Der 1940 geborene, in Straßburg lehrende Philosoph Jean-Luc Nancy zählt
heute zu den international bekanntesten französischen Denkern. Sein bis in die
frühen siebziger Jahre zurückreichendes œuvre, das sich neben der
Untersuchung von klassischen Problemen von Anfang an auch immer ästhetischen
Fragestellungen widmet, umfasst mittlerweile rund dreißig Monographien und
Aufsatzsammlungen.
1980 gründete Nancy gemeinsam mit Philippe Lacoue-Labarthe das Centre de recherche philosophique sur le politique. In diesem Forschungszentrum wollten sie die Gründe für den Rückzug des Politischen hinter das Recht, das Soziale und die Kunst untersuchen sowie die auf nicht unmittelbar ersichtliche Weise damit zusammenhängende Tatsache, dass es plötzlich möglich und nötig schien, „alles politisch„ zu verstehen. Unabhängig von inhaltlichen Vorgaben wollten sie „das Politische“ als Voraussetzung „des Philosophischen“ und als prägendes Merkmal der christlich-abendländischen und aufklärerischen Tradition des Denkens verstehen. Vier Jahre später schon beendeten Nancy und Lacoue-Labarthe dieses Experiment. Sie hatten den Eindruck, dass im Rahmen eines solchen Forschungszentrums „die Frage des ‘Rückzugs des Politischen’“ nicht angemessen thematisiert werden kann.
Nancy konzentrierte sich nun in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre auf das Thema der spezifischen Gemeinschaftlichkeit menschlicher Existenz. Im Anschluss an Heidegger und Bataille erörterte er es als ontologisches, im Anschluss an Marx als politisches Problem. Er kommt zu dem Schluss, dass die Gemeinschaftlichkeit des Menschen nur dann richtig erkannt wird, wenn ihre Abwesenheit als konstitutives Moment ihrer Bil- dung verstanden wird. Das Paradox besteht darin, dass die Gemeinschaftlichkeit nur insofern eine gegebene ist, als sie nicht gegeben ist. Das meint, dass es weder ein gemeinsames Wesen aller Menschen noch ein solches einzelner Gruppen von Menschen gibt. Diese sind vielmehr durch einen konstitutiven Mangel gekennzeichnet, der sie zu einer Gemeinschaft zwingt, ohne dass diese die fehlende gemeinschaftliche Substanz ersetzen oder gar schon bereithalten könnte. Die Reflexion des Politischen muss als Reflexion dieser prekären Situation einer Gemeinschaft ohne Gemeinschaft verstanden werden. Das Projekt des Kommunismus wiederum ist zu verstehen als der Versuch, das dem Menschen aufgegebene bloße Sein in der Gemeinschaft zu entfalten.
Wie entscheidend Nancy von Heidegger beeinflusst wurde, belegt Être singulier pluriel, Nancys einflussreichstes Werk aus den neunziger Jahren. Nancy geht dabei vom „Mitsein“ als der zentralen ontologischen Kategorie aus und versucht sich an einer elementaren Revision der heideggerschen Fundamentalontologie. Die „Analytik des Daseins“ ersetzt er dabei durch die Beschreibung eines Seins, in dem die Pole einerseits als singuläre gegeben sind, sie jedoch andererseits nicht anders können als in Pluralität aufzutreten. Ihre Singularität ist allererst zu verstehen vor der Pluralität der Anderen.
Seit dem Ende der neunziger Jahre wendet sich Nancy wieder unmittelbarer der politischen Situation zu, etwa hinsichtlich der Fragen nach dem (erneuten) Aufkommen religiöser Bewegungen als politischer Akteure oder derjenigen nach der grundsätzlichen Bedeutung der Souveränität und ihrer Rolle in der Gegenwart. Sein jüngst in Frankreich erschienenes Buch La création du monde ou la mondialisation (Paris: Galilée 2002) befasst sich mit der philosophischen Dimension der Globalisierung.
Auswahl einiger ins Deutsche übersetzter Texte von Jean-Luc Nancy:
Das Gewicht eines Denkens. 176 S., kt., € 15.80, 1995, Parerga, Berlin.
„Der Nazi-Mythos„ (mit Ph. Lacoue-Labarthe), in: Georg Christoph Tholen/Elisabeth Weber (Hg.), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, 1997, Turia + Kant, Wien.
„Der Sinn des Politischen“, in: Wolfgang Pircher (Hg.), Gegen den Ausnahmezustand. Zur Kritik an Carl Schmitt, 1999, Springer, Wien, New York.
Die Musen. 152 S., € 16.--, 1999, Jutta Leguei, Stuttgart.
Der Eindringling. 64 S., € 7.16, Internationaler Merve-Diskurs 226, 2000, Merve, Berlin.
„Raum gegen Zeit„, in: Dietmar Köveker/Andreas Niederberger (Hg.), ChronoLogie. Texte zur französischen Zeitphilosophie des 20. Jahrhunderts, 2000, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.