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Sadiq Jalal al-Azm - Ein Porträt von Sarhan Dhouib

                               Sadiq Jalal al-Azm (1934-2016)

 - ein  politisch aktiver Philosoph

 

Ein Porträt von Sarhan Dhouib

 

Al-Azm,  am 7. November 1934 in Damaskus geboren, wuchs in einer sunnitisch geprägten aristokratischen Familie auf, die sich am kemalistischen Ideal des Laizismus orientierte.  Er wurde an von christlichen Missionaren gegründeten Schulen in Syrien und Libanon ausgebildet, was ihm sehr früh den Zugang zu Themen der europäischen Moderne, Aufklärung und Kulturgeschichte ermöglichte. 1953 erhielt er seinen Highschool-Abschluss von der amerikanisch-evangelischen Sekundar­schule (genannt Madrasat al-Amarīkān) im libanesischen Sidon. Er  vertiefte seine englischen und arabischen (als Nebenfach) Sprachkenntnisse, entdeckte  die europäische Literatur, Geistesgeschichte und die Exegese biblischer Texte. Zude, befasste er sich  mit der modernen philosophischen Literatur von Gibran Khalil Gibran, Mikhail Naimy und Elia Abu Madi- Er las die Beiträge in der Enzyklopädie von Butrus al-Bustani – eine an Denis Diderots Vorbild angelehnte Enzyklopädie –  und wurde von dem Werk des ägyptischen Philosophen Salama Moussa, insbesondere von dessen säkularem Ansatz beeinflusst.

 Von 1953 bis 1957   studierte er Philosophie erst an der American University of Beirut (AUB). und dann an der amerikanischen Yale University auf, die ihn mit einem Stipendium förderte. 1961 promovierte er mit der Arbeit The Moral Philosophy of Henri Bergson, (die bearbeitete Fassung auf Arabisch publizierte al-Azm 1966 in Beirut). 1963 nahm er eine Assistenzprofessur an der AUB an und unterrichtete u.a. moderne europäische Philosophie und Kulturphilosophie. Er publizierte 1966 veröffentlicht er auf Arabisch seine Studien zurmodernen westlichen Philosophie (Dirāsāt fī l-falsafa al-ġarbiyya al-ḥadīṯa) und auf Englisch Kant’s theory of time (1967). Seine kritische Aus­einandersetzung mit dem damaligen  Institutsleiter Charles Malik, seine scharfe Religions- und Gesellschaftskritik und nicht zuletzt seine Opposition gegen den amerikanischen Vietnamkrieg führten dazu, dass sein Arbeitsvertrag nicht verlängert wurde.

 Im Archiv der AUB, das ich im November 2017 besichtigen durfte, liegen interessante unveröffentlichte Dokumente vor, die philosophische und politische Aspekte dieser Auseinandersetzung beinhalten sowie die Proteste der Studierenden gegen die Entlassung von al-Azm bezeugen. Sie zeigen, dass der aufgrund seiner Beteiligung an der Konzeption der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) berühmte Charles Malik, bei dem al-Azm an der AUB studierte, von ihm wiederholt für seinen autoritären Unterrichts- und Führungsstil sowie seinen philosophischen Konservatismus kritisiert wurde. Dabei stellte al-Azm die Relevanz des christlich-islamischen Dialogs in Frage und kritisierte in der libanesischen Presse die Ergebnisse der von Malik 1967 organisierten Tagungen über Gott und den Menschen im zeitgenössischen christlichen und islamischen Denken.  Äußerst scharfzüngig und häufig mit ironischem Tonfall spießte er Dilemmata auf, mit der sich die Kirche in einer säkularen Welt konfrontiert sieht und übertrug seine Argumentation auf die Situation in den islamischen Ländern. Al-Azms Religions- und Gesellschaftskritik stand dabei in der Tradition von Marx, Nietzsche und Auguste Comte.

 In seinem Buch Kritik des religiösen Denkens (Naqd al-fikr ad-dīnī), das 1969 in Beirut publiziert wurde, führte al-Azm diese Kritik weiter. Von der libanesischen Dār al-Fatwā wurde sie als Verunglimpfung des Islams, Apostasie und Aufstachelung zu Zwietracht in der Nation interpretiert und juristisch verfolgt. Das Gericht sprach al-Azm und seinen Verleger im September 1970 jedoch frei. Die Reflexionen von al-Azm seien als eine philosophische Kritik mit wissenschaftlichem Anspruch, nicht jedoch als Aufhetzung zum Konfessionshader zu verstehen. Das Buch wurde unter den Titeln Critique of religious thought (2015) und La tragedia del diavolo. Fede, ragione e potere nel mondo arabo (2016) ins Englische und Italienische übersetzt.

 Das Erscheinen der Arbeit Selbstkritik nach der Niederlage (an-Naqd aḏ-ḏātī baʿda l-hazīma, 1968), von der Auszüge unmittelbar nach dem arabisch-israelischen Sechstagekrieg im Juni 1967 publiziert wurden und in der al-Azm mit dem arabischen Militär, Politikern und Intellektuellen gleichermaßen unverblümt ins Gericht ging, trug indirekt zu seiner Kündigung an der AUB bei. In diesem Buch versucht al-Azm durch seine Sprach- und Gesellschaftskritik seine Kritik des Autoritarismus zu entfalten und neue Wege zur Erneuerung des Marxismus zu weisen. Mit dieser Form der Selbstkritik schlug er in der arabischsprachigen Philosophie neue Wege ein, die in den 80er und 90er Jahren von Philosophen und Intellektuellen wie Zaki Naguib Mahmoud (1905-1993), Mohammed Abed al-Jabiri (1935-2010), Abdelkébir Khatibi (1938-2009), Mohamed Arkoun (1928-2010), Nasr Hamid Abu Zaid (1934-2010) und Georges Tarabichi (1939-2016) auf unterschiedliche Weise verfolgt wurden.

Ab 1968 setzte al-Azm seine Lehrtätigkeit am Institut für Philosophie der Universität von Jordanien in Amman fort. Er wurde allerdings1969 erneut entlassen. Bei einem Treffen im Oktober 2017 auf dem Campus der Uni­versität mit dem jordanischen Philosophen Ahmad Madi, einem damaligen Kollegen al-Azms, habe ich erfahren, wie al-Azms sokratische Unterrichtsmethode, scharfe Argumentation und öffentliche Kritik am vorherrschenden Autoritarismus von der Universitätsleitung bzw. dem Regime nicht geduldet wurden. Er musste Jordanien verlassen.

Als am 21. April 2017 an der American University of Beirut ein Studientag zur Würdigung von Sadiq Jalal al-Azm stattfand., entschuldigte sich der Präsident der Universität, Fadlo Khuri, dafür, dass sich die Universität nicht für den ehemaligen Dozenten Sadiq al-Azm und für seine Freiheit des Denkens während seiner Arbeit an der AUB eingesetzt habe.

Al-Azm war als Philosoph mit den Konflikten im Nahen Osten beschäftigt. Die palästinensische Widerstandsbewegung war einer der Gründe für al-Azm 1968 nach Amman zu gehen, wobei er sie wegen ihrer autoritären Struktur in seinen Kritischen Studien über das Denken der palästinensischen Widerstandsbewegung (1973) scharf kritisierte. Er gründete 1975 in unmittelbarer Nachwirkung des arabisch-israelischen Krieges von 1973 die Zeitschrift Khamsin. Revue des socialistes révolu­tionaires du proche-orient mit, an der sowohl jüdische als auch arabische Intellektuelle beteiligt waren. Zwischen 1969 und 1976 blieben al-Azm die akademischen Türen verschlossen. Aufgrund seiner scharfen öffentlichen Kritiken hatte er mit viel Abwehr und Gegenwind zu kämpfen. Bald nach Ausbruch des libanesischen Bürgerkrieges 1975 ging er nach Damaskus und übernahm 1977 am Institut für Philosophie und Soziologie an der dortigen Universität die Professur für moderne europäische Philosophie und von 1993 bis 1998 auch die Leitung des Instituts für Philosophie. Im Verlaufe dieser zwanzig Jahre kämpfte er mit seiner Feder an den von ihm bereits bearbeiteten Fronten weiter.

Mit seinen Kollegen initiierte al-Azm zu Beginn der 1990er Jahre an der Universität Damaskus eine jährliche stattfindende Kulturwoche, in der Themen wie Zivilgesellschaft, Säkularität, Universalität der Menschenrechte und Orienta­lismus/Okzidentalismus diskutiert wurden. Diese Kulturwochen, die zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen hatten, wurden von dem Regime unmöglich gemacht. Dies hindert al-Azm im September 2000 nicht daran, das Manifest der 99 mit zu unterzeichnen, mit dem Ziel das Assad-Regime zu demokratischen Reformen und Umsetzung der Menschenrechte zu bewegen.

Er wurde nun zu Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in den USA (Princeton und Harvard), Japan (Tohoku) und Europa (Antwerpen, Amsterdam, Berlin, Bonn) eingeladen und nahm an internationalen Debatten wie die Auseinandersetzung mit Saids Orientalism(1978), die Kontroverse um Salman Rushdie und dessen Roman Satanic Verses (1988) teil. In Orientalism and Orientalism in Reverse (1981) akzentuierte er den von Edward Said kritisierten Kultures­sentialismus, indem er auf die “Selbstorientalisierung” arabischer Zeitge­nossen verwies und zugleich vor einer epistemologischen Falle des Kultur­reduktionismus bzw. Kulturrelativismus warnte. Der Rushdie-Affäre widmete er sich mehrfach, zuletzt ausführlich in seinen Erwiderungen auf Kritiker seines Buches Die Tabu-Mentalität und die Wahrheit der Literatur (1997).

Seit dem Ende der 1990er Jahre reflektierte al-Aẓm zunehmend über die Uni­versalisierbarkeit der Menschenrechte. In seiner Tübinger Rede Islam und säkularer Humanismus(2004), die überwiegend auf seine Reflexionen in der Säkularität und die Zivilgesellschaft (1998) zurückgriff, zeigte er, wie sein Philosophieren von einem ständigen Hin und Her zwischen abstrakter Begrifflichkeit und partikularer Kontextualität lebt.

Zentral für al-Azms Philosophie ist der Kritikbegriff, der seine gesamten Werke durchzieht. Dabei unterscheidet er zwei entgegengesetzte Wertungen von Kritik (naqd): eine abwertende und eine bewertende. In ihrer konstruktiven Form fungiert die Kritik vor allem als Selbstkritik, die je nach Kontext als Sprach-, Kultur-, Gesellschafts- oder Religionskritik herausgearbeitet wird. Der Kritikbegriff speist sich bei al-Azm vor allem aus den Naturwissenschaften, aus einem für den arabischen Kontext reformierten Marxismus, sowie aus den kulturphilosophischen Ansätzen, die er in Anschluss an Bergson und Cassirer reflektiert. Die Kritik bleibt jedoch eine stetige Aufgabe, da jedes Weltbild nur bedingte Gültigkeit beanspruchen kann

Sadiq Jalel al-Azm agierte nicht nur als Philosoph, der nur an der Universität lehrt und diskutiert, sondern auch als public intellectual. Damit mischte er sich ständig in politische und gesellschaftliche Debatten ein wie z.B. in den Streit über Mohammed-Karikaturen. Im Vergleich zu anderen arabischen Philosophen, die in Europa kaum übersetzt und wahrgenommen werden, sind die Werke von al-Azm in europäischen Sprachen verhältnismäßig gut zugänglich.

Kurz vor seinem Tod durfte ich mit Sadiq Jalel al-Azm mehrere Interviews bei ihm zu Hause führen. Trotz schwerer Krankheit hatte er nicht an Mut und Ironie verloren. Statt sich während der Gespräche nur auf sein Gedächtnis zu verlassen, war es ihm ein Anliegen, die Informationen zu überprüfen und immer selbstkritisch zu bleiben

Am 11. Dezember 2016 verstarb  Sadiq Jalal al-Azm nach einer Krebserkrankung in seinem Berliner Exil. Wegen seiner öffentlichen Unterstützung der syrischen Revolution war ihm eine Rückkehr nach Syrien nicht mehr möglich.