Die Ambivalenz des Fremden

Jean-François Lyotard im Gespräch mit Thomas Bedorf und Peter Keicher

 

Herr Lyotard, Sie haben in mehreren Ihrer Veröffentlichungen betont, kein Philosoph im traditionellen Sinne dieses Wortes zu sein. Aufgabe der Philosophie sei es nicht, Theorien und Systeme zu errichten, sondern Zeugnis für dasjenige abzulegen, was in der Schrift selbst noch nicht eingeschrieben sei. Wenn es nun auch darum geht, in der Sprache Zeugnis vom Unsagbaren zu geben, rückt dann nicht Philosophie der Literatur sehr nahe? Wodurch unterscheidet sich Philosophie von Literatur?

Eine bedenkliche Frage. Philosophie im traditionellen Sinne ist - wie Heidegger es sagte - wesentlich die Konstruktion jeweiliger Vorstellungen der Welt gewesen, weitgehend begriffsorientiert und folglich systembildend. Freilich war das nicht immer so. Doch selbst in der angelsächsischen Tradition des Empirismus findet man diesen Aspekt. Anders bei Husserl: Die Vernachlässigung dieses architektonischen Aspekts bildet die Grundlage seines Projektes, zu den Dingen selbst zu gehen und nach möglichst exakten Bewußtseinstatsachen zu suchen. Dabei wurde nach nichts anderem gesucht als nach strengen transzendentalen Beschreibungen. Bei Kant geht es im Unterschied hierzu nicht um transzendentale Beschreibungen, sondern um transzendentale Ableitungen; das heißt es geht darum, ausgehend von der Erfahrung die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zu untersuchen. Das architektonische Gebäude, das wir noch bei Kant finden, gibt es bei Husserl nicht mehr.

Es ist also nichts Neues, daß Philosophie nicht theoretisch im strengen Sinn des Wortes ist, das heißt im Sinne der Errichtung eines Begriffsgebäudes. Das gehört zu einer Entwicklung, innerhalb derer es freilich mehrere Episoden gab: Die transzendentale Phänomenologie, dann einen gewissen Existentialismus vor allem bei Heidegger, ebenfalls bei Heidegger dann eine weitere Etappe, die überhaupt nicht mehr existentiell im Sinne von Sein und Zeit ist. Mutatis mutandis verlief diese Entwicklung bei den Franzosen in derselben Richtung. Dabei denke ich natürlich an Sartre, der aber nie ein besonders guter Philosoph war. MerleauPonty hingegen war ein guter Philosoph und ging in eben diese Richtung.

Nun fragen Sie: "Wenn man von einer be-grifflichen Schreibweise ausgeht, deren wesentliches Anliegen im Argumentieren besteht" - nennen Sie es Rationalität, wenn Sie wollen - "und es doch gleichzeitig wahr ist, daß die Philosophie nicht mehr jene Kunst des Argumentierens im Sinne der Aristotelischen Analytik ist - auch nicht im Sinne der Topik oder der Rhetorik, die ja dem Argument sehr nahe steht -, nun, welche Schreibweise bleibt dann übrig, bei der es um das Wichtigste der Erfahrung geht, das sich eben nicht schon als solches in der Erfahrung selbst zeigt, wenn nicht die Literatur?" Ich antworte Ihnen: In der Tat ist dies eine Frage, die ich mir selbst stelle. Ich denke, daß es in der Literatur wahrscheinlich sehr viel mehr zu jenem Aufscheinen von Ereignissen gibt, das von der Empfindung im Sinne einer Befindlichkeit erfaßt wird. In der Literatur, in allen Literaturen findet man dazu bestimmt sehr viel mehr als in den traditionellen abendländischen Philosophien, die in dieser Hinsicht im allgemeinen recht unbedarft, beschränkt oder ganz einfach ignorant sind.

In gewissem Sinne arbeiten wir also mehr und mehr über Literatur. Aus Schüchternheit habe ich das für Jahre, ja für Jahrzehnte beiseite gelassen, denn ich sagte mir, das sei viel zu schwierig. Sie werden sicher verstehen, daß ich mir sage: "Da gibt es doch etwas, das vollkommen anders ist!" Wenn Sie zum Beispiel Kafka nehmen, Beckett oder die großen Werke von Thomas Mann, Doktor Faustus oder ähnliches, dann besteht der Unterschied zum Philosophen, zur philosophischen Schreibweise darin, daß die Philosophie an eine Schreibweise gebunden ist, die man reflexiv nennen muß. Im Grunde genommen gibt es also einerseits eine Schreibweise, die dem argumentativen Diskurs dient, und es gibt andererseits die literarische Schreibweise, die sehr oft, aber nicht notwendigerweise fiktiv ist. Sie kann zum Beispiel essayistisch oder kritisch im besten Sinne des Wortes sein, denn es gibt eine kritische Schreibweise, die in der Tat literarisch ist. Seit Barthes und Blanchot ist es zumindest für die Franzosen klar, daß der Unterschied zwischen Kritik und literarischem Text weitgehend aufgelöst ist.

Im Falle des Philosophen, so scheint es mir, hat man es jedoch mit etwas zu tun, das man als "reflexive Schreibweise" bezeichnen kann - auch wenn es sehr schwierig zu definieren ist, worin diese besteht. Es ist eine Schreibweise, die der Literatur sehr nahe steht, der ganz besonders am Gegenstand der Sprache selbst gelegen ist, am Idiom, am linguistischen Erbe, das bewußt oder unbewußt in den Worten, im Vokabular, in der Syntax und in den Konnotationen eingeschrieben ist. Es handelt sich um eine Schreibweise, die all diesen Dingen höchste Aufmerksamkeit entgegenbringt, ohne sich jedoch ihrer durch begriffliche Definitionen entledigen zu wollen, wie etwa nach Art der modernen Logik, deren ausgeprägtestes Bei-spiel man in der Schreibweise Freges sehen könnte. Bei Frege oder Carnap gibt es ein Ideal, das die theoretische Konsequenz einer bis zum äußersten getriebenen argumenta-tiven Anstrengung darstellt. Wir jedoch ar-beiten nicht mit Begriffen und Umschreibungen, um zu einer möglichst präzisen Bestimmung logischer Art - was denn nun dieser oder jener Begriff bedeute - zu gelangen. Ganz im Gegenteil: Wir bewahren die-sen in gewisser Weise fremdartigen Gegenstand der Sprache, einer Sprache, die sich in alle Richtungen bewegt, die etwas anderes sagt, als wir sagen, die viel älter ist als wir, die darum mehr weiß als wir und die wir nicht einfach benutzen können, denn sie ist kein Instrument. Mit unserem je eigenen Idiom sind wir darin schon eingetaucht. In dieser Hinsicht befinden wir uns in der gleichen Situation wie ein Schriftsteller.

Woran ist nun einem Schriftsteller gelegen? Wonach sucht die literarische Schreibweise?

Das ist gar nicht leicht zu sagen. Was aber die reflexive Schreibweise anbelangt, so ist alles, was ich dazu sagen kann, dies: Wenn wir in der reflexiven Schreibweise ein Objekt, ein "Objekt des Denkens", und sei es auch eine winzige Sache, auszuarbeiten versuchen - ich nenne es bewußt nicht ein Thema, sondern ein Objekt -, dann versu-chen wir es so auszuarbeiten, daß dabei die Bedingungen der Ausarbeitung in den Text selbst einfließen. In diesem Sinne kann man von reflexiv sprechen, denn der Vorgang ist ununterbrochen selbstreferentiell. Aber darüber werde ich jetzt nicht mehr viel sagen. Was ich da sage, ist sehr naiv.

Im Verhältnis zur Tradition ist jedoch offensichtlich bestimmend, daß wir soweit wie möglich ohne begriffliche Vorbestimmungen arbeiten. Wir beginnen nicht, indem wir sagen: "So, hier liegt also das Wesen der Sache!", oder: "Das ist ihre Substanz!", oder: "Bitte schön, da haben Sie die vollständige Beschreibung, die Definition!". Wir gehen im Gegenteil davon aus, daß diese vollständige Beschreibung zwar eine Art Horizont darstellt, auf den wir zugehen, daß wir aber erstens von diesem Objekt keinen festen Begriff und zweitens für den Zugang keine Methode im herkömmlichen Sinne des Wortes mehr haben. Das heißt eine Methode im Sinne des Cartesianismus, von Leibniz oder Hegel. Wir vertrauen und mißtrauen gleichzeitig den Worten und der Sprache selbst. Es ist offensichtlich, daß wir damit der sehr viel stärker auf die Sprache selbst ausgerichteten Arbeit des Schriftstellers sehr nahe stehen. Natürlich bewundere ich, wie jedermann, die traditionelle, die klassische Philosophie - dennoch ist diese aber im wesentlichen eine Philosophie, die sich des unkontrollierten Erbes zu entledigen sucht, das die Sprache beinhaltet. Das ist offensichtlich, es ist eine Art Grundprinzip. Bei Descartes ist das vollkommen klar. Da handelt es sich darum, eine Begriffssprache zu finden. Es findet sich aber auch bei Hegel. Wenn Hegel auch zu Beginn der Wissenschaft der Logik sagt, man könne nur auf Deutsch, in dieser Sprache der Ideen also, in der Sprache des Denkens selbst, dialektisch reden, dann sollte man deshalb nicht glauben, er gehe einem Idiom nach. Das Gegenteil ist der Fall. Denn letzten Endes bedeutet dies, daß es sich um ein Idiom handelt, welches das Denken selbst ausspricht.

Das Denken aussprechen. Darum geht es immer. Wenn Sie nun aber Schriftsteller wie Joyce ansehen - oder auch Flaubert, denn schließlich muß man nicht immer nur die kultiviertesten nehmen -, dann meinen diese gerade, man müsse der Sprache im Verhältnis zum Denken vor allem ihre Dichte, ihre Opazität bewahren. In dieser Lage befinden auch wir uns, wenn Sie so wollen, in keiner geringeren Sorge als der, sehen zu wollen, wie unser Vorgehen als Vorgang vor sich geht.

Richard Rorty hat auf Gemeinsamkeiten zwischen seinen und Ihren Ansichten hingewiesen. Wie Sie lehne auch er die Vorstellung ab, im Namen eines Dritten wie zum Beispiel eines transzendentalen Vernunftbegriffs oder einer idealen Kommunikationsgemeinschaft über Konflikte, etwa zwischen einzelnen Kulturen, entscheiden zu können. Da es zwischen verschiedenen Argumentationssystemen natürlich Konflikte, aber keine oberste Instanz zu deren Schlichtung gebe, müsse es, so Rorty, notwendigerweise Sieger und Verlierer geben. Den einzigen Unterschied zwischen Ihrem und seinem Denken leitete er aus den unterschiedlichen Traditionen Europas und der Vereinigten Staaten ab. So könne er selbst - zutiefst überzeugt, der "besten aller Provinzen" anzugehören - den Sieg einer Diskursart über die andere nicht wie Sie als Unrecht bezeichnen. Strukturell, so Rorty, würden Sie und er in dieser Hinsicht jedoch dasselbe meinen. Wie denken Sie darüber?

Erstens: Wenn Rorty, wie Sie es mir berichten, versichert: "Ich befinde mich im richtigen Land!" - er hat das einmal "das große Land" genannt - wenn er also sagt: "Ich stehe auf dem richtigen Flecken Erde, und deshalb lehne ich die Vorstellung strikt ab, ich sei dominant und dadurch ungerecht!", das heißt, wenn er also ein derart reines Gewissen zur Schau stellt, dann sollten Sie erst einmal vorsichtig sein! Schließlich hat Rorty auch eine gute Portion Humor. Er ist imstande, so etwas vorzubringen, um im Grunde genommen ganz einfach nur damit sagen zu wollen: "Es denkt doch jeder dasselbe! Wenn Lyotard von seinem Widerstreit redet, denkt doch auch er, daß er auf dem rechten Fleck steht. Er wird versuchen, mich zu überzeugen, und das ist ja schließlich ganz in Ordnung so." Die Schlußfolgerung daraus lautet dann, daß es für ein Urteil offensichtlich keine Grundlage geben kann, weil es kein Drittes gibt und kein universelles Tribunal, auf das man sich beziehen könnte und diejenigen, die glauben, es gebe ein solches universelles Tribunal, seien höchst gefährlich, denn sie würden sich früher oder später dem Terror oder gar dem Terrorismus zuwenden. Diese Schlußfolgerung, die ich "minimalistisch" nennen würde, lautet im Grunde genommen: "Nun sehen Sie mal; Sie denken eben, Sie hätten recht und ich denke eben, ich hätte recht - diskutieren wir weiter! Diskutieren wir!"

Diese Schlußfolgerung ist vollkommen mi-nimalistisch, insofern sie einen, wie ich sagen würde, "nackten Pragmatismus" darstellt. "Reden wir!" Wenn jeder dabei unumstößlich von der Wahrheit seines eigenen Denkens überzeugt ist, dann werden die Inhalte in gewisser Weise belanglos: "Kümmern wir uns nicht um Inhalte, sondern um die Pragmatik, um die kommunikative Handlung." Das ist ein erster Punkt. Vielleicht komme ich nochmals darauf zurück.

Nun zum zweiten Punkt, auf den ich hinweisen möchte. Auch wenn es - nach dem zu urteilen, was Sie mir erzählt haben - den Anschein hat, als habe Rorty einen Schritt in Richtung auf diejenigen Konflikte hin getan, die ich in Le Différend Widerstreite zwischen "Diskursarten" oder zwischen "Satzfamilien" genannt habe, so scheint es mir, als werde hier etwas zwischen Rortys und meiner bescheidenen Denkweise durcheinandergebracht. Rorty neigt dazu, Konflikte nicht als solche zwischen "Diskursarten", wie ich sie verstehe, zu denken, sondern zwischen kulturellen Traditionen oder historischen Inhalten, wie sie für einzelne Sprachgemeinschaften kennzeichnend sind. Wenn ich mit Leuten aus der Karibik oder von den Molukken-lnseln zu diskutie-ren habe, dann ist unser kultureller Background selbstverständlich ein anderer, und wir schreiben sicherlich selbst noch denjenigen Worten, mittels derer wir uns überhaupt in gewisser Weise austauschen können, un-terschiedliche Bedeutungen zu. Auch hier bleibt Rortys Schlußfolgerung diesselbe: "Na gut, machen wir weiter, man wird schon sehen... " - das ist übrigens auch meine, denn mit dem Multikulturalismus habe ich keine besonderen Schwierigkeiten. Aber darum geht es nicht. Da liegt nicht das Problem. Es geht nicht um ein Kontakt-problem zwischen Kulturen, die sich voneinander unabhängig ausgebildet und entwickelt haben. Das Problem liegt vielmehr innerhalb eines jeden Sprechers selbst. Es liegt in der Tatsache, daß er jeden Augenblick die Wahl zwischen dieser oder jener Form der Verkettung hat in bezug auf ein Ereignis, das sich zwischen Ihnen und mir befindet. Da geht es keinesfalls um "Multikulturalismus", sondern um eine Art "Multidimensionalismus", um das Vermögen, Sät-ze zu bilden, das dazu führt, daß man in dieser oder jener Richtung fortfahren kann und daß man Entscheidungen treffen muß, ohne dabei wirklich über allgemeingültige Kriterien zu verfügen. Da bin ich sehr nahe bei den "Sprachspielen". Und die Regeln, nach denen diese Spiele funktionieren, sind uns im allgemeinen nicht bekannt. Wittgenstein hat sehr gut beschrieben, daß man sie gar nicht zu kennen braucht.

Das ist nun genau der Punkt, an dem es nicht unbedingt eine Meinungsverschiedenheit, aber doch eine gewisse Unstimmigkeit gibt und meinerseits ein gewisses Mißtrauen gegenüber denjenigen amerikanischen Intellektuellen, die sich heute so vehement für Fragen des Multikulturalismus einsetzen. Sie gehen so weit, daraus ein wahres Schlachtroß zu zäumen. Das geht in gewisser Weise jenen ab, deren Schlachtroß einmal der Marxismus oder ähnliches war. Für mich stellt der Multikulturalismus ganz einfach kein Problem dar. Arbeiten wir daran, öffnen wir uns dafür, vergeuden wir aber nicht unsere Zeit damit, zu behaupten, dies sei eine politische Lösung, die es dem Monolithismus des Systems entgegenzuset-zen gelte! Ich denke, das wäre vollkommen falsch. Das System braucht gerade den Multikulturalismus. Das System ist geschmeidig, flexibel. Die Vorstellung von einem System als einem gewaltigen Monolithen, der alle Unterschiede vernichten würde, diese Vorstellung ist längst hinfällig, im Gegenteil: Es braucht gerade diese Unterschiede und genau darin besteht meiner Meinung nach auch die Philosophie Rortys. Hier, wenn Sie so wollen, gibt es dann doch eine ganz beträchtliche Meinungsverschiedenheit.

Wolfgang Welschs Interpretationen haben unter anderem durchaus dazu beigetragen, daß man in der deutschen Rezeption Ihres Werkes Parallelen zwischen heterogenen Diskursarten und kulturellen Lebensformen sieht. Wenn aber nicht nur Diskursarten, sondern auch Kulturformen inkommensurabel sein können, muß dann nicht jede Begegnung zwischen unterschiedlichen Kulturen konflikthaft sein? Wie könnte es dann überhaupt zur Verständigung kommen? Die poli-tische Aktualität allerdings zeigt doch, wie sich täglich neue Konflikte gerade daraus ergeben, daß sich unterschiedliche Gruppen auf ihre unteilbaren kulturellen oder ethnischen Eigenständigkeiten berufen.

Was zunächst einmal die Passage angeht, in der es um den Widerstreit zwischen Diskursarten und Kulturen geht - ich weiß nicht, ob ich so etwas tatsächlich gesagt habe. Jedenfalls kommt mir das etwas zu schnell vor. Das Wort "konflikthaft" ist mir zu vage. Handelt es sich dabei um einen Widerstreit oder handelt es sich um einen Rechtsstreit? Es ist doch klar, daß wir alle es vorziehen, wenn Konflikte zwischen kulturellen Minderheiten innerhalb einer Gesellschaft zum Gegenstand eines Rechtsstreits werden können, daß verhandelt wird und man zu Abkommen und letztlich zur Befriedung gelangt. Wenn das nicht so wäre, dann würde man einem Prinzip ge-mäß handeln, das darin bestünde, den anderen nicht als Gesprächsteilnehmer zu akzeptieren. "Mit dir spreche ich nicht!" Das Äquivalent geschieht auf jedem Schulhof: "Mit dir spiel' ich nicht!" Die Ächtung, die Verbannung ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Man entzieht jemandem das Recht zu sprechen in dem Augenblick, in dem er das Vermögen zu sprechen hat. Mei-ne Meinung hierzu ist recht einfach und gar nicht weit entfernt von derjenigen, die Habermas oder Rorty aus ganz anderen Moti-ven haben mögen und zu der sie mit ganz anderen Begründungen gelangen.

Wenn man fragt: "Ist ein Konflikt zu vermeiden?", dann denke ich, daß er dies in gewisser Weise sein muß, es aber nicht sofort sein kann. Versteht man den Begriff des Fremden im eigentlichen Sinne, versteht man darunter nicht nur die Nichtzugehörigkeit zu einer Nationalität, sondern, wie etwa bei den Immigranten, eine unterschiedliche Kultur selbst innerhalb gleicher Nationalitäten, dann ist die Beziehung zum Fremden notwendigerweise und unmittelbar ambivalent. Ich würde sogar sagen, die Spannungen sind um so stärker, je näher der Fremde steht. Das Fremde kann schon das nächste Dorf sein, und gerade die Kriege zwischen den nahegelegensten Dörfern sind im allgemeinen die grausamsten.

Notwendigerweise ambivalent ist die Beziehung zum Fremden, da er einerseits als menschliches Wesen über Sprache verfügt und zur Diskussion, zur "Interlokution" im weitesten Sinne des Wortes fähig ist und sein Recht darauf anerkannt werden muß. Andererseits spricht er jedoch seine eigene Sprache. Dabei geht es nicht um Überset-zungsfragen einer Fremdsprache, die man vielleicht nicht beherrscht, denn selbst wenn er in derselben Sprache spricht, spricht er auf eine Art und Weise, für die ich nicht etwa deshalb kein Verständnis aufbrächte, weil ich ihm jede Anerkennung verweigern wollte, sondern weil ich Schwierigkeiten habe, sie einzuordnen, und mir der Sinn dessen entgeht, was er mir sagt. Fremder ist jemand in dem Maße, wie ich keinen Zugang zur Logik seiner Sprache finde und es mir scheint, als käme er von anderswo her, als habe er ein anderes Erbe, als sage in seinem Munde selbst meine eigene Sprache etwas anderes, als gäbe es hier einen Anlaß zum Mißtrauen.

Die Vorstellung, man empfinge den Fremden mit offenen Armen, ist eine sehr fromme Vorstellung - auf der Ebene der Beschreibung ist sie eine etwas zu fromme Vorstellung. In Begriffen der Gerechtigkeit ist sie freilich nicht nur wünschenswert, sondern in der Tat auch einzufordern. Dagegen ist es auf der Ebene der Beschreibung einfach nicht wahr, daß es sich so verhält. Vielmehr gibt es hier etwas, das man in Freudschen Begriffen den "Zerstörungstrieb" nennen würde, wenn Sie so wollen, im Ver-hältnis zu dem, was meine Umwelt stört, ihre Stabilität beeinträchtigt, zu dem, was mich bedroht. Es ist geradezu unvermeidlich, daß der andere mich im Hinblick auf die Form meiner Sitten beeinträchtigen wird und damit auch aggressive Reaktionen hervorruft.

Die Frage besteht wirklich darin, wie das überwunden werden kann. Die Bestimmung der Alterität liegt eben darin, auf den ersten Blick unentscheidbar zu sein, hinsichtlich ihrer Bedeutung im weitesten Sinne oder auch eines Gegenstandes von Lust oder Schmerz im besonderen, auch im ethischen Sinne. Ist solche Alterität annehmbar? Ich würde sagen, sie ist unumgänglich. Sie können sie einfach nicht vermeiden. Diese Art von Ambivalenz im Verhältnis zum Anderen wird immer bestehen. Dazu braucht man sich erst gar nicht Situationen, wie etwa nationale Konflikte vorzustellen. Dieselbe Ambivalenz finden Sie im Verhältnis zwischen zwei Liebenden. Wenn man in einen Menschen verliebt ist, dann bedeutet das noch keine Gewähr des Willkommens. Es gibt immer das Verlangen zu empfangen, zusammenzuleben und zugleich den Haß demgegenüber. Im Umgang von Kindern untereinander ist es genau dasselbe: Eine Gleichzeitigkeit von Großzügigkeit und Grausamkeit.

Wenn man mir nun sagt: "Könnte man nicht versuchen, eine friedliche, multikulturelle Gesellschaft zu schaffen?", dann sage ich: "Aber selbstverständlich! Klar doch!" Ich denke, daran arbeiten wir doch alle, jeder auf seine Weise. Es ist aber nicht wahr, daß man auf der Ebene der Beschreibung dieser erwähnten Ambivalenz entgehen könnte. Sie bliebe selbst dann bestehen, wenn die Bedingungen für einen gut auszuhandelnden Rechtsfall gegeben wären.

 

Übersetzung von Peter Keicher.

Der hier veröffentlichte Text wurde von der Redaktion aus einem längeren Gespräch mit Lyotard zusammengestellt. Ungekürzte Fassung: "L'ange qui nage. Ein Engel der schwimmt. Jean-François Lyotard im tacho-Gespräch mit Thomas Bedorf und Peter Keicher", in: Tacho-Nr. 5, S. 3-81, ISBN 3-928516-7 DM 15.--, erhältlich über Net e.V., Kennwort "tacho", Postfach 4603 D-76030 Karlsruhe