durch die Liebe, man kann sie auch „erotische Rechtfertigung“ nennen (Fellmann, 2013),  bleibt freilich in Folge der Dialektik von Freiheit und Bindung immer in der Schwebe. Das macht die „Ambiguität“ der existentialistischen Moral aus, die anders als die rigoristische Vernunftethik darum bemüht ist, einen Ausgleich zwischen dem sinnlichen Begehren der Menschen zu finden.

 Die genannten Referenzautoren sind Grund genug, den Begriff der existentiellen Rechtfertigung in der Philosophischen Anthropologie stark zu machen. Im Unterschied zur epistemischen Rechtfertigung, die im Medium der propositionalen Aussagen öffentlich ist, beruht existentielle oder erotische Rechtfertigung auf einer privaten Bindung, in der die Liebenden ihr Innerstes preisgeben, um dem anderen nahe zu sein. Dabei entwickelt sich eine Dialektik von Nähe und Distanz, die zu dem Paradox führt, dass durch die Bindung die Partner zum Bewusstsein ihrer personalen Identität kommen. Weit davon entfernt, dem Individuum seine Eigenständigkeit zu nehmen, gibt die Bindung den Beteiligten ein Selbstwertgefühl, das jenseits epistemischer Rechtfertigung liegt.

 Die Liebe bildet ein Forum, vor dem über zwei absolute Geltungsansprüche entschieden wird. In dieser einmaligen Konstellation geht es nicht um die Bewertung von Handlungen, sondern um die Darstellung gemeinsamer Erwartungen. In dieser Hinsicht hilft „Rechtfertigung“ als forensischer Terminus nicht weiter. Denn dem Forum der Paargerechtigkeit sitzt kein allwissender Richter vor, sondern das Paar selbst. Nur die Liebenden können über ihre Gefühle Auskunft geben. In dieser Konstellation wird aus Anerkennung Liebe, die sich über alle Gründe hinwegsetzt. Der Begriff der Rechtfertigung gewinnt damit eine neue Bedeutungsdimension: Rechtfertigung heißt Klärung der Emotionen in der intimen Beziehung, in der sich erwachsene Menschen so begegnen, dass sie sich ihrer Begierden nicht zu schämen brauchen. Auf diese Weise kann der Mensch mit der Zufälligkeit seiner Existenz fertig werden, sich in seinem In-der-Welt-sein gerechtfertigt fühlen. Kein geringerer als Immanuel Kant hat diesen Gedanken in die Frage gekleidet: „Warum musste ein solches Paar existieren?“. Die anthropologische Antwort auf diese Frage lautet: Weil Liebe jedem einzelnen die Gewissheit gibt, als der angenommen zu sein, der er ist: ein unersetzbares Individuum (Fellmann 2011). Das ist der tiefere Sinn von Rechtfertigung allein durch die Liebe.

 Sein und Bewusstsein – beide Aspekte gehören zum Menschsein und bedingen sich wechselseitig. Der Versuch, die theologische Rechtfertigungslehre in die Anthropologie zu integrieren, mag als Säkularisierung religiöser Denkformen seitens der theologischen Dogmatik auf Ablehnung stoßen. In der Liebe aber liegt eine strukturelle Übereinstimmung von erotischer und religiöser Erfahrung. Die Erfahrung hat zwar allgemein menschliche Inhalte, aber sie muss von jedem selbst gemacht werden. In der christlichen Religion versichert der Opfertod Jesu die Gläubigen, dass sie im Leiden und Sterben von Gott nicht allein gelassen sind; in der Liebe geben die Partner das Versprechen, dass jeder vom anderen als Person so, wie er/sie ist, angenommen wird. Dabei geht es nicht um einzelne Handlungen, sondern um den ganzen Menschen und seine innere Einstellung. Was immer er auch getan haben mag, wenn er das Herz an der richtigen Stelle hat, wie man gern sagt,  ist er gerechtfertigt und rechtfertigt das Dasein anderer Menschen.

 Zu Einstellungen kann man sich nicht wie zu Handlungen entschließen, aber man kann und soll daran arbeiten, ein positives  Verhältnis zu den Mitmenschen zu gewinnen. Dafür gibt es einen guten Grund, nämlich das Streben nach Glück, das jeder Mensch notwendig verfolgt und bei dem er auf die freie Zustimmung anderer angewiesen ist. Der Grund, aus dem man eine Einstellung oder Überzeugung hat, wird zum Motiv, aus dem man handelt. Damit verschiebt sich auch die streng rationale Begründung moralischer Normen in Richtung auf eine Philosophie der Lebenskunst, die mehr ist als bloße Überlebensstrategie. Lebenskunst im Sinne von existentieller Rechtfertigung macht die Freiheit aus, die den Menschen als Person vom Tier als Gattungswesen unterscheidet. Das ist die integrale Funktion der Rechtfertigung in der praktischen Philosophie.