Herr Nancy, im Zentrum Ihrer Arbeiten der letzten Jahre steht die
Auseinandersetzung mit Fragen der politischen Philosophie wie auch solchen der
Ästhetik. Wie sehen Sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Aufgaben der
Philosophie in diesen Bereichen?
Es gibt heute einen offenkundigen und auch äußerst heiklen Berührungspunkt zwischen Politik und Kunst. Man kann ihn den Punkt des Symbolischen nennen: dem Politischen mangelt es an Symbolizität. Man könnte auch sagen, ihm mangle es an „Politizität„, wenn wir – wie bisher – davon ausgehen, dass die Politik die Einheit der Gemeinschaft herzustellen und zu repräsentieren hat. Mit „Symbolizität„ meine ich denn auch das Element des „symbolon“, der Vereinigung, der Versammlung oder der „Kommunion“.
Zweifellos waren Kunst und Politik bislang immer durch ein Moment des Symbolischen verbunden. Was der Pharao repräsentierte, war das, was seine Statue repräsentierte; was das Volk der athenischen Bürger darstellte, wurde auf der Akropolis, im Theater und in den Festen wiedergegeben; und Gleiches galt für die nationalen Souveränitäten (und vor ihnen für die Fürstentümer sowie die Handelsrepubliken) in der Kunst der Renaissance. Die verschiedenen Arten der Politik hatten ihre jeweilige Symbolik. Möglicherweise haben wir heute dies alles hinter uns gelassen.
Was bedeutet es, wenn Kunst und Politik nicht mehr durch das
Symbolische bzw. mit ihm verbunden sind?
Wie ich zuvor sagte, ist die Verbindung, das „Band“ in der Politik zum Problem geworden. Aber auch die Kunst hat keinen allgemeinen Referenzpunkt mehr: weder gibt es einen gemeinsamen mythologischen Grund, aus dem sie schöpfen könnte, noch das, was man einen gemeinsamen Schematismus der Darstellungsform nennen könnte. So kann man sich beispielsweise nicht mehr des „Prometheus“ oder der „Maria Magdalena“ als Thema oder als Vorgabe bedienen.
Der kürzeste und überstürzteste Weg, das Problem zu lösen, bestünde in dem Versuch, sich erneut eines Schematismus des „Gemeinsamen“ zu bemächtigen: etwa in Gestalt eines Volkes mit seiner Legende, also einer romantischen „neuen Mythologie“. Aber wir wissen, was diese voluntaristischen Muster hervorbringen.
Deshalb ist es nötig, sich erneut klarzumachen, was Politik und Kunst künftig bedeuten könnten, wenn sie denn noch Bedeutung haben können, ohne sich sehr grundsätzlich zu wandeln. Es ist aber auch zu fragen, welcher Art der Schnittpunkt oder die Verbindung zwischen Kunst und Politik ist. Gelernt haben wir, dass keine der Formeln „Ästhetisierung der Politik“ bzw. „Politisierung der Kunst„ angebracht ist. Denn die eine wie die andere hängt an der Vorstellung einer schrittweisen Aufhebung in einer einzigen und höchsten Symbolizität. Vielmehr geht es darum, eine konstitutive Spannung zwischen Politik und Kunst zu denken, und das heißt auch, ihren Abstand selbst so zu denken, dass er auf beiden Seiten seine eigenen jeweiligen Resultate erzeugt. Hier stellen sich etwa Fragen wie: Wie soll Europa vorgestellt und repräsentiert werden? Muss es repräsentiert werden? Mich interessiert in diesem Zusammenhang auch die Frage nach dem Motiv der Verschiedenheit der Künste. Denn es gibt nicht „die Kunst“, es gibt aus wesentlichen Gründen keine Einheit der Kunst, sondern eine Vielfalt, die der sog. „künstlerischen“ Symbolizität eigen ist und damit vielleicht der Symbolizität im Allgemeinen.
Sie begründeten 1984 die Auflösung des legendären „Centre
de recherches philosophiques sur le politique“ mit dem „Rückzug des
Poltische“„ und der Unmöglichkeit, das Denken des Politischen angesichts
seines Verschwindens hinter dem Recht, dem Sozialen, der Religion usw. fortzuführen.
Wie schätzen Sie heute die Möglichkeiten einer relevanten politischen
Philosophie bzw. Philosophie des Politischen ein?
Zusammen mit Philippe Lacoue-Labarthe hielt ich es damals für notwendig, die Arbeit in diesem Centre zu unterbrechen, da wir den Eindruck hatten, dass dort nicht mehr über die Frage des „Rückzugs des Politischen“ gearbeitet wurde. Bereits damals und auch seither ist dieser Ausdruck - trotz unserer Erklärungen - falsch verstanden worden. Wir meinten damit, dass „das Politische“, als Wesen der gemeinschaftlichen Existenz gedacht, sich von sich (oder in sich selbst) zurückzieht und dass die Einheit, die es impliziert, nicht mehr dar- und vorgestellt, ja vielleicht auch nicht mehr verwirklicht werden kann. Keinesfalls wollten wir aber sagen, dass man sich von seiner philosophischen Untersuchung zurückziehen müsse - ganz im Gegenteil! Die Untersuchungen sollten sich vielmehr dem „Rückzug“ selbst zuwenden, also der historischen Auflösung der „staatlich-national-souveränen“ Konfiguration sowie des dazu symmetrischen „Alles ist politisch“. Und was stellten wir fest? Einen bequemen Konsens über die Zivilgesellschaft (in dem neuen Sinne, den dieses Wort damals gerade angenommen hatte), und dieser Konsens ist seither nicht verschwunden. Sicher hat dieser Konsens seinen Nutzen und seine Bedeutung - etwa in den Auseinandersetzungen, die ungeachtet ihrer Mehrdeutigkeiten und Komplexitäten mit dem Namen „Globalisierungsgegnerschaft“ belegt werden - , aber er verschleiert das grundsätzliche Problem: Was können wir künftig unter „Politik“ verstehen?
Wie Sie sehen, bin ich in dieser Hinsicht den Arbeiten und Fragestellungen von vor 18 Jahren treu geblieben. Man könnte sogar sagen, dass unsere Fragen etwas zu früh kamen, dass wir damals dafür selbst noch nicht reif waren. Die Arbeit im Centre brachen wir aus einem revolutionären Anspruch heraus ab. So fanden wir damals, dass der Geist von Solidarnosc (der damals Modell für vieles war) die Zerstörung des Staates vergessen hatte und dass es nicht ausreicht, „Zivilgesellschaft“ und „Staat“ bloß koexistieren zu lassen. Wir kamen aber nicht auf den Gedanken, dass diese Zerstörung auch die politische Durchdringung aller Lebensbereiche bedeuten könnte.
Sie versuchen einen radikalen Neuanfang der „Analytik des Daseins“, der sich jenseits der subjektphilosophischen Kategorien bewegt. Inwiefern ist die Auseinandersetzung mit Heidegger für Sie weiterhin zentral?
Mein Buch Être singulier pluriel (1996), meine Rede vom „singulär pluralen Sein“, nimmt ihren Ausgangspunkt vom heideggerschen Denken des Seins. Wenn das Sein nicht ist - im Sinne der „Subsistenz“, der „Anwesenheit“, der „Gegebenheit“ -, sondern west, d. h. wenn es einen Raum erst sich eröffnen lässt und nichts anderes als dieses „lassen“ des „sich eröffnen“ ist, dann ist das Sein die Verteilung der Existenz in plurale Singularitäten. Es ist das jedesmal singuläre Ereignis eines Seienden. Die „Mit-Teilung“ gibt ihm seine Struktur: Das Sein teilt (sich), verteilt (sich) und kommuniziert (sich) jedem singulären Seienden und als jedes und entsprechend jedem singulären Seienden.
Diese Deduktion taucht bei Heidegger nicht auf. Warum? Weil er sich nicht ausreichend mit der sonderbaren Beschaffenheit des „mit“ befasst hat, obwohl er es im „Mit-Da-Sein“ einzuführen wusste. Das „mit“ (das apud quod oder nahe bei oder eben das „mit“, das „inmitten“ bedeutet) ist eine außergewöhnliche Kategorie: Weder drinnen noch draußen, weder intrinsisch noch extrinsisch, weder immanent noch transzendent. Die Seienden sind „mit“, sie sind zunächst weder „für“ noch „durch“ einander. Sie sind in der Nähe zum und im Abstand vom Sein, d. h. von nichts anderem als ihrer Mit-Teilung. Wir teilen (uns) uns unsere „Mit-Teilung“ mit. Heidegger stand kurz davor, dies zu sagen. Aber er hat es nicht gesagt, weil er dem Denken eines SEINS verhaftet blieb, das nicht singulär, sonder ein(z)ig ist, sowie demjenigen eines (ausschließlich menschlichen) Seienden, für das der Sinn (wie der Sinn „seines Seins“) auch eher ein ein(z)iger bleibt. Sie sehen natürlich sofort die Verbindungen, die man zwischen diesem Aspekt Heideggers und seiner politischen Biographie aufzeigen kann: Er dachte stets in Begriffen des „Volkes“ im Sinne einer unterstellten Einheit.
In welchem Zusammenhang stehen Ihre Überlegungen hinsichtlich
der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen Kommunitaristen und Liberalen?
Die einzige Sache, die ich vielleicht mit dem kommunitaristischen Diskurs teile, ist eine gewisse asymptotische Übereinstimmung im Thema. Insofern nämlich, als es darum geht, die Frage des „Seins-in-der-Gemeinschaft“ neu anzugehen. Aber meiner Ansicht nach ist das erste Erfordernis dazu, das überkommene Verständnis des „Gemeinsamen“ und der „Gemeinschaft“ unter Vorbehalt zu stellen. Auf dieser Grundlage können wir beginnen zu verstehen, dass das „Sein-in-der-Gemeinschaft“ kein gemeinsames Sein ist und dass es anders zu analysieren ist, zum Beispiel als „Zusammen-Sein“ oder „Mit-Sein„. Ich kann nicht erkennen, wie man sich eine im eigentlichen Sinne ontologische und nicht bloß „politische“ Reflexion ersparen könnte.
Es ist übrigens bezeichnend, dass mein erstes Buch über das „Gemeinschaftliche“, Die undarstellbare Gemeinschaft, anlässlich der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung in der Tageszeitung als nazistisch angegriffen wurde und dann zwölf Jahre später in einer Ost-Berliner Zeitschrift als neue und fruchtbare Vorstellung des Kommunismus vorgestellt wurde. Dies zeigt, dass das Thema der Gemeinschaft mit Vorurteilen überfrachtet ist.
Ich leugne nicht, dass die anglo-amerikanischen Arbeiten aufschlussreiche Vorschläge enthalten können, auch wenn ich sie nur sehr schlecht kenne. Mit Interesse habe ich etwa ein Werk von Charles Taylor durchgearbeitet, ohne dort jedoch den ontologischen Anspruch zu finden, von dem ich gesprochen habe.
Die Verschiedenheit der Idiome, sei es der sprachlichen, intellektuellen, emotionalen oder repräsentativen, ist ebenso eine Bedingung des Denkens wie die Verschiedenheit der Einzelsprachen eine Bedingung der Sprachlichkeit überhaupt ist und die Unübersetzbarkeit eine Bedingung der Übersetzung. Gerade die „Nicht-Kommunikation“ im Herzen der Kommunikation ist ein wichtiger Aspekt der Frage der „Gemeinschaftlichkeit“: Sein-in-der-Gemeinschaft, das heißt auch zu kommunizieren. Aber was heißt es zu kommunizieren? Heißt es, Informationen zu übertragen? Gefühle (mit-) zu teilen? Sich mit einander zu identifizieren?
In der deutschen Philosophie wird der französische Diskurs oft verkürzend
als „postmodernes“ oder „poststrukturalistisches“
Diese Wahrnehmung ist zugleich verständlich und überraschend. Im Frankreich der Nachkriegszeit hat sich eine große Bewegung herausgebildet, die auf neue Weise die philosophischen Fragen und das philosophische Feld bestimmt und die Mehrzahl der französischen Philosophen auf die eine oder andere Weise beeinflusst hat. Von daher gibt es eine gewisse, dem Denken in Frankreich gemeinsame Konfiguration - keineswegs aber ein „französisches Denken„, denn von einem streng philosophischen Gesichtspunkt aus betrachtet ist diese Neubestimmung wesentlich deutschen Ursprungs: Hegel, Husserl und Heidegger waren seit den dreißiger Jahren die Namen der Bezugsfiguren, von denen diese Arbeiten zehrten. Sartre befand sich zunächst an einer Art Kreuzungspunkt all dieser Tendenzen. Aber gerade Sartre blieb in vielerlei Hinsicht in dem Maße sehr „französisch“, als er auch an die starke Tradition des Subjektdenkens (man könnte auch sagen: an ein Denken in der ersten Person) anschloss. Zu Beginn der sechziger Jahre fand eine bemerkenswerte Distanzierung von Sartre statt - was nicht heißt, dass er nicht einen Teil unserer Wahrnehmung geprägt hat. Dieser Bruch markiert den Beginn einer grundlegenden Abwendung von der Geschichtsmetaphysik und der Metaphysik des Sinns als eines Sinns der Geschichte. Von daher fand auch die spätere Erneuerung des Geschichtsdenkens eher unter dem Zeichen des Ereignisses als unter demjenigen des Verlaufs statt. Um dieses Motiv herum lassen sich wichtige Arbeiten wie diejenigen von Derrida, Foucault oder Deleuze gruppieren. Und von daher kommt auch eine gewisse Nähe zwischen den Autoren dieser und meiner Generation. Trotzdem wehre ich mich dagegen, dies unter dem Namen des „Poststrukturalismus“ oder der „Postmoderne“ (Namen, die für mich keinen Sinn haben und die ich mir auch nicht zu eigen mache) zusammenzufassen.
Auf der anderen Seite ist dies viel zu schematisch, da auch die Differenzen sehr groß sind. So entstand eine Auseinandersetzung mit dem philosophischen Schreiben, die nicht nur von der Romantik und Heidegger, sondern auch von Bergson und vom Platonismus geprägt ist. Sie machte uns aufmerksam auf die Besonderheiten der philosophischen Stile und auf die Gebiete, in denen sich Philosophie und Literatur vermischen, ohne dass dort aber auf rationale Strenge verzichtet würde (im Gegenteil!). Zwischen den Stilen zählt nicht das Verhältnis des Verweises, der référence, sondern dasjenige der Affinität, des Kontakts.
Und wie ist Ihr Verhältnis zu anderen französischen politischen
Philosophen der Gegenwart?
Ich situiere mich nicht „im Verhältnis zu anderen politischen Philosophen“, da ich kein „politischer Philosoph“ bin. Allerdings fühle ich mich dem Aspekt des Denkens von Lefort nahe, der die Demokratie als Abwesenheit einer imaginären Identifikation versteht, demjenigen Lyotards der Reflexion über die Inkommensurabilität der Diskurse sowie demjenigen Rancières der Auszeichnung des „Volkes“ als eines ausgeschlossenen Teiles, dessen Eindringen allererst die Politik ausmacht, und schließlich demjenigen von Lévinas eines Denkens der absoluten Alterität. Aber zugleich versuche ich nicht, ein „politisches Denken“ im eigentlichen Sinne zu erarbeiten. Das Nachdenken über die Kunst ist heute für mich genauso wichtig oder wichtiger - das Nachdenken über das Kino beispielsweise, dessen „politische“ Gegenwart und Rolle im Sinne des „Seins-in-der-Gemeinschaft“ nicht zu übersehen sind.
Die französische politische Philosophie wird dahingehend
kritisiert, dass in ihr die Auseinandersetzung mit institutionellen Fragen der
Macht und Gerechtigkeit zu kurz komme. In Ihren neuen Texten scheint sich eine
Rehabilitierung dieser Themen anzubahnen.
In den kleinen Texten, die Sie anführen, tauchen alte Themen wieder auf. Es geht in ihnen darum, zu den oben angesprochenen Reflexionen beizutragen. Das Hauptthema ist die Frage, wie die Politik als eine Nicht-Totalität zu denken ist, und das heißt anders denn als Unterordnung der gesamten Existenz. Dabei kommt heraus: Zwischen der Ontologie des Mit-Seins und der Politik darf es keinen begründenden Zusammenhang geben und auch keinen solchen des Ausdrucks. Die Politik darf also nicht die Totalität des Mit-Seins zum Ausdruck bringen. Wenn im Gegensatz dazu das Sein des Mit-Seins wesentlich ein plurales ist (singuläre Existenzen und singuläre Ordnungen, Künste, Körper, Gedanken...), dann muss die Politik das sein, was die Gerechtigkeit in der Vielheit und Vielfältigkeit garantiert, aber sie darf keine Aufhebung des Mit-Seins sein.
Entsprechend bleibt noch zu bestimmen, was „politische Philosophie“
bedeuten kann. Wenn dies implizit die Konstruktion einer Politik auf der
Grundlage einer Ontologie meint (etwa nach platonischem Muster), dann muss
Klarheit über die entsprechende Ontologie geschaffen werden. Aber vielleicht
geht es eher darum, auf jede begründende Ontologie zu verzichten. Anders
formuliert: Man kann von „politischer Philosophie“ nicht reden wie von einer
Spezialität (etwa nach dem Muster Metaphysica generalis bzw. specialis), steht
doch die Philosophie als ganze auf dem Spiel. Es muss für uns heute darum
gehen, nie zu philosophieren, ohne ganz ausdrücklich eine „Philosophie der
Philosophie“ in Anschlag zu bringen. Heidegger sah dies als erster ganz klar.
Ebenso Wittgenstein, wenn auch in einer anderen Weise. Husserl jedoch hat dies
nicht oder nicht ausreichend gewusst.
Institutionen müssen dann als eine Ordnung verstanden werden, deren Positivität in einer Spannung zu und nicht in einer gestifteten Abhängigkeit von einer Ontologie steht. In der Positivität sind die Bodenlosigkeit, das Zu-Erfindende, das Ereignis und das Unvorhersehbare irreduzibel. Zum Beispiel: Wie soll man sich einen europäischen Staat vorstellen, der weder national noch föderal (nach dem amerikanischen Muster) noch imperial ist.
Auffallend ist Ihre große Nähe zu Derrida. Kann man von einem
gemeinsamen Projekt sprechen?
Es gibt kein gemeinsames Projekt zwischen Derrida und mir. Es gibt etwas, das tiefer reicht und weniger bestimmt ist. Um 1964 herum war Derrida für mich die Offenbarung eines Denkens, das auf der Höhe der Zeit ist und das die Gegenwart zu einer Zukunft hin öffnet. Ich schulde ihm ebensoviel wie Heidegger und Hegel; eine einzigartige und anhaltende Schuld gegenüber dem Gedanken des „das Absolute will bei uns sein“, dann des „das Dasein ist das Ins-Spiel-bringen des Sinns des Seins“ und dann des „die Identität des (oder als) Sein(s) schiebt (sich) auf“ - wenn ich die drei Gedanken so zusammenfassen kann. Diese können wiederum zu einer Frage verdichtet werden: Wie existiert die Existenz und wie erzeugt das Existieren die Welt?
Es gibt also zwischen Derrida und mir eine Nähe, die gewissermaßen gewalttätig ist. Sie hat die unter- und zerbrechende Kraft eines Kontakts (und er ist es gewesen, der das Motiv der Berührung in meiner Arbeit herausgestellt hat). Der Kontakt steckt das Intakte an bzw. haftet an ihm und lässt es doch plötzlich wieder auftauchen: den irreduziblen Teil eines jeden, sein Idiom (wie er sagt). Eine andere Schuld, die ich gegenüber Derrida habe, besteht darin, dass er es verstanden hat, mich, den zehn Jahre Jüngeren, zu ermutigen, indem er mich meinen eigenen Weg gehen ließ, ohne mir irgendeine Richtung vorzugeben. Er hat mich immer wieder auf meine eigene ausschließliche Verantwortung zurückverwiesen. Eines längst vergangenen Tages, als ich ihm sagte, dass ich mich leer fühlte, ohne Projekt, hat er mir ziemlich trocken geantwortet: „Das sind bloß Ausreden, in die man sich flüchtet, um nicht voranschreiten zu müssen; aber es liegt bei jedem selbst, sich zu finden.“
Auch was die Politik betrifft, spreche ich in dem Sinn, in dem Derrida von „politisch“ redet - einem Sinn, der sehr weit ist und von der Ontologie (obwohl dieses Wort natürlich kaum in seinem Vokabular auftaucht) bis zur Politik im engeren Sinne reicht - sicherlich „politischer“. So geht er, obwohl er etliche wesentliche Motive vorbringt, Fragen der Art wie „Was ist das ‘Politische’ heute?“ oder „Kann man noch eine Politik (be-) gründen?“ für meine Begriffe nicht frontal an. Umgekehrt wirft er mir christliche und kommunitaristische Züge vor, die einem „begründenden“ Denken des Politischen entsprächen. Er hat dabei zwar nicht ganz unrecht, aber ich versuche das Mit-Sein gerade nicht auf diese Weise aufzufassen, auch nicht die „Brüderlichkeit“, die ihn so beunruhigt.
Sind die Arbeiten der Frankfurter Schule der ersten, aber auch der
zweiten Generation für Ihr Denken relevant?
Adorno (und mit ihm Benjamin, aber er gehört ja nicht zu dieser Schule) ist der einzige „Frankfurter“ Autor, den ich ein wenig kenne. Was die anderen angeht, so ist meine Kenntnis sehr beschränkt. Ich habe mich nie mit dem beschäftigt, was im Kielwasser eines oder mehrerer Marxismen war, und schon der Ausdruck „kritische Theorie“ oder selbst der Begriff „Kritik“ allein waren mir immer unangenehm. Wenn man kritisiert, muss man von einem Kriterium ausgehen, das den Maßstab der Kritik abgibt. Das weitreichendste und am längsten beharrende Merkmal der post-marxistischen Theorie war es, an einem impliziten und wenig befragten Kriterium festgehalten zu haben. Dieses war in dem Sinn humanistisch, in dem Heidegger hat sagen können, der Humanismus denke „die humanitas des Menschen nicht hoch genug“, oder in dem Sinne, in dem Bataille mit seinem Interesse für den „verfemten Teil“ des oder im Menschen kein Humanist war. Nicht zu wissen, wer oder was der Mensch ist - oder vielmehr: zu wissen, dass der „Mensch“ ein unendliches Überschreiten des Wissens und mit ihm der Welt ist, die dann weder einfach „menschlicher“ sein noch werden kann - , darin besteht für mich eine erste Tatsache.
Natürlich waren weder Adorno noch Benjamin Humanisten. Was mir dagegen in der Negativen Dialektik auffällt, ist eine Parallele, ja Verwandtschaft mit Heidegger. Die Demontage von Heidegger vollzieht sich dort in einer unfreiwilligen, in völlig anderen Begriffen verfahrenden Verdopplung der heideggerschen Geste im Angesicht der „Metaphysik“. Aber da ist auch ein anderer Stil, eine andere Haltung, in vielen Hinsichten kräftiger und treffender als bei Heidegger. Jedoch ist es, wie bei Heidegger, ein Stil, der sich in seiner eigenen Äußerung gefällt. Man kann sich immerzu fragen, ob das Ziel darin besteht, mehr, weiter und komplizierter zu denken oder ob das Ziel in der Formulierung oder dem Satz gegeben ist.
Deutschland und Frankreich haben in intellektueller Hinsicht eine gegensätzliche, in mancher Hinsicht paradoxe intellektuelle Nachkriegsgeschichte. Aber heute ist das anders. Die Aufgabe heute ist von einer solchen Spannweite, dass sie jeder Rücksicht auf Personen oder Länder spottet. Wir befinden uns in einer gemeinsamen Situation, die uns von einem Zeitalter in ein anderes führt. Es gilt vor allem, nicht wieder Schulen, Bewegungen oder Linien des Denkens zu entwerfen. Deshalb sehe ich nicht, was Ausdrücke wie „Allemands modernes“ und „Français postmodernes“ bedeuten sollen. Ich für meinen Teil fühle mich entschieden modern. Damit meine ich nicht die Orientierung an einer projektierten oder projizierten Zukunft, sondern das Offen-Halten der Gegenwart.
AutorenMit Jean-Luc Nancy sprachen Andreas Wagner, Andreas Niederberger und Dietmar Köveker. Von der Redaktion überarbeiteter Text.