Habermas trifft Ratzinger

Jürgen Habermas zeigt sich seit einiger Zeit offen für Fragen der Religion, und dies hat die Katholische Akademie in München wohl dazu angeregt, ein Gespräch zwischen Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger zum Thema „Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staaten“ zustande zu bringen – am 19. Januar vor geladenen Gästen (darunter neben ausgewählten Professoren wie Robert Spaemann  und Pressevertretern die Kardinäle Friedrich Wetter und Leo Scheffczyk), und ohne dass dies von der Akademie vorher öffentlich gemacht worden wäre. 

Habermas und Ratzinger sind in etwa gleichen Alters (1929 bzw. 1927 geboren); während aber der emeritierte Philosoph Habermas unermüdlich für die Aufklärung einsteht und eine nachmetaphysische Philosophie vertritt, hält Ratzinger, der als Kardinal der Glaubenskongregation der katholischen Kirche, der Nachfolgeinstitution der römischen Inquisition, vorsteht, weiterhin am Wahrheitsanspruch der metaphysischen Tradition fest. Die beiden, sagte der einladende Akademiedirektor Florian Schuller einleitend, seien „eines der aufregendsten Gesprächspaare, die man sich im Augenblick denken kann“.

Die Legitimationsgrundlagen der weltanschaulich neutralen Staatsgewalt stammten, so führte Habermas in seinem Vortrag aus, aus den profanen Quellen der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Verfassungsstaat beruht nach der auf Kant zurückgehenden prozeduralistischen Auffassung auf einer autonomen, für alle Bürger rational akzeptablen Begründung der Verfassungsgrundsätze. Der Legitimationsbedarf einer solchen Verfassung kann aus einem von religiösen und metaphysischen Überlieferungen unabhängigen Argumentationspotential bezogen werden. Damit allerdings die moralischen Gehalte von Grundrechten in Gesinnungen Fuß fassen, genügt eine kognitive Fundierung nicht: eine Solidarität unter den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft entsteht erst, wenn die Gerechtigkeitsprinzipien in das dichte Geflecht kultureller Wertorientierungen Eingang finden. Eine entgleisende Modernisierung droht gegenwärtig, diese Art von Solidarität, die der Staat nicht rechtlich erzwingen kann, auf die er aber angewiesen ist, auszuzehren. Die drohende Folge ist ein staatsbürgerlicher Privatismus, den die demokratische Meinungs- und Willensbildung nicht mehr erreicht. In dieser Situation gewinnt die Meinung, nur eine religiöse Ausrichtung auf einen transzendentalen Bezugspunkt könne aus der Sackgasse helfen, an Resonanz. Die Philosophie muss dieses Phänomen als Herausforderung ernst nehmen. Sie hat sich aber gleichzeitig auch auf eine Selbstreflexion auf ihre eigenen religiös-metaphysischen Ursprünge hin bewegt und in Gespräche mit der Theologie verwickeln lassen. Anknüpfungspunkt ist dabei eine immer wiederkehrende Denkfigur: Die auf ihren tiefsten Grund reflektierende Vernunft entdeckt ihren Ursprung aus einem anderen. Auch besteht eine Lernbereitschaft der Philosophie angesichts des Misslingens individueller Lebensentwürfe bei einem Blick auf das intakte Leben von Glaubensgemeinschaften. Zudem hat die gegenseitige Durchdringung von Christentum und griechischer Metaphysik die Aneignung genuin christlicher Gehalte durch die Philosophie gefördert. Es liegt deshalb im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speist. Die Philosophie besteht aber auf der Unterscheidung zwischen der säkularen, ihrem Anspruch nach allgemein zugänglichen Rede und der religiösen, von Offenbarungswahrheiten abhängigen Rede. Und die Religion muss den Anspruch auf ihr Interpretationsmonopol aufgeben. 

Joseph Ratzinger führte in seiner Stellungnahme aus, im Prozess der Durchdringung der Kulturen seien die ethischen Gewissheiten, die bislang weithin tragend waren, zerbrochen. Die Frage, was denn das Gute sei, stehe weithin ohne Antwort da. Die Wissenschaft als solche könne ein solches Ethos nicht hervorbringen, vielmehr seien die Veränderungen, die sich aus den wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben haben, für das Zerbrechen dieser moralischen Gewissheiten verantwortlich. Daraus ergebe sich eine Verantwortung der Philosophie, die Entwicklung der einzelnen Wissenschaften kritisch zu verfolgen und insbesondere das nichtwissenschaftliche Element aus den wissenschaftlichen Elementen auszuscheiden und so den Blick auf das Ganze offen zu halten. Ausdruck des gemeinsamen Interesses aller sei das Recht. Für erste sei Gefahr, dass dieses  zur Machtausübung einiger weniger wird, dadurch gelöst, dass durch die Instrumente demokratischer Willensbildung alle am Entstehen des Rechtes mitwirken. Aber da es unter Menschen schwerlich Einstimmigkeiten gibt, können dabei bestimmende Mehrheiten blind oder ungerecht sein. Das prozeduralistische Verfahren löse daher die Frage, ob es etwas geben kann, das immer in sich Unrecht bleibt, nicht. Ratzinger verweise auf die in sich stehenden Werte, die aus dem Wesen des Menschen folgen und daher für alle Inhaber dieses Wesens unantastbar sind. Den Terror eines Bin Laden sieht Ratzinger als Antwort der machtlosen Völker auf die gotteslästerliche Selbstherrlichkeit der Mächtigen: für Menschen in bestimmten sozialen Situationen sind solche Motivationen überzeugend – der Terrorismus speist sich also auch aus religiösen Traditionen. Da stelle sich die Frage, ob die Religion nicht eher eine gefährliche als eine heilende Macht sei, die zu Intoleranz verleite und deshalb unter die Kuratel der Vernunft gestellt werden müsse. Eine andere Bedrohung des Menschen sieht er darin, dass dieser nicht mehr ein Geschenk des Schöpfergottes ist, sondern sein eigenes Produkt geworden ist. Das lasse Zweifel an der Verlässlichkeit der Vernunft aufsteigen. Früher habe man eine Lösung dieses Dilemmas in der Idee eines Naturrechts als eines Vernunftrechts gesehen, das über Glaubensgrenzen hinweg die Vernunft als das Organon gemeinsamer Rechtsbildung in Kraft setzt, doch dieses Instrument sei stumpf geworden, seit mit dem Sieg der Evolution der Begriff von Natur, bei dem Natur und Vernunft ineinander greifen, verloren gegangen sei. Davon geblieben seien die Menschenrechte. Diese müssten jedoch um eine Lehre von den Menschenpflichten und von den Grenzen des Menschen ergänzt werden. Die abendländische Rationalität wiederum müsse einsehen, dass sie in ihrem Versuch, sich evident zu machen, auf Grenzen stößt. Die rationale oder religiöse Weltformel, auf die sich die Menschheit einigen könnte, gibt es nicht. Ratzinger sind das göttliche Licht der Vernunft als ein Kontrollorgan für die Religion und umgekehrt die Religion als ein solches für die Vernunft – und das im interkulturellen Kontext. Nur so könnten Werte und Normen zu neuer Leuchtkraft kommen.